BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Psychometrie»
von Albertine Devilder
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Die Psychometrie ist ganz zweifellos einer der Höhepunkte der modernen Psychologie! Moderne PsychologInnen wollen endlich auch frei von Aberglauben, frei von Mythen, frei von Vorurteilen, frei von Moden, frei von Traditionen und frei von Gefühlen, also ganz männlich, «messen»! Und, ganz ehrlich, spiegelt sich das Moderne – «als das Rationale» – in seinen radikalen Forderungen nach theoretischer Gewißheit, nach mathematischer Exaktheit, nach logischer Strenge und nach moralischer Reinheit nicht am perfektesten wieder in … genau, in Zahlen? So ist es! Zahlen!

Zahlen verwenden also! Endlich! Aber wie? Durch Psychometrie! Was ist Psychometrie? Psychometrie ist «Messen» von «psychischen Eigenschaften» mit Hilfe von Tests. Ahnt Ihr, lieber Leser, liebe Leserin, worauf das hinausläuft? Endlich darf auch die Psychologie – als Naturwissenschaft – atomistisch, fragmentaristisch und reduktionistisch arbeiten. Und Obacht: Es ist dabei völlig unwichtig, wie die Eigenschaften definiert werden und was sie bedeuten, wichtig ist, daß sie gemessen werden! Die Aufgabe des psychometrischen Forschers ist es also, zu jedem Wort, das ihm so einfällt (Extraversion, Rigidität, Leistungsmotivation, neurotische Tendenz, Intoleranz der Ambiguität, Dissimulationstendenz, Arbeitszufriedenheit, moralische Urteilsreife etc. etc. etc.) ein Meßinstrument zu entwickeln! Und, Ihr glaubt es nicht, es gibt zu jedem Wort, daß irgendeinem Psychometriker jemals eingefallen ist, tatsächlich auch ein Meßinstrument. So gibt es weit über 600 deutschsprachige Tests. Und wieviele gibt es in den USA? Genau!

Aber weiter: Wenn es so viele Tests gibt, kann deren Entwicklung intellektuell nicht schwierig sein. Das kann dann ja wohl jeder! Richtig! Aber: Auch wenn das also ganz einfach ist, wie lassen sich denn nun Eigenschaften messen? Wie klingt der Dialog, der die Messungen sozial produziert? Hören wir mal zu, klinken wir uns ein in ein kleines Zwiegespräch zwischen zwei Studierenden, einem wißbegierigen Studenten der Psychologie im 1. Semester und einem reifen, wissenden, älteren Semester.

Der Jüngere: «Wie lassen sich die Eigenschaften, Bedürfnisse, Motive, Fähigkeiten und Dispositionen denn nun feststellen?»
Der Ältere: «Indem wir sie messen!»
«Was ist messen?»
«Die Zuordnung von Zahlen zu Objekten nach bestimmten Regeln.»
«Wie, was!? So einfach ist das? Aber dann kann ich ja jedes beliebige Zahlenaufkleben als Messung bezeichnen?»
«Im Prinzip ja, ich erfinde zu einem beliebigen Eigenschaftsbegriff beliebige Fragen, von denen im Moment der Erfindung feststeht, daß sie von nun an diesen Begriff messen werden (damit das keiner merkt, nennen wir das zur Verwirrung Operationalisierung). Als nächstes sage ich einfach, daß die Beantwortung dieser von mir erdachten Fragen mit ‹Ja› oder ‹Nein› ein Verhaltens-Indikator für die dahinter liegende Eigenschaft ist. Weißt Du, es ist so: Die Versuchspersonen meinen, sie würden beim Ankreuzen der Fragen selbst den Griffel führen, dabei ist es in Wirklichkeit die in ihnen verborgene latente Eigenschaft!»
«Und davon merken die Versuchspersonen nichts?»
«Nein, sonst bräuchten wir doch die Psychologie überhaupt nicht. Die Wissenschaft Psychologie klärt die Menschen mit Hilfe von wissenschaftlichen Methoden über die ihnen nicht bekannten, ihnen unbewußten, ihnen nicht zugänglichen Eigenschaften auf!»
«Oh, so ist das! Ja aber können die Untersuchungsobjekte mit ein bißchen Nachdenken nicht ganz leicht herauskriegen, auf welche latenten Eigenschaften die Fragen hinweisen sollen, und können sie ihre Kreuzchen nicht danach ausrichten?»
«Dummerchen, deswegen sind wir doch Wissenschaftler, damit wir Fragen stellen können, von denen die Versuchspersonen eben nicht wissen, was sie bedeuten sollen! Ich lese Dir mal ein paar Beispiele vor aus einer älteren Fassung des Freiburger Persönlichkeits-Inventars Form A! Als Antwortmöglichkeit gibt es jeweils ein Ja oder Nein! Frage 8: Ab und zu lache ich über einen unanständigen Witz.

Frage 9: Auch wenn ich mit anderen Leuten zusammen bin, fühle ich mich oft einsam.

Frage 12: Ich nehme nur ungern an einer großen Gesellschaft, an einem Ball oder an einer öffentlichen Veranstaltung teil.

Frage 15: Ich bin unternehmungslustiger als die meisten meiner Bekannten.

Frage 16: Wird einer aus meinem Freundeskreis angepöbelt, so besorgen wir gemeinsam die Strafe.

Frage 19: Ich habe selbst bei warmer Witterung häufiger kalte Hände und Füße.

Frage 23: Wenn ich in Zorn gerate, reagiere ich mich gern in körperlicher Betätigung – wie Holzhacken – ab.

Frage 24: Als Kind habe ich manchmal ganz gerne andere gequält, z.B. Arme umgedreht, an Haaren gezogen usw.

Frage 25: Ab und zu verliere ich die Geduld und werde wütend.

Nun, wie findest Du die Fragen? Merkt hier irgendeiner, um was es geht?»
«Na, ja, die Fragen sind ja nicht so doll! Und wo die hinzielen, na, da muß man schon ziemlich blöd sein, wenn man das nicht merkt. Aber, da fällt mir ein, was ist, wenn die Versuchspersonen lügen, wenn sie sich verstellen?»
«Dummerchen, dafür haben wir doch die Lügenfragen!»
«War da eben eine Lügenfrage dabei?»
«Ja, Frage 8: ‹Ab und zu lache ich über einen unanständigen Witz!› Wer hier nein sagt, der lügt!»
«Ach! So? Hm! Na ja! Und jetzt haben wir also wirklich etwas gemessen?»
«Im Prinzip ja, es müssen nur noch zusätzlich drei Voraussetzungen erfüllt sein!»
«Ist das schwer, diese Voraussetzungen zu erfüllen?»
«I wo, das ist kinderleicht. Das geht nämlich so: Die erste wichtige Voraussetzung ist Distanz. Messen kann ich nur, wenn ich auf Distanz zu meinem Meßobjekt gehe. Beispiel: Wenn ich die Länge eines Tisches messe, mache ich doch auch keine langen Faxen, Zollstock drauf, messen, fertig! So auch in der Psychologie. Ich darf mich auf keinen Fall auf eine Person einlassen, es darf keine Verbrüderung mit ihr, keine Nähe zu ihr geben, ja ich darf eigentlich nichts von ihr wissen, ich muß sie mir als Wissenschaftler unter allen Umständen vom Leibe halten, sie könnte mir ja erzählen, was sie will; dabei soll sie mir doch erzählen, was ich will. Deswegen stelle ich die Fragen, klar?»
«Das ist soweit klar!»
«Die zweite Voraussetzung für eine erfolgreiche Messung in der Psychologie ist die Standardisierung der Messung.»
«Standardisierung? Wie geht das?»
«Nun, die Situation der Datenerhebung, die Meßanordnung und die Instruktion müssen für alle Untersuchungsobjekte gleich sein. Dadurch hat keiner irgendwelche Vorteile, ob alt oder jung, ob Mann oder Frau, ob reich oder arm, ob Deutscher oder Wirtschaftsflüchtling, hier werden alle gleich behandelt, nämlich objektiv! Das ist Demokratie!»
«Aber das ist ja phantastisch! Wir arbeiten objektiv und demokratisch! Hm, aber fassen denn die Leute, je nach Herkunft oder Biographie oder Sozialisation, ein und dieselbe Frage nicht ganz und gar unterschiedlich auf? Verstehen denn wirklich alle eine bestimmte Frage auf die gleiche Art und Weise?»
«Ist doch gut, wenn sie es nicht tun, das schafft Varianz!»
«Varianz? Hm, ach so! Raffiniert! Wow! Aber nochmal zurück zur Messung! Warum habe ich jetzt gemessen, wo ist jetzt die Messung?»
«Ganz einfach, die Zahlen, die meine Messung darstellen, ergeben sich, indem ich die Leistung einer einzelnen Person, also die Anzahl der Indexantworten auf einer der von mir erfundenen Dimensionen, vergleiche mit der durchschnittlichen Leistung einer Gruppe von anderen Personen, die ich als Normgruppe, als Eichstichprobe definiert habe.»
«Ja und das geht?»
«Das geht! Aber es fehlt noch der dritte und letzte Aspekt, der mir die Zulässigkeit einer Messung garantiert: Die Wiederholbarkeit einer Messung! Habe ich eine objektive standardisierte Methode, läßt sie sich beliebig oft wiederholen. Und das ist ein ganz wichtiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit!»
«Na ja, die Länge einer Tischkante kann ich ja wohl 50 mal messen, ohne daß der Tisch sich darüber aufregt. Aber finden unsere Untersuchungsobjekte das nicht komisch, wenn ich sie immer wieder frage, ob sie als Kind anderen die Arme umgedreht haben oder ob sie häufiger kalte Hände und kalte Füße haben?»
«Du mußt noch viel lernen! Das Ganze ist doch so eingerichtet, daß es nur drei Möglichkeiten gibt: Antworten unsere Versuchspersonen bei der Meßwiederholung ähnlich wie bei früheren Messungen, ist das ein Beweis für die Reliabilität, für die Zuverlässigkeit unserer Messung! Antworten sie unterschiedlich, ist das ein Beweis dafür, daß die von uns untersuchte Eigenschaft noch nicht auskristallisiert, noch keine Eigenschaft, kein trait ist, sondern daß sie noch plastisch, also ein Zustand, ein state ist. Und jetzt ganz im Vertrauen: Ist die Messung total unzuverlässig, können wir immer noch ganz geheimnisvoll vom ‹Prozeßcharakter› einer Eigenschaft raunen!»
«Und wer glaubt uns das?»
«Na ja, fast alle, nur diese sozialen KonstruktivistInnen da, oder so ähnlich, die machen Ärger. Die behaupten einfach, es gäbe in Wirklichkeit gar keine Eigenschaften, sondern wir hätten sie in die Menschen hineinerfunden. Na ja, und dann sagen sie noch, messen könnte man die Eigenschaften sowieso nicht. Unverschämt!»
«Aufregend!»



Erstellt: 1. September 2000 – letzte Überarbeitung: 1. September 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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