BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ja oder Nein?»
von Artus P. Feldmann
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«Ich habe dazu jetzt nur eine einzige Frage:
Halten Sie das,
was Sie in Ihrem Vortrag gesagt haben,
für wahr?
Ja oder Nein?»

Ich war schon am Abend vorher in der kleinen Provinzstadt angekommen, hatte gut gegessen, einen Spaziergang durch die Altstadt gemacht, gut geschlafen. Kurz, ich war guter Dinge. Am Morgen fuhr ich mit dem Bus zu der etwas außerhalb und auf einem kleinen Hügel liegenden nagelneuen Universität, fand diejenigen, die mich eingeladen hatten, ließ mich zum Hörsaal führen und wurde überrascht: Der Saal war so rappelvoll, daß ringsherum noch viele Leute an den Wänden standen. Alles in allem waren das mehr als 200. Ich war beeindruckt.

Ich schaute mir das Publikum an und sah viele junge Studenten und Studentinnen. An den Wänden und vor den vier Ausgängen standen meist ältere Leute, vermutlich Wissenschaftler, Kollegen. Eines fiel mir besonders auf. Alle Zuhörer und Zuhörerinnen sahen – na ja, ordentlich aus, anständig gekleidet, ja wohlerzogen. Das war ich von meiner Fakultät her nicht gewohnt, in der es bunter zuging. Da fiel mir ein, daß ich am Abend vorher im Bahnhof eine Lokalzeitung mit dem Namen «Volksfreund» entdeckt hatte. Hm. Diese Psychologie war mir aber dann doch zu dumm.

Ich blickte weiter umher und entdeckte direkt vor mir in der ersten Reihe fünf Studenten und Studentinnen aus meiner Fakultät. Sie hatten den sehr weiten Weg in die Provinz auf sich genommen, um mal zu sehen, wie ich mich in fremder Umgebung präsentieren würde. Ich war gerührt und plauderte ein bißchen mit ihnen.

In der fünften oder sechsten Reihe links unterhielt sich eine Gruppe von jungen Studenten in weißen Hemden. Und direkt vor mir – hinter dem Pult – saß in der zweiten oder dritten Reihe eine wunderschöne rothaarige Studentin mit gletschergrünen oder gletscherblauen Augen und schaute mich unverwandt an. Ich freute mich auf den Vortrag.

Der Titel war: «Wie wirklich ist die Wirklichkeit?» Also sprach ich zwei Stunden lang über «Naiven Realismus» und «Sozialen Konstruktivismus», über Popper, Watzlawick, Wittgenstein, Mauthner, Feyerabend, Maturana und von Foerster. Als Höhepunkt des Vortrags skizzierte ich einen «Radikal-Skeptischen-Nominalismus» und machte ungestüm, unbedingt und jugendlich deutlich, daß dieser die einzig angemessene Erkenntnistheorie sei.

Das Publikum war mit dem von mir Gesagten nicht besonders einverstanden. Die Unruhe setzte gleich zu Beginn ein, als ich den in den deutschen Wissenschaften überall verbreiteten «Naiven Realismus» mit Zitaten aus dem Buch «Materialismus und Empiriokritizismus» von Wladimir Iljitsch Lenin erläuterte und damit klar machte, daß Kapitalismus und Materialismus auf der gleichen unzureichenden Erkenntnistheorie fußten. Und je weiter ich in meinem Vortrag kam, desto größer wurde die Unruhe. Die Studenten in den weißen Hemden links vor mir zum Beispiel lachten immer öfter, stießen sich an, zeigten auf mich, machten Handbewegungen aller Art und hatten ihren Spaß. Auch die anderen Zuhörer und Zuhörerinnen reagierten zunehmend aufgebracht, blieben aber erstaunlicherweise dennoch wohlerzogen und höflich. Allein die rothaarige Studentin schaute mich weiterhin unverwandt, aufmerksam, ernst und schweigend an. Ich konnte nicht erkennen, ob ihr Gesicht Zustimmung oder Ablehnung ausdrückte. Ich wünschte mir sehnlichst das erstere.

Dann war mein Vortrag zu Ende. Gab es Fragen? Klar. Die erste Frage kam von einem jungen Weißhemd vorne links:

«Sie haben in Ihrem Vortrag ja nun allerlei Behauptungen über die Wahrheit und Wirklichkeit aufgestellt. Ich habe dazu jetzt nur eine einzige Frage: Halten Sie das, was Sie in Ihrem Vortrag gesagt haben, für wahr? Ja oder Nein?»

Ich mußte lächeln und sah die fünf Studenten und Studentinnen in der ersten Reihe an, die mich hierhin begleitet hatten. Sie grinsten zurück. Sie kannten diese Art von Fragen aus vielen meiner Seminare. Diese Fragen entstehen halt ganz zwangsläufig in Gehirnen, die unverhofft mit Akkomodationsanstrengungen beansprucht und gefordert werden.

Ich überlegte mir, daß ich gründlich antworten und zunächst einmal deutlich machen sollte, daß diese Frage eine ‹Killerfrage› sei, da sie mir genau zwei Antwortausgänge eröffne, über denen beidemal jeweils ein Hackebeilchen hänge. Denn würde ich «Ja!» sagen, hätte ich die vielen erkenntnistheoretischen Probleme, die ich ja gerade eben in meinem Vortrag aufgeworfen hatte, übergangen und mich selbst zu einem Wahrheitsgenerator aufgeschwungen. Das wäre nun wahrhaft lächerlich gewesen. Und wenn ich mit «Nein!» antworten würde, hätte ich mich erst recht lächerlich gemacht. Denn wer hält schon einen Vortrag, in dem er das, was er da sagt, nicht für wahr, sondern für falsch hält? Ich lächelte noch immer und dachte: ‹Killerfragen› sind zwar ganz geschickt und schlau, und selbstverständlich auch bei Weißhemden in der Provinz anzutreffen, aber sie ermüden doch sehr.

Als zweites überlegte ich mir, ob ich in meiner Antwort nicht auch den Rekurs auf die zweiwertige Logik tadeln und darauf verweisen sollte, daß das Leben, die Wissenschaften und der ganze Rest nicht in einem Ja/Nein, Schwarz/Weiß oder Wahr/Falsch Jargon zu bewältigen seien.

Als nächstes fiel mir ein, ganz pädagogisch und weich zu reagieren und zu erläutern, warum es aus konstruktivistischer Sicht keine «instruktive Interaktion» geben könne. Und so wäre dann die kognitive Empörung des fragenden Weißhemds nur ‹natürlich› und völlig middle-of-the-road.

Während meiner Überlegungen, wie ich denn in dieser unruhigen Umgebung auf diese Frage am besten antworten könnte, waren noch keine zwei Sekunden vergangen, als ich unwillkürlich – und gleichsam um Rat suchend – die rothaarige Studentin ansah. Und ich fuhr zusammen. Ja, ich erschrak. Denn sie hatte zum ersten Mal während des ganzen Vortrages zwei winzige senkrechte Falten auf der Stirn. Und ihr Mund war angespannt, fast verzerrt. Und in ihren Augen entdeckte ich ganz unvermittelt eine tiefe Sorge, ich könnte die Wahrheit, also mein Denken, mich und vor allem auch sie – ‹verraten›. Ich war zutiefst ergriffen und berührt.

«Ich habe dazu jetzt nur eine einzige Frage: Halten Sie das, was Sie in Ihrem Vortrag gesagt haben, für wahr? Ja oder Nein?»

Ich wandte mich sofort zu dem Weißhemd in der Weißhemdgruppe und sagte: «Nein!»

Tumult. Damit war alles aus. Es gab keine weiteren Fragen mehr. Aber in den gletschergrünen oder gletscherblauen Augen der wunderschönen rothaarigen Studentin sah ich eine – Erleichterung. Die kleinen Stirnfalten waren verschwunden. Ihr Gesicht war wieder glatt und aufmerksam. Nein, ich glaube heute sogar ganz fest daran, daß sie gelächelt hat.



Erstellt: 2. Dezember 2002 – letzte Überarbeitung: 2. Dezember 2002
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