BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Erleben im Zitieren»
von Lisa Blausonne
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Ouvertüre

Die spanischen Berge, die sie auf ihrem Weg durchqueren, wirken endlos wie das Himalaja-Gebirge in Tibet; sie fahren mit dem Auto bei lauter Musik durch das leuchtende Land wie in einem Road-Movie und besuchen das Sommerhaus von García Lorca in Granada. Sie haben kein Ziel und viel Zeit. Der Himmel am Abend erscheint wie ein gewaltiges Bild von Turner; sie laufen darunter die staubige Straße Hand in Hand wie Jules & Jim und besuchen einsame Bars, die diese Mischung von Trostlosigkeit und Trivialität von Hopper ausstrahlen. Sie imitieren lachend ihre Lieblingswestern von Sergio Leone in der Steinwüste Südandalusiens, trinken jede Nacht wie Hemingway und plaudern über Stierkampf; sie erholen sich in Römerbädern und wandeln durch die Nebelschwaden wie bei 8½. Ihr Hotel in der einen Stadt sieht aus wie das gelbe Haus von van Gogh in Arles und ihr Zimmer im Hotel einer anderen Stadt bewohnte bereits Madonna. Sie liegen im Sand und spielen Zitate-Raten großer Literaten und träumen vom eigenen Mies-van-der-Rohe-Haus. Sie fällt beim Ski wie Lehmbrucks Gestürzter und weint vor Gaudi in Barcelona. Sie bereisen Cadaqués auf den Spuren der Surrealisten und bedauern im Café den alten Mann mit seinem Dalí-Bart, der ganz leer ins Meer starrt.


Ja und?

Sie, die Protagonisten der Ouvertüre, sind durchaus hervorragende Tischnachbarn und können köstliche Geschichten aneinanderreihen. Sie erzählen – sich – ihr Leben, ihr Erleben entlang eines schier unerschöpflichen Repertoires anregender Zitate. Sie finden ihr Erleben im Zitieren. Zitieren soll hier nicht im engen Sinne eines «wörtlichen Wiedergebens» und auch nicht im sprachästhetischen Sinne als «Sagbares nachsprechen» verstanden werden. Zitieren meint hier das Heranziehen von Vergleichen aus berühmten, prominenten Quellen. Diese Form von Erleben kann als Phänomen unserer Zeit beschrieben werden, in der vielfältige soziale Gruppierungen, Räume und Szenen etabliert werden. Und denen sich Gesellschaftsteilnehmer zugehörig fühlen – wollen. Und glauben, sich entsprechend auszeichnen zu müssen, um willkommen zu sein. Was hat es mit dem Phänomen auf sich?


Marken

Das Zitieren, das Heranziehen von Vergleichen also, stabilisiert. Das Zitieren verschafft die Gewißheit, daß die eigene Lebensgestaltung gut und angemessen ist, weil sie ja bereits mit Hilfe sozial konstruierter und legitimierter «Stellgrößen» des Gesellschaftssegments, dem man anzugehören glaubt, lebbar gemacht wurde. Zitate können dieselbe Rolle wie Markenklamotten spielen, die in bestimmten sozialen Systemen von allen akzeptiert werden und die damit die Bedeutung eines Zugehörigkeits- oder eines Personalausweises erhalten. Eine ständig an Wichtigkeit zunehmende «Stellgröße» scheint derzeit auch die Summe und die Auswahl bereits bereister Länder zu sein. Wobei die erlebten Eindrücke in diesen Ländern wieder als Zitate daherkommen.

Zitierende Vergleiche erscheinen also gleichsam als Markierung, als Label, als Etikett, das erlaubt, sich einem spezifischen gesellschaftlichen Raum zugehörig zu fühlen und – nebenbei – andere Menschen außen vor zu lassen. Andere, die einem anderen sozialen «Genre» angehören, also andere «Marken» tragen und präsentieren.


Antworten

Das Erleben im Zitieren enthebt den Anwender von der Notwendigkeit, das Erlebte selbst zu durchdringen. Man fragt sich nicht, ob man einen Ort schön findet, schließlich war XY ja schon vor einem selbst hier gewesen – die Antwort wird gleich mitgeliefert. Das Ringen um eine der eigenen Person angemessene sprachliche Beschreibung – und damit Verarbeitung – des Erlebten bleibt aus, da die Referenz auf einen bekannten Namen, z.B. «das kommt Hopper-mäßig», scheinbar ausreicht, eine gewichtige Erlebniswelt nicht nur zu beschreiben, sondern herbeizuzaubern – sofern die Zuordnung des Zitates zum Kontext des gerade Erlebten für dieses spezifische soziale Segment korrekt und positiv belegt ist. Die Suche nach privaten Möglichkeiten der Versprachlichung und des Begreifens jenseits einer von außen oktroyierten Erlebniswelt erscheint den «Markenerlebern» oft zu trivial. Alltag soll Abenteuer sein.


Rausch

Das Heranziehen von Vergleichen öffnet den Blick für unauffällige Aspekte der Umgebung. Die Umwelt wird wachsam abgetastet und entfaltet sich vielversprechend. Die Wahrnehmung wird differenzierter weil sie dauerhaft auf «Suchen» programmiert ist. Gesucht werden Objekte, die Assoziationen zu anerkannten und erfreulichen Zitaten hervorrufen könnten. Gesucht werden Analogien. Eine einfache Fahrt mit der Bahn kann zum Rausch werden, wenn entsprechend schillernde Übereinstimmungen gefunden und zitiert, kopiert werden.


Nebenwirkungen

Sind unerwünschten Nebenwirkungen möglich? Es sieht so aus. Denn leider läßt sich folgendes beobachten:
  • Zwischen den zitierenden Vergleichen, den Analogien also, bleiben Leerstellen. Denn Analogien kennen keine Beziehungen außerhalb der Analogie. Sie sind meist nur der Anfang eines schöpferischen Prozesses, eines Gedankens. Denken in Analogien kann zu geistigem Schluckauf, zu einer sich wiederholenden, unzusammenhängenden Aufzählung von Vergleichen werden, wenn es sich nicht emanzipiert und einen Gedanken hervorbringt.
  • Aus Scheu vor Trivialität, vor ablenkungsfreien Zonen wird Kontemplation eher vermieden. Dies kann zur konsumähnlichen Dauer-Erlebnis-Spurensuche führen, zu eklektischen Beschriftung bereits existierender Folien. Eine vorerlebte Welt wird nacherlebt. Eigene Erlebniswelten werden zu Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind. [1] In Anlehnung an Nietzsche, in «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn».
  • Grenzenlose Aneinanderreihung von Zitaten kann auch Ängste etablieren: Die Angst, Zitate und Geschichten zu vergessen, die man über sich selbst erzählt, um seine Identität herzustellen, und – vielleicht noch gravierender – die Angst, die Erinnerung an die angesagten und abzuliefernden Zitate zu verlieren. Denn die Erinnerung an Namen, Bilder, Musiker, Gelehrte, Orte etc. erfordert ein brillantes Gedächtnis, das stets zu pflegen ist. Der Markenerleber darf sich da nicht verheddern, denn sein aktuelles Erleben kommt schließlich erst zur Ruhe, sobald es zum Zitat gekommen ist.


  • Finis

    Zitierende Vergleiche können die Zugehörigkeit zu sozialen Systemen deklarieren und sogar das Wahrnehmungsspektrum vergrößern. Sie können aber auch den Gedankenstrom verkleben. Genügt es, so viele unzusammenhängende Zitate aus berühmten Quellen zu strapazieren, ohne einen Gedanken hervorzubringen, und damit erkenntnisreich wie beim Tragen von angesagten H&M-Klamotten zu sein?



    Kommentare:

    11. Februar 2003
    Hallo Lisa,
    im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort, das ungefähr so geht: If the only tool you have is a hammer, every thing you see is a nail. Vermutlich meint Oswald Wiener etwas ähnliches mit seiner Ansicht, dass der Lebensraum sprachbegabter Populationen mit dem Stil ihrer Zitate einhergeht. Ist damit etwas zu Deinem Text gesagt?
    Vielleicht. Am wichtigsten ist vermutlich das Reservoir an Zitaten, das uns zur Beschreibung zur Verfügung steht. Je größer der Reichtum an Worten, desto vielfältiger das Erleben. So erzähle ich es mir zumindest, da es mir nur selten gelingt, an ein Erleben jenseits der Worte zu glauben. Übrigens interessieren mich dabei auch gerade die Leerstellen zwischen Zitat und Kontext, denn eigene Gedanken entspringen bei mir gerne solchen Bruchstellen zwischen Figur und Hintergrund. Insofern kann das Zitieren auch etwas Persönlichkeit hervorbringen, wenn es denn mit einer gewissen Reflexion der eigenen Erzählungen einhergeht. Wobei sich natürlich gerade auf dieser übergeordneten Ebene dieselbe alte Frage mit noch mehr Wucht aufdrängt: Wer spricht?
    Herzlich, Betty

    _______


    8. Februar 2004
    Gut gedacht - Lisa.
    Bleibt die Frage, ob nicht das ganze Leben von vornherein der Versuch ist, Zitate zu leben und Analogien zu suchen. Der Mensch als stets unvollendetes Mosaik von ihm selbst (bewusst oder unterbewusst) angestrebter Zitate. Und was wird draus: Kein mit Sorgfalt durchstrukturierter Quilt, eher ein wuseliges Patchwork zu dem viele Vieles beitragen in dem sie suchend selbst zitieren. Das ist das Schöne!
    Bewusstein ist gut -
    Leben ist besser!
    Gruß
    S. K.

    _______


    8. Februar 2004
    Liebe oder lieber S.K.,
    Vielen Dank für die Worte! Das unvollendete Mosaik ist ein schönes und treffendes Bild. Es ist wohl wahr, dass wir nur erleben, was bereits erlebt wurde und nur sagen, was sagbar gemacht wurde. In dem Sinne ist jedes Handeln wohl nur Zitat des Möglichen. Wir entfalten eine neue Qualität, wenn wir bemerken, dass Illusion Illusion illusioniert... Bewusstsein ohne Leben ist blutleer, schon, aber ein Leben ohne Bewusstsein ist unmenschlich und sinnlos und leider nie konsequenzenlos.
    Beste Grüße
    Lisa.



    Erstellt: 5. Februar 2003 – letzte Überarbeitung: 9. Februar 2004
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