BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Taxi-Kultur»
von Artus P. Feldmann
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Einführung

Vermutlich kennen Sie, lieber Leser und liebe Leserin, einen oder mehrere Filme, in denen ein Taxifahrer - oder auch eine Taxifahrerin - nicht nur eine winzige Nebenrolle spielt. Ich kann mich zum Beispiel sehr gut an den dritten Film erinnern, den Humphrey Bogart und Lauren Bacall gemeinsam ‹gedreht› haben: In diesem hat ein aufmerksamer, kluger, gewitzter und einfühlsamer Taxifahrer einen wesentlichen Einfluß auf das weitere Geschehen. Lassen Sie mich kurz über den Film berichten.


‹Dark Passage›

In Delmer Daves Thriller ‹Dark Passage› von 1947 - wie immer ist der Deutsche Titel ‹Die Schwarze Natter› eine intellektuelle Zumutung - sitzt Humphrey Bogart (als Vincent Parry) im Gefängnis für einen Mord, den er nicht begangen hat. Er kann in einer Mülltonne versteckt auf einem Lastwagen fliehen und wird von Lauren Bacall (als Irene Jansen) aufgegabelt und zunächst einmal in Sicherheit gebracht. Am Abend des Fluchttages besteigt er ein Taxi, doch der von Tom D'Andrea grandios gespielte Taxifahrer, angeregt und wachsam geworden durch die Berichte über die Flucht in Zeitung und Radio und durch die Äußerung Bogarts, er solle erst einmal losfahren, später werde er ihm dann sagen, wohin die Fahrt gehe, ahnt, daß er in seinem Taxi einen eher ungewöhnlichen Fahrgast beherbergt. Und in einem äußerst klugen, spannenden und langwierigen Dialog zwischen Taxifahrer und Bogart entdeckt der Taxifahrer schließlich, um wen es sich bei seinem Gast handelt. Er bietet daraufhin dem verfemten, gesuchten und gejagten Bogart, von dessen Unschuld er überzeugt ist, ganz uneigennützig seine Hilfe an und bringt diesen zu einem eher zweifelhaft erscheinenden ‹plastischen Chirurgen›, der jedoch Bogarts Gesicht mit Hilfe einer - gelingenden - Operation verändern wird. [1] Nur nebenbei, und nur für ‹Aficionados›: Das Besondere an diesem Film ist, daß er zum Teil mit einer ‹first person camera› (heute nennt man das ‹subjektive Kamera› oder auch ‹Hand-Kamera›) gedreht wurde und Bogarts Gesicht erst dann zum ersten Mal in Gänze zu sehen ist, als ihm von Lauren Bacall nach der kosmetischen Operation der Verband abgenommen wird. Da sind aber dann schon 59 Minuten und 49 Sekunden des Films vergangen. Das war offensichtlich zu lange für diejenigen Kinogeherinnen, die sich an Bogarts Physiognomie erfreuen wollten, denn der Film war zu seiner Zeit ein Flop.


Gute Zeiten

‹Dark Passage› zeigt, wie viele andere Filme vorher und nachher, exemplarisch und paradigmatisch, was wir uns unter einer ‹Taxi-Kultur› vorstellen können: Da ist ein Taxifahrer, oder eine Taxifahrerin, die sich im Laufe einer Fahrt als kenntnisreiches und interessiertes Wesen entpuppt, welches nicht auf den Mund gefallen ist.

Ich möchte diesen Eindruck verstärken durch Geschichten aus den 70er und 80er Jahren. Wenn ich damals des Abends von einem Vortrag oder einer anderen Aushäusigkeit zurück nach Bochum kam und am Bahnhof in ein Taxi stieg, dann empfing mich oft eine freundliche Begrüßung etwa der Art: «Guten Abend Herr Feldmann, ehrlich, ihre Vorlesung am Freitag war mal wieder sehr nett.» Und schon war ich in ein anregendes Gespräch verwickelt über Hegel, Attributionstheorien oder Maturanas ‹radikalen Konstruktivismus›. Die Taxifahrer in diesen Zeiten waren Studierende der Juristerei, der Philosophie, der Psychologie oder der Soziologie. Auch waren zwei Diplomanden von mir häufig des Nachts oder am Wochenende als Taxifahrer unterwegs, um sich ihr Studium zu verdienen. Ich kann mich auch gut an einen Musiker erinnern, der regelmäßig in bestimmten Nächten arbeitete und mit dem ich mich des öfteren über die Prinzipien und Logiken der so genannten ‹Neuen Deutschen Welle› unterhielt. Natürlich gab es damals auch ‹ganz normale› deutsche Taxifahrer, also echte, sture, westfälische Panneköppe. Aber selbst diese hatten - neben ihren exzellenten Ortskenntnissen - ihren eigenen Ruhrgebiets-Charme und auch mit ihnen ergab sich fast immer ein anregendes Gespräch, zur Not zum Thema ‹Fußball›.

Aber es geht in diesem Traktätchen ja nicht nur um Bochum oder das Ruhrgebiet. Schön war es zum Beispiel - und zum Glück ist das heute noch so!! - in Kiel am Bahnhof anzukommen und den Taxifahrer auf der Fahrt zu Albertine Devilder, die in einer der alten Kapitänsvillen oberhalb des Düsternbrooks wohnt, zu fragen, was es denn in Kiel so Neues gäbe. Und der berichtete dann etwa über den neuen Anleger der Color-Line, über die neue Fußgängerbrücke, die nicht richtig funktioniere, über die HDW-Werft, die wieder einmal in Schwierigkeiten stecke und über so manches andere. In wenigen Minuten, zu Albertine ist es nicht so weit, wußte ich, was es an kleinen oder großen Änderungen in dieser sehr schönen Stadt gab und was seit meinem letzten Besuch in Kiel geschehen war.

Kurz, in den guten Zeiten freute ich mich jedes Mal auf eine Taxifahrt, denn die Taxi-Fahrer hatten nicht nur überragende Ortskenntnisse - sie wußten zum Beispiel genau, wo und wann gerade eine empfindliche Baustelle war, die sie großräumig zu umfahren hatten - und sprachen nicht nur ganz selbstverständlich die Sprache des Landes, in dem sie mit ihrem Taxi herumfuhren, nein, viele von ihnen waren auch klug, witzig, mitteilsam, wach, ja, manchmal sogar weise. Und heute?


Schlechte Zeiten

Drei Beispiele aus den letzten beiden Wochen:
  • Am Essener Hauptbahnhof steige ich in ein Taxi und sage «Kortumstraße 54!» Der ältere Taxifahrer - ein Südosteuropäer - sagt nichts und fährt los. Nach einer ganzen Weile habe ich den Eindruck, daß wir nicht in Richtung Rüttenscheid fahren. Ich äußere meinen Verdacht, er hält an, kramt einen zerfetzten Stadtplan aus dem Handschuhfach und fordert mich auf, ihm auf der Karte zu zeigen, wo die Kortumstraße liege. Gesagt, getan, und nach der komplizierten Überwindung einiger Einbahnstraßen erreichen wir tatsächlich mein Ziel.
  • Am Dortmunder Hauptbahnhof steige ich in ein Taxi und sage «Hausmannstraße 5». Der sehr junge Taxifahrer, dessen Nationalität ich nicht erraten kann, biegt direkt vor dem Bahnhof in die falsche Richtung ab. Ich wiederhole, daß ich zur «Hausmannstraße» wolle. Er sagt nichts und fährt weiter, in westlicher Richtung. Schließlich gelingt es mir, ihn zum Anhalten und Umkehren zu bewegen. Anschließend lotse ich den Taxifahrer - trotz meiner mangelhaften Ortskenntnisse - erfolgreich zur ‹Hohen Straße› und schließlich zu meinem Ziel.
  • Einigermaßen zerrüttet durch meine aktuellen Erfahrungen mit Taxifahrten im Ruhrgebiet in den letzten Jahren steige ich in der vorigen Woche des Abends am Dortmunder Hauptbahnhof nicht gleich in ein Taxi ein, sondern frage zuvor den Fahrer, ob er wisse, wo die Lübkestraße sei. Der Fahrer, ein mittelalter Südosteuropäer, sieht ratlos aus. Ich gehe zum zweiten Taxi in der endlosen Taxi-Schlange und stelle dieselbe Frage. Dieser Taxifahrer, ein sehr alter, verwitterter Südosteuropäer, wiederholt den Namen mehrere Male und zeigt sich dann ebenfalls ratlos. In dem Moment, in dem ich zum dritten Taxi gehe, springt der Taxifahrer aus dem ersten Taxi und geht zum Fahrer des zweiten Taxis. Dort beraten die beiden in einer mir unbekannten Sprache. Der dritte Taxifahrer, dessen Nationalität ich nicht erraten kann, antwortet auf meine Frage, ob er den Weg nach der Lübkestraße kenne, mit einem kurzen «B1». Da ich zum Glück weiß, daß man die Lübkestraße auch über die B1 erreichen kann, steige ich ein. Nach einem größeren Umweg, erreiche ich mein Ziel.

  • Was sehen wir? Was macht die ‹Schlechten Zeiten› der Taxi-Kultur aus? Nun, wir stehen ratlosen und hilflosen Hilfskräften gegenüber, die mit äußerst rudimentären Kenntnissen der Sprache des Landes, in dem sie arbeiten, und erstaunlich geringen Kenntnisse der Örtlichkeiten, zu denen sie ihre ‹Kunden› transportieren sollen, ausgestattet sind. Diese hilflosen Hilfskräfte sollen also diejenigen wenigen befördern, die sich im Zeitalter des Geizes überhaupt noch eines Taxis bedienen.


    Vom Globalen im Lokalen

    Helmut Hansen hat in seiner kulturphysiognomischen Skizze «Vom Globalen im Lokalen» eine postmoderne und final-kapitalistische ‹Bäckerei› beschrieben, in der tiefgekühlte Teigwaren zweifelhafter Herkunft von Hilfskräften in Backautomaten aufgewärmt, von den ‹Kunden› selbst aus Regalen geholt und an der Kasse weiteren Hilfskräften präsentiert werden. Bäckermeister, Bäckergeselle, ja selbst ‹Bäckereifachverkäuferinnen› können hier eingespart werden. Das ist der Fortschritt, denn das Globale im Lokalen verlangt nach Hilfskräften - und der Stundenlohn dieser Hilfskräfte dürfte unter 4 € liegen. Die ‹Kunden› dieses Etablissements interessieren sich ganz ausschließlich für den Preis der Backwaren. Woher die Backwaren kommen, welche Zutaten in den Backwaren sind, ob die Hilfskräfte mit ihren Hilfstätigkeiten soviel verdienen, daß sie davon leben können, dies alles ist den Kunden dieser ‹Bäckerei› völlig egal, da sie sich dazu entschlossen haben, nicht blöde zu sein.

    Diese Hinweise auf die oben genannte kulturphysiognomische Studie von Helmut Hansen erscheinen mir notwendig zu sein, um das Thema der ‹Globalisierung› nun im Hinblick auf das zu deklinieren, was uns in diesem Traktätchen interessiert. Globalisierung im Taxi-Gewerbe bedeutet, daß in den meisten Städten des Ruhrgebietes Angehörige ethnischer Minderheiten in Deutschland die Taxi-Geschäfte - also die Taxi-Lizenzen - übernommen haben und nun andere Angehörige ethnischer Minderheiten beschäftigen.

    Die Globalisierung, das heißt, die bedingungslose und beabsichtigte Zerstörung einstmals sozial verbindlicher Arbeitsnormen und die damit einhergehende gezielte Entrechtung der wenigen verbliebenen ‹Arbeitskräfte› ist im Taxi-Gewerbe nun besonders gut zu beobachten. Da es je nach Stadt verbindliche Normen bezüglich der Fahrpreise pro Kilometer und Zeit gibt, läßt sich in diesem Bereich Geld nur verdienen, in dem man uralte Taxis benutzt und die Taxi-Fahrer ausbeutet. Im Ruhrgebiet ist das endemisch. Und so werden hilflose Hilfskräfte, die vermutlich jederzeit ausgetauscht werden können, auf zweifelhaften Wegen mit der Berechtigung zur Führung eines Taxis ausgestattet und auf die ‹Kunden› losgelassen.

    Diese rundum hilflosen Hilfskräfte sind erschreckende Zeiger der Globalisierung, sind ausgebeutete, geknechtete Arbeitsmaschinen, deren Tätigkeit hauptsächlich darin besteht, Stunde um Stunde an irgendwelchen ‹Haltepunkten› warten zu müssen, um dann hin und wieder eine kurze Fahrt machen zu dürfen. Und wenn wir die Vorteile der Globalisierung für uns alle richtig verstehen, dann kommen diese hilflosen Hilfskräfte auf einen Stundenlohn von vielleicht zwei oder drei Euro. Schön für den, dem das Taxi gehört.


    Abschied

    Liebe Leser und Leserinnen, es gibt - vor allem in Hamburg, Kiel und anderen großen Städten Norddeutschlands - noch Oasen der ‹Taxi-Kultur›, wo wir bei einem Taxifahrer oder einer Taxifahrerin die Gewitztheit und den Kenntnisreichtum finden, welche einmal die Zierde dieses Berufes waren. In vielen Städten des Ruhrgebietes aber sollten wir uns in Zukunft darauf einrichten, selbst den Weg finden zu müssen, falls wir uns einem Taxi anvertrauen. Wir müssen uns also vorher selbst detailliert darüber orientieren, welches Ziel in welcher Stadt wie zu erreichen ist. Von den heutigen ‹Taxifahrern› im Ruhrgebiet ist keine Hilfe mehr zu erwarten. Sie verdienen als Opfer der Globalisierung unser ganzes Mitleid. Doch die einstmals lebendige Kultur des ‹Taxi-Fahrens› ist hier untergegangen. Sehr schade ist das.



    Erstellt: 4. März 2005 - letzte Überarbeitung: 4. März 2005
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