BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Vom Globalen im Lokalen - Eine kulturphysiognomische Skizze»
von Helmut Hansen
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«Die Herrschaft des Marktes ist freilich mehr als ein wirtschaftlicher Vorgang. In der jetzigen, hochkapitalistischen Phase hat sie sich als eine Totalität entwickelt, die sämtliche Lebensverhältnisse merkantilisiert, die Seele des Menschen in eine Rechenmaschine verwandelt, die sozialen Beziehungen untergräbt und keinen anderen Wert kennt als Raff- und Konsumgier.»
(Heleno Saña) [1] Heleno Saña (1997): Die Zivilisation frißt ihre Kinder. Die Abendländische Weltherrschaft und ihre Folgen. Hamburg: Rasch & Röhring. Seite 73.

Einführung

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern über den finalen Kapitalismus und die Auswirkungen der Globalisierung. Viele kluge Leute schreiben darüber, daß ‹die Reichen› – ganz un-verschämt – immer reicher und ‹die Armen› – ganz leise – immer ärmer würden, daß Unmengen von vagabundierendem Kapital darauf warteten, sich irgendwo auf der Welt auf irgendeine Art und Weise zu vermehren, daß Rumänninen für 1,50 € in der Stunde Bekleidung nähten, die dann in Deutschland oder sonstwo – allerdings nicht in Rumänien, weil sie dort keiner kaufen könnte – verkauft würde, daß irgendwo in Mexiko für noch einen geringeren Stundenlohn Outdoor-Geldbörsen ‹assembliert› würden, daß es immer größere, gefräßigere, weltumspannendere Konzerne gäbe, daß Menschen sich Marken und Logos unterwürfen, ja daß unsere Kultur – als ‹Gesellschaft des Spektakels› – vor dem Kollaps stünde. [2] Stellvertretend für viele andere möchte ich, neben dem oben zitierten Buch von Heleno Saña, nur noch folgende Bücher erwähnen: Oskar Negt (2001): Arbeit und menschliche Würde. Göttingen: Steidl. - Robert Kurz (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 82. Frankfurt am Main: Eichborn. - Viviane Forrester (1997): Der Terror der Ökonomie. Wien: Paul Zsolnay. - Morris Berman (2002): Kultur vor dem Kollaps? Wegbereiter Amerika. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg.

Das mag alles richtig sein. Ich möchte in diesem kleinen Traktat jedoch versuchen, die Auswirkungen der ‹Globalisierung› anders auszudrücken, da ich glaube, daß die Folgen des finalen Kapitalismus bereits viel näher an uns herangerückt sind, als wir uns das vorstellen können. Ja, ich denke, diese durchdringen längst unseren Alltag. Und eben nicht nur den beruflichen, sondern auch den privaten.

Was bedeutet ‹Globalisierung› für mich? Nun, ich sehe die Hauptkonnotation dieses Begriffs da, wo sie auch Heleno Saña lokalisieren würde: In der alles durchdringenden Monetarisierung. Was heißt das? Alles, was Menschen tun und alles, was mit Menschen zu tun hat, wird umgerechnet in Euro und Cent. Alles! Und das hat Auswirkungen, die wir längst nicht mehr im Griff haben, und die wir kaum mehr abschätzen können.

Da ich als Ethnologe, Ethnograph und Kulturphysiognom unermüdlich unterwegs bin, um diese Welt zu verstehen, werde ich im folgenden über ein winziges Symptom des finalen Kapitalismus, über einen kleinen spezifischen Ausdruck des Globalen im Lokalen berichten. Und zwar handelt es sich um ein neues – in der besten Lage der Fußgängerzone einer Stadt im Ruhrgebiet plaziertes – Ladenlokal, welches mich jedesmal, wenn ich an ihm vorbeikomme, maßlos deprimiert. Warum zieht mich das Globallokal so runter? Der Reihe nach:


Das Konzept

Im finalen, postmodernen Kapitalismus geht es um nichts mehr, außer darum, Geld zu verdienen. Es soll insbesondere nichts Anderes, nichts darüber Hinausgehendes, nichts Nachhaltiges, nichts Höheres geschaffen werden. Am einfachsten ist es, sich selbst gar nicht mehr um irgendetwas bemühen zu müssen, sondern eine ‹Geschäftsidee› auszubrüten, und mit dieser dann zu reüssieren, indem man andere für sich arbeiten läßt. Wie das geht? Ist nicht schwer. Hören wir mal zu, wie die zwei Jungs, die jetzt den oben erwähnten neuen Laden aufgemacht haben, sich vor einiger Zeit unterhalten haben könnten:

«Wie wäre es, wenn wir einen neuen Laden aufmachen?» «Na, schön, und was sollen wir verkaufen?» «Backwaren!» «Bist Du verrückt? Heute gibt es doch an jeder Ecke eine Bäckerei!?» «Ja, schon, aber keine Selbstbedienungsbäckerei!» «Ach so, Du meinst, die Leute grabschen sich ihre Teilchen selbst aus den Regalen? Nicht schlecht. Immerhin sparen wir dabei die Verkäuferinnen ein. Da könnten wir alles etwas billiger verkaufen.» «Genau!» «Aber trotzdem! Meinst Du vielleicht, ich hätte Lust, morgens um 5 Uhr aufzustehen und Brötchen zu backen?» «Du hast immer noch überhaupt nichts verstanden. Denn wir machen gar nichts, wir verdienen nur Geld. Das einzige, was wir brauchen, ist ein Telefon.» «Und wie soll das gehen?» «Paß mal auf! Brote kaufen wir fertig bei der billigsten Großbäckerei. Und den ganzen Back-Schnickschnack wie Brezeln und Teilchen und Rosinenbrötchen, also alles, worauf die Leute so stehen und was sie dann selbst aus den Auslagen nehmen, kaufen wir ebenfalls in einer Großbäckerei, aber ungebacken, also als Teig, fertig von Robotern auf Blechen portioniert und positioniert. Das Zeug lassen wir morgens vorbei bringen und dann im Laden in kleinen Backautomaten aufbacken, und zwar von Schwervermittelbaren, die wir uns ausleihen, und für die wir naturgemäß noch Zuschüsse kassieren. Und natürlich brauchen wir keinen Bäcker in unserem Laden, der wäre auch viel zu teuer und für den gäbe es dann auch wieder weitere lästige Vorschriften.» «Genial.» «Genau.»

Schauen wir uns an, was aus diesen Plänen geworden ist. Wir betreten das Globallokal, bewegen uns nach rechts – ein wenig in den Laden hinein – und stellen uns in eine Warteschlange, wie in einer Cafeteria. Nach einiger Zeit erreichen wir den hinteren Teil des Ladens, über dessen ganze Breite sich eine Auslage erstreckt, die vollgestopft ist mit Backwaren aller Art. Wir ergreifen auf der rechten Seite dieser Auslage ein Tablett und gehen dann in der Schlange nach links weiter, uns dabei einige gebackene Teile aussuchend, die wir auf das Tablett legen. Dann ordnen wir uns in eine der Schlangen ein, die zu einer der beiden Kassen führen. Diese stehen – etwas unvermittelt – mitten im Raum. Nach dem Bezahlen gehen wir zu einem von zwei – neben der Eingangstür plazierten – Resopaltischen. Dort liegen Berge von äußerst billig aussehenden Papier- und Plastiktüten, in welche wir unseren Kauf – unter den Augen der vielen, vielen anderen Kunden – selbst verpacken dürfen. Bevor wir das Globallokal verlassen, sehen wir uns noch einmal um. Von den Leuten, die hinter der Auslage arbeiten, ist kaum etwas zu sehen, da die Tabletts in der Auslage schräg angeordnet sind. Was wir sehen, ist, daß sich inmitten eines wirren Menschengetümmels zwei Kassiererinnen bemühen, den Durchblick zu behalten. Der Boden ist übersät mit heruntergefallenen oder fortgewehten Papier- und Plastiktüten, die Luft ist – wegen der Backöfen am hinteren Ende des Ladens – zum Schneiden. Das Globallokal.


Die Werktätigen

Hinter der Auslage mit den diversen Backwaren arbeiten vier bis fünf Hilfskräfte, dazu kommen die oben bereits erwähnten zwei Kassiererinnen. Alle tragen gelbe Leibchen und gelbe Mützen: Corporate Identity eben. Die Hilfskräfte bewegen sich den ganzen Tag lang auf einer Fläche von etwa 1,50 × 5,50 Metern. Selbstverständlich gibt es in diesem schmalen Schlauch keine Sitzgelegenheiten und keine Rückzugsmöglichkeiten, von einer Intimsphäre ganz zu schweigen. Die Aufgaben der Hilfskräfte sind nun folgende: Sie entnehmen einem hohen Wagen, der mit einem Fahrstuhl direkt in ihr schmales Reich gefahren wird, Paletten mit fertigen Broten und stellen diese in die Auslage, die sie vom Raum mit den Kunden trennt. Die Paletten mit den noch ungebackenen Teigwaren schieben sie in kleine Backöfen, die wie Mikrowellen aussehen, und die sich an der Rückwand des Globallokals befinden. Danach gucken sie auf eine Tabelle, stellen eine Backzeit ein, entnehmen nach deren Ablauf die Palette mit den nun heißen Backwaren und stellen sie in die Auslagen. Das ist alles. Gut, ab und zu schieben sie mit der Hand die verschiedenen Backwaren in den Auslagen zurecht, damit die Kunden besser an diese herankommen können. Das war's dann aber auch. Es ist klar, daß man für diese Aufgabe keinen Bäcker braucht. Das kann jeder, wie wir gleich sehen werden.

Die zwei Kassiererinnen sitzen auf hohen Schemeln an ihren Kassen inmitten des Raumes, selbstverständlich auch ohne jede Intimsphäre. Es gibt keinerlei Ab-Teilungen, keine Umrandung der Kasse, keine barmherzige Klappe, die man schließen könnte, um die Illusion eines auch nur winzigen Eigenraumes zu erzeugen. Die Aufgabe der Kassiererinnen ist es nun, 8–10 Stunden am Tag auf die Tabletts mit den durcheinander gewürfelten und aufeinander geschichteten Backwaren zu gucken, die einzelnen Preise zu eruieren und diese jeweils in die Kasse einzutippen, das Geld der Kunden entgegenzunehmen und das fällige Wechselgeld zurückzugeben. Und dann das Ganze noch einmal und schon wieder. Denn die – ungeordneten – Schlangen vor den Kassen sind lang. Es gibt kaum mal eine Pause. Das ist ein Geschäft! Und wer arbeitet in diesem schönen neuen Globallokal? Lieber Leser, liebe Leserin, ich will es mal ganz einfach ausdrücken: Man sieht es auf den ersten Blick, daß diejenigen, die in diesem Laden arbeiten müssen, ein für alle mal zu den ‹working poor› gehören, zu denen also, die zwar 8–10 Stunden am Tag arbeiten, ohne dadurch jedoch ein Auskommen zu finden.

Nun, Backwaren in Rumänien herstellen zu lassen und dann einzufliegen, das scheint derzeit nicht so kostengünstig zu sein. Also läßt der global denkende Unternehmer eben ethnische Minderheiten und Angehörige anderer Randgruppen in seinem Laden arbeiten. Denn er kann sich sicher sein, daß diese Klientel nicht nur einen geringfügigen Lohn akzeptiert (akzeptieren muß), sondern erfreulicherweise auch niemals auf den Gedanken käme, sich als Gruppe – mit ähnlichen Interessen – zu organisieren oder gar – ganz unbotmäßig – Fühler zu Gewerkschaften auszustrecken. Klar ist, und alle wissen es, sollte das irgend jemand wirklich tun, würde er natürlich sofort ‹freigesetzt›.

Aber nun kommt der Clou. Aufgrund mehreren Beobachtungen konnte ich feststellen, daß in diesem neuen Globallokal – neben den bereits erwähnten ethnischen Minderheiten – ‹ehemalige› Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose arbeiten.

Denn das Personal des Globallokals wird gestellt von einer Personalvermietungsfirma, die gelegentlich mit einem Dienstwagen mit Firmenanschrift vorfährt, um die Arbeitenden zu kontrollieren. Selbstverständlich wird der Wagen – trotz Verbot – direkt in der Fußgängerzone vor der Tür des Ladens geparkt. Meine Recherchen haben ergeben, daß sich diese Personalvermietungsfirma das Personal vom Sozialamt und Arbeitsamt zuführen läßt und dafür selbstverständlich Lohn-Zuschüsse zur ‹Wiedereingliederung› von ‹Schwervermittelbaren› bekommt. Das scheint ein sehr wichtiger Grundgedanke im finalen Kapitalismus zu sein: Wenn man schon jemand dabei hilft, 8–10 Stunden am Tag für einen Hungerlohn zu arbeiten, muß man selbst, als Vermittler, noch einen erheblichen eigenen Mehrwert abschöpfen. Klar. Macht sonst keinen Spaß. Und wenn die ‹Wiedereingegliederten› auf den 1,50 × 5,50 Metern, zwischen Backöfen und Auslagen, irgendwelche Zicken machen sollten, dann fliegen sie raus und kriegen für ein paar Wochen eben keine Sozial- oder Arbeitslosenhilfe mehr. Klar. Druck muß sein. Spaß muß sein.


Die Kunden

Wie sehen die Kunden aus, lieber Leser und liebe Leserin? Nun, das ist für Sie vermutlich keine Überraschung mehr: Wie die Werktätigen in diesem Globallokal! Als ich zum allerersten Mal in diesen Laden hineinsah, dachte ich sofort: Opfer – also Globalisierungsopfer – unter sich! Was sehen wir: Die ärmsten der Armen, ALDI Kunden eben, auch alte Rentner-Paare, sehr viele Angehörige ethnischer Minderheiten in Deutschland, ganz selten mal eine weibliche, mit Gold behangene Mittelschicht-Geldkatze, die aufgeregt und mit roten Wangen die körperliche Nähe der vielen anderen Kunden ‹außerhalb ihres Niveaus› erträgt, nur um einen Spar-Flash zu erleben.

Erstaunlich: Die Kunden sehen nur auf den Preis der verschiedenen Backwaren, nicht auf die Qualität. Dabei ist der Preisunterschied zu anderen Bäckereien in der direkten Umgebung und selbst zu einer Bio-Bäckerei eher marginal bis gering. Ein Brötchen im Globallokal kostet 12 Cent. Ein Bio-Brötchen kostet 18 Cent. Das ist die maximale Preisspanne. Vermutlich sagen sich die Kunden im Globallokal: Es sieht aus wie gebacken, also ist es gebacken. Und was in den Backwaren drin ist, interessiert überhaupt niemanden. Nur der Preis ist heiß. Adornos oft beschworener Satz gilt auch hier, wenn auch in einem etwas anderen Sinne: «Quantitäten sind gleichgültig gewordene Qualitäten.» So ist es. Hauptsache billig! Qualität? Wozu?! Und um diese etwas geringeren Preise für die selbst ausgesuchten Backwaren zweifelhafter Herkunft bezahlen zu dürfen, nehmen die Globalisierungsopfer klaglos weitere Opfer in Kauf:

  • Die Häßlichkeit des Ladens
    Vermutlich weist diese – ganz wie bei ALDI – die Kunden in vertrauter und erwarteter Weise darauf hin, daß hier mit jedem Cent gerechnet wird und daß es in diesem Globallokal – ausschließlich im Interesse des Kunden – ausschließlich um's Sparen geht! Es wird ganz klar: Wer diesen Laden freiwillig und im Vollbesitz seiner geistigen und ästhetischen Ausstattung betritt, hat die Reifeprüfung in Globalisierung bestanden. Er meint damit zu zeigen, daß er nicht blöd ist, ja, daß er denken kann. Aber wir wissen es besser!
  • Die Überfüllung des Ladens
    Diese ist – in den Augen der sparwilligen Kunden – ja nur ein Hinweisreiz auf die Vernünftigkeit des eigenen Vorgehens. Denn zum einen, so meint der Kunde, also das Opfer, können so viele Leute sich ja gar nicht irren (vgl. dazu allerdings «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale»), und zum anderen muß man eben sehen, daß man auch noch was ab- und mitkriegt, bevor es weg ist. Tja, wir wissen es besser.Die nicht vorhandenen Deklarationen
    Es gibt keinerlei Hinweise auf die Zutaten oder die Zusammensetzung der Backwaren. Wozu auch? Nur ein billiges Brötchen ist ein gutes Brötchen! Tja, dies wissen wir allerdings besser.
  • Das nicht vorhandene Fachpersonal
    Selbstverständlich kann man auch niemanden fragen, welche Rezepturen sich in den Backwaren entdecken lassen oder welches Mehl, welche Körner sich in den verschiedenen Produkten befinden. Zur Not kann man mit den Kassiererinnen sprechen. Aber die wissen leider gar nichts über das, wofür sie Geld kassieren. Wozu auch?

  • Und dann frage ich mich voller Bitterkeit: Warum perhorreszieren die Kunden diesen Laden nicht? Warum weisen sie ihn nicht mit Abscheu zurück? Warum lehnen sie ihn nicht ganz entschieden ab? Warum sehen sie nicht, daß in diesem unästhetischen Ambiente – wieder einmal – wichtige kulturelle Werte den Bach runtergehen? Weil sie eine ‹Zeitung› Namens ‹BILD› in ihrer Einkaufstasche haben? Könnte sein.

    Noch eine Bemerkung zum Thema ‹Opfer unter sich›: Ich habe sogar gesehen, daß viele Kunden sich Extra-Papiertüten einstecken, um noch etwas Mehrwert abzuschöpfen. Was wollen sie bloß mit diesen vermutlich irgendwo im Ostblock produzierten und bedruckten und vielleicht vor Umweltgiften strotzenden Papiertüten? Nun, die Opfer wissen es vermutlich selbst nicht. Aber wenn sie schon einmal, so denke ich mir, ein in ihren Augen überaus vorteilhaftes Schnäppchen gemacht haben und Backwaren aller Art billigst erstanden haben, wollen sie vielleicht gerne in diese wohlige und von Vernunft, Rechtschaffenheit, Cleverneß und Stolz umwobene Aktivierung hinein eine weitere – nun allerdings herrlich ruchlose – Tönung schieben und sich schlicht an dem einzigen bereichern, an dem sie sich da noch bereichern können, den Papiertüten. Und sie sagen sich vielleicht: «Ja, wenn der Laden doch so dumm ist, und die Tüten einfach herumliegen läßt? Nu also.»

    Die Kunden zeigen, daß sie das Konzept des Globallokals verstanden haben. Sie wissen um was es geht. Aber sie wissen nicht, was sie tun. Denn mit ihrem Kauf ermöglichen sie erst die Würdelosigkeit dieses Globallokals und die Ausbeutung der ‹Wiedereingegliederten› und der ethnischen Minderheiten. Opfer unter sich: Wie wahr. Aber nicht nur. Denn die Opfer produzieren mit ihrem Kauf stetig weitere Opfer. Ja, sie wissen nicht einmal, daß sie durch das Aufsuchen des Globallokals ihren eigenen Arbeitsplatz auf's Spiel setzen, so sie denn noch einen haben. Aber wir wissen es. Die Kunden des Globallokals arbeiten mit jedem Besuch fleißig und rechtschaffen an der Unwirtlichkeit dieser Welt. Punkt.


    Der Ausweg

    Ich gehe schlicht 50 Meter weiter und versuche, beim Kauf eines Ökosien – eines ganz wunderbar wohlschmeckenden Biobrotes aus Vollkornmehl mit einer Olivenöl-Kruste – eine bestimmte kleine, zarte, blonde Verkäuferin mit ganz durchsichtigen, hell-bläulichen Schläfen zum Lächeln zu bringen. Was mir erfreulicherweise immer öfter gelingt. Ach, Jeanette!


    Postskriptum

    Sorgfältige empirische Beobachtungen nach dem ‹time sampling›-Verfahren haben ergeben, daß Kundenzahl und Umsatz in den dem Globallokal nahe liegenden Bäckereien – den ‹Mitbewerbern am Markt› – stark gesunken sind. Nur in der oben erwähnten Bio-Bäckerei hat sich nichts geändert. Da bleibt alles besser. Ist doch noch Hoffnung?



    Kommentare:


    1. März 2002

    Lieber Helmut,
    Deine «kulturphysiognomische Skizze» wirft die Frage auf, warum viele Menschen ausschließlich auf den Preis einer Ware und nicht auf deren Qualität achten. Dazu möchte ich als Psychotherapeutin folgende mögliche Erklärung anbieten: Wie die BOAG in ihrem Arbeitspapier Nr. 11 gezeigt hat, leben wir derzeit in einer Kulturepoche, in der romantische, moderne und postmoderne Einflüsse gleichzeitig auf die Menschen wirken. Gut, die Romantik können wir mittlerweile fast völlig vergessen. Da ist nur noch ein Restsehnen. Alles andere wird mit Sex verwechselt. Aber die beiden letzteren Kultursysteme spielen eine wichtige Rolle beim Kaufen, sie unterfüttern das Kaufen mit interessanten sozial definierten Selbstverständlichkeiten.
    Die Moderne stellt noch die knallharte Forderung, daß jede ‹Kaufentscheidung› absolut vernünftig sein soll: «Moderne KäuferInnen müssen unter allen Umständen […] das beste Produkt zum besten Preis im besten Laden kaufen.» [3] Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung. Arbeitspapier Nr. 11, 1. Fassung: Dezember 1993. PDF-Version: März 2000, Seite 12. Wenn wir uns dazu noch vorstellen, daß es für ‹moderne› Menschen ganz zweifellos immer nur eine richtige oder vernünftige Lösung geben kann (das zweiwertige Denken habt ihr ja in eurem Arbeitspapier Nr. 4 zur Logik eingefangen), dann wird uns schnell klar, daß «Zwänge» zur klassischen psychischen «Störung» in der Moderne geworden sind. Die Kunden, die in dem von Dir beschriebenen Laden einkaufen, handeln also äußerst kulturkonform, sozialverträglich und folgerichtig, wenn sie auf das weithin sichtbare billigste Angebot setzen. Das müssen sie! Zwingend! Eine Forderung der Moderne ist damit billigst erfüllt. Aber was ist mit der Qualität?
    Nun, da Besonderheiten der Postmoderne immer tiefer und weiter in unseren psychischen Haushalt eingreifen, kommt noch etwas dazu. Ich meine in diesem Zusammenhang, daß Menschen in der Postmoderne zu einer «Aufmerksamkeitsstörung» genötigt werden. Ein ‹postmoderner› Mensch – auch wenn er noch viele soziale Prägungen aus der ‹Moderne› zeigt und nachspielt – springt hyperaktiv zwischen An- und Aufregungen hin und her, er kann sich nicht richtig konzentrieren und ist deshalb eigentlich sehr dankbar, daß er Wahlhandlungen auf etwas so leicht Wahrnehmbares wie einen Preis reduzieren kann. Ein Preis ist konkret, der ist metrisch. Gott sei Dank. Und die Qualität vergessen wir jetzt einfach mal. Welche Entlastung! Und die Anwesenheit der vielen anderen Kunden unterfüttert die eigene Kaufhandlung und behebt letzte Zweifel. So viele können ja gar nicht irren. Doch es geht noch weiter:
    Postmoderne Menschen werden in der ‹Gesellschaft des Spektakels› auch zu einer Selbstaufmerksamkeitsstörung genötigt. Diese äußert sich zu allererst darin, daß sich postmoderne Menschen permanent von sich selbst ablenken. Der beliebteste und sozial anerkannteste Ablenker und Selbstreferenzunterbrecher ist natürlich das TV. Nur nebenbei: Viele jüngere Jünger der Postmoderne versuchen auch mit Hilfe von Drogen aller Art von sich selbst wegzukommen, obwohl sie von sich behaupten, sie seien gerade unter dem Einfluß von Drogen ganz bei sich. Welch ein Irrtum!
    Wenn wir nun diese Argumentationslinien zusammenführen, um die Frage zu beantworten, warum viele Menschen ausschließlich auf den Preis einer Ware und nicht auf deren Qualität achten, dann könnte deutlich werden, wie hier Bruchstücke sozialer Vorschriften aus zwei Kulturepochen zusammen wirken: Die Moderne liefert den Anspruch, auf den Preis zu achten und gleichzeitig aber auch auf die Qualität. Die Postmoderne liefert die dem Kapital äußerst erwünschte Aufmerksamkeits- und Selbstaufmerksamkeitsstörung, die eine Beurteilung der Qualität erschwert oder verhindert. Und was folgt daraus?
    Nun, in dem Fall des von Dir beschriebenen Ladens ist das ziemlich einfach. Die Menschen können verschiedene Qualitäten von Backwaren gar nicht unterscheiden, denn sie schmecken nichts mehr. Wir können auch sagen, daß sie sich sehr unsicher sind, wenn sie etwas schmecken sollen, denn sie können sich nicht darauf konzentrieren: Abschied vom Schmecken? Ja. Eine Entscheidung über die Qualität einer Backware ist also mit sehr unangenehmen Aktivierungen verknüpft. Was die Menschen aber in dieser aufmerksamkeitsgestörten Konstellation noch beachten können, ist, wo etwas billig ist und daß etwas billig ist. Darauf läßt sich die Aufmerksamkeit so gerade noch richten, dafür reicht es noch. Aber Schmecken? Die Qualität von etwas selbst feststellen? Wie soll das gehen? Also schmecken die Kunden in dem von Dir beschriebenen Laden buchstäblich die Speisekarte, denn am Eingang des Ladens wird sicher ein Schild hängen mit der Aufschrift «Super-super-lecker-lecker-Brötchen-billig-billig!». Dem Laden sei Dank: Da weiß man, was man schmeckt. Und überhaupt, wenn es doch billig ist! Billig schmeckt immer. Ist das jetzt so einigermaßen klar, lieber Helmut?
    Herzliche Grüße von
    Maria



    Erstellt: 27. Februar 2002 – letzte Überarbeitung: 10. März 2002
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