BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skizzen einer Psychologie des Meinens (2): Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

In der großen Zeit des Hedonismus und Individualismus (vgl. z.B. «So viel ‹Ich› war nie») ist allen Zeit- und Zeitgeistteilhaberinnen völlig klar, daß jedes Individuum – als Unteilbares – eigene, unteilbare Meinungen hat, die aus dem Urgrund (den Genen?) dieses ewig Unteilbaren erwuchsen und emporstiegen und – letztlich – die eigene unteilbare Wahrheit des ewig Unteilbaren sind. Genau deswegen weiß jedes Individuum ja auch am besten, was es eben meint und zu wissen meint. Na schön.

In dem kleinen Essay «Meinen: Eine Annäherung» haben wir einige erste propädeutische Gedanken und Überlegungen gesammelt, die uns bei der Betrachtung des mundanen Phänomens des Meinens und des Eine-Meinung-Habens an die Hand nehmen und dabei die faszinierende Welt der Skepsis eröffnen könnten. Ja, wir denken, daß neben den im Skepsis-Reservat verhandelten epistemologischen Grundfragen es gerade eben die allfälligen Leichtfertigkeiten im Meinen sind, die uns skeptisch machen könnten.

In diesem kleinen Essay möchten wir Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, den Gedanken näher bringen, daß unsere ja so individuellen und unteilbaren Meinungen vermutlich fast immer gar nicht unsere individuellen und unteilbaren Meinungen sind. Dieser Gedanke könnte sehr lehrreich sein, wenn wir uns denn darauf einlassen. Auf jeden Fall könnte er uns Bescheidenheit lehren. Allerdings – das müssen wir gar nicht zerknirscht zugeben – ist dies eine Tugend, die in der derzeitigen postmodernen Ego-Kultur überhaupt keine Rolle spielt. Insofern ist unsere kleine Reihe über das Meinen völlig aus der Zeit gefallen. Wie schön! Fangen wir an.

Unsere Alltagswelt – und natürlich auch der Alltag der Wissenschaftswelt – ist von einer schier überbordenden Fülle automatisierter Routineverrichtungen in Wort und Tat geprägt. Dabei nehmen die Routinemeinungen – aus gutem Grund – einen großen Raum in unserem Leben ein, denn ohne sie wäre unsere tägliche Produktion und Reproduktion nicht möglich. Für alle nur denkbaren Situationen und Kontexte gibt es lokal definierte Rezepte für Meinungen, die die Beherrschung der alltäglichen Routineprobleme ermöglichen sollen und die mit uns selbst, mit unserer Person, nichts zu tun haben. Denn das wichtigste Ziel von Erziehung und Sozialisation scheint uns die Vermittlung, die Aufdrängung, ja die Abrichtung auf bestimmte lokal definierte Rezepte und Regeln für das zu sein, was wir gerade mal eben wieder meinen könnten.

Wir meinen zu wissen, daß doch jeder selbst am besten wissen muß, was er – in Situationen aller Art – zu meinen, zu wissen und zu tun hat. Tja. Was sagt Michel de Montaigne dazu: «Die Pest des Menschen ist die Meinung, etwas zu wissen.» [1] Zitiert nach: Max Horkheimer (1971) Montaigne und die Funktion der Skepsis. Erschienen in: Ders.: Geschichtsphilosophie/Hegel/Montaigne. Frankfurt am Main: Fischer, S. 106.


2. Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale

Betrachten wir einmal in aller Ruhe unseren eigenen Tagesablauf, vom Aufstehen in der Früh' bis zum Schlafengehen. Mal ehrlich, lieber Leser und liebe Leserin, wie unglaublich viel von dem, was wir so sagen und machen ist routinehaft, ist automatisiert, ist wenig bewußt. Das heißt: Wir brauchen nicht nachzudenken, bevor wir etwas tun oder sagen. Ja, wenn wir uns einmal ganz genau beobachten – eine außerordentlich empfehlenswerte Übung –, merken wir, daß wir oft quasi bewußtlos oder wie in Trance in unserer Wohnung herumstisseln und das Gewohnte wie gewöhnlich machen. Und sagen. Von morgens bis abends ist unser Alltag von Routinehandlungen ausgefüllt. Und wir sind ‹abwesend›. Der Volksmund sagt dann oft, man sei ‹in Gedanken›. Das ist nett gesagt, nur wo wir sind, wenn wir unsere Rezeptmeinungen und Rezepttaten abspulen, ist schwer zu sagen.

Wie oft legen wir zum Beispiel irgendetwas (beliebt ist der Hausschlüssel oder unsere Brille) irgendwo hin, und wenn wir plötzlich ‹wach› werden, also uns konzentrieren, unsere Aufmerksamkeit nicht mehr ‹im Nichts› herumschweifen lassen sondern bündeln, dann können wir uns an nichts erinnern und müssen die ‹verlorenen› Gegenstände mühevoll suchen. Meistens versuchen wir dann, die Zeit, in der wir ‹abwesend› waren und automatenhaft herumgeirrt sind, genau und Stück für Stück zu rekonstruieren. Und meistens geht das ja auch gut aus. Wir erinnern uns, was wir im einzelnen nacheinander gemacht haben und schon findet sich das Gesuchte an einem eigentlich ‹unmöglichen› Ort. Einige von uns geraten auch schier außer sich, wenn irgendetwas nicht an dem Platz liegt, an dem es normalerweise liegen sollte. Aber das ist ein anderes Thema.

Gehen wir nun etwas näher heran und beschränken uns auf das, um was es in dieser Reihe von kleinen Essays geht: Das Meinen. Genauer: Um die skeptische Betrachtung des Meinens. Und wozu soll diese skeptische Betrachtung des Meinens gut sein, lieber Leser und liebe Leserin? Was ist denn daran problematisch, wenn wir als Meinungsautomaten in irgendeinem Fall (siehe die gleich folgenden Beispiele) das meinen, was ‹man› eben in einem solchen Fall meint? Und das tun, was ‹man› eben in einem solchen Fall tut? Nun zunächst einmal das: «Die Allgemeinheit einer Meinung ist, im Ernst geredet, kein Beweis, ja nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit.» (Arthur Schopenhauer) [2] Arthur Schopenhauer (1983) Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten in 38 Kunstgriffen dargestellt. Zürich: Haffmans, S. 60. Und das: «Es ist sehr seltsam daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen [den Menschen] hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urtheil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbsterkentntniß ihnen abgeht.» (Arthur Schopenhauer) [3] Arthur Schopenhauer (1983) s.O., S. 59–60. Oder vielleicht noch das: «Man kann wetten, daß jede öffentliche Meinung, jede allgemeine Konvention eine Dummheit ist, denn sie hat der großen Menge gefallen.» (Nicolas Chamfort) [4] Nicolas Chamfort (1987) Ein Wald voller Diebe. Maximen, Charaktere, Anekdoten. Die Andere Bibliothek: Band 31. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Nördlingen: Franz Greno, S. 40.

Und was sagen uns diese Aphorismen? Daß das Nachplappern von wohlfeilen Meinungen uns in allen Situationen unseres Alltags nicht ein Stückchen weiterhilft? Daß wir uns durch das Aufsagen von Meinungsbeständen in keinster Weise in ‹Sicherheit› wägen können? Daß wir durch das Nachahmen von zu Wissen gewordenem Meinen immer noch nicht wissen, ob das alles stimmt, was da gemeint wird? Ja. Und daß wir auch anderes meinen könnten, denn – dies ist das Leib- und Magentheorem aller glücklichen Skeptikerinnen – auch die uns ‹vorgemeinte› Welt kann ‹in Wirklichkeit› ganz anders sein.

Fragen wir dazu Egon Friedell: «Unser Leben zerfällt nämlich in zwei Hälften, und jede dieser Lebenshälften hat eine besondere Aufgabe. In der ersten Lebenshälfte werden uns von allerlei fremden Menschen eine Menge von Ansichten, Urteilen und Meinungen mitgeteilt, und wir haben die Aufgabe, diese Ansichten auswendig zu lernen; in unserer zweiten Lebenshälfte haben wir die Aufgabe, diese Ansichten teils zu vergessen, teils durch ihr Gegenteil zu ersetzen.» [5] Egon Friedell (1993) Abschaffung des Genies. Essays bis 1918. Herausgegeben von Heribert Illig. Wien: Kremayr & Scheriau, S. 9.

Tja, und mit diesem schönen Aphorismus decken wir, lieber Leser und liebe Leserin, den hinter unserer Reihe von Essays zum Meinen stehenden heimlichen Lehrplan – freiwillig – auf: Unser Ziel ist es, Sie von den leichtfertigen und überall zu kriegenden Meinungen wegzubewegen. Wir möchten Sie – via Skeptizismus – zu Prozessen der ‹Selbsterkenntnis› verführen! Wir wollen Sie – via Skeptizismus – zu eigenen Gedanken anregen. Denn: «Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen.» (Karl Kraus) [6] Karl Kraus (1986) Aphorismen. Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Suhrkamp Taschenbuch 1318, S. 111. Ja, wir möchten Ihnen – immer noch via Skeptizismus – zu einer eigenen unteilbaren Person verhelfen! Hallo, sind Sie noch da? Wie? Sie meinen, jetzt reicht es aber? Sie können diesen «Jargon der Eigentlichkeit» [7] In seinem Buch «Jargon der Eigentlichkeit» (erschienen 1964 bei Suhrkamp in Frankfurt am Main) hat Theodor W. Adorno sich kritisch mit Heideggers Sprache auseinandergesetzt. überhaupt nicht ab? Hm, hm. Dann kommen wir später noch einmal darauf zurück.

Wir möchten nun an Hand einiger Beispiele illustrieren und zeigen, wie stark unsere Meinungen gesellschaftlich und lokal hergestellt sind, wie wenig sie mit uns zu tun haben, wie hoch wahrscheinlich es ist, daß weit verbreitete Meinungen schlichte Dummheiten sind, daß wirklich alles auch ganz anders sein könnte, und schließlich, wie alleine wir sind, wenn wir wirklich mal etwas Wichtiges entscheiden müssen. Fangen wir vorsichtig an:


Meinungen zum Telefonieren

Es gab mal Zeiten, da hatten alle Menschen in diesem unseren Land einen ‹Festnetzanschluß› und ein und dasselbe graue Telefon mit einer ratternden Wählscheibe. Heute ist der Bereich des Telefonierens schier unübersichtlich. Ununterbrochen flattern Meinungen herbei, in denen es um ‹günstige› Angebote geht wie ‹Call by Call› oder ‹Pre-Selection›, um neue Mobilphone mit erlesenstem Schnickschnack und Schnackschnick (vgl. z.B. «Bochum, Nokia und Darius») und um eine undurchschaubare Fülle von Tarifen und Angeboten und Sonderangeboten und Unterangeboten. Jeder Bekannte gibt uns seine persönlichen Empfehlungen und jeder Unbekannte schickt uns Flyer und Prospekte ins Haus, alles nur mit dem Ziel, unsere Meinung über das Telefonieren zu beeinflussen und uns Rezepte dafür zu geben, was wir in diesem Bereich von nun an meinen und vor allem tun – also kaufen – sollten.

Wie kommen wir da heraus? Nun, das ist noch ein harmloser Fall: Indem wir gar nichts tun. Vergessen wir einfach die ökonomische Grundregel des finalen Kapitalismus, daß wir immer und immer das günstigste ‹Angebot›, also etwa das günstigste Mobilphon mit dem günstigsten Vertrag und dem günstigsten ISDN-Festnetz-Zusatz-Doppelmoppel-Paket ‹haben› müssen. Ganz ehrlich: Wir ‹taugen› als Mensch auch etwas, wenn uns diese ganze Vorteilsnahme-Rechnereien gleichgültig sind. Unser Kopf ist damit vom Preisvergleichs-Stress entlastet und hat Zeit für wichtigere und schönere Dinge. Und vor allem: Wir dürfen – reuelos – telefonieren, wann und wo und wie wir wollen. Na, ist das nicht ein Super-Angebot?


Meinungen über das Autofahren

Auch heute noch, wo jeden Morgen sich die Autos auf Hunderten von Kilometern stauen, wird die Schimäre, nein werden die Ikonen des freien Autofahrers, der freien Autofahrerin und des freien Autofahrens in der öffentlichen Meinung hoch verehrt. Wenn wir mal jemanden fragen, warum er ein Auto hat, hören wir fast immer den gleichen Unsinn: «Ohne Auto geht es nicht!», «Wie soll ich denn dann einen Kasten Wasser kaufen?», «Busse und Bahnen sind ja völlig unpünktlich und schmutzig!», «Wie soll ich denn dann überhaupt in Urlaub fahren?» Und so weiter. Lustig? Nöh. Nur dumm (vgl. dazu den Bochumer Bericht über «Automythen»). Unser Tip: Verschenken Sie Ihr Auto und Sie werden nicht nur eine ungeahnte neue Freiheit erleben und genießen, sondern auch viel mehr Zeit und vor allem Geld ‹übrig› haben.


Meinungen über das Essen

und die dazugehörige Diätetik sind in bestimmten Kreisen von einer bizarren Fülle. Da das gemeinsame bürgerliche Essen gestorben ist (vgl. dazu auch «Abschied von der Mahlzeit») und Kulturinsassen heute zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Ort Speisen und Getränke einzunehmen gewohnt sind, rutscht der Meinungsbasar weg von der Zubereitung von Hauptgerichten und Beilagen hin zu z.B. ‹Nahrungsergänzungsstoffen› wie Rotweinextrakt-Tabletten (!), Grüntee-Pillen (!), Kombucha-Zubereitungen, Vitaminen, Mineralstoffen und so weiter. Sehr wichtig ist auch das Wissen, also die Meinung darüber, welche Stoffe in welcher Reihenfolge einzunehmen sind, damit eine optimale lebensverlängernde Wirkung erzielt wird. Eine Plage ist das, lieber Leser und liebe Leserin! Sagen Sie sich einfach, daß auch diese Meinungsmode bald wieder vorbei geht und führen Sie sich Rotwein und Grüntee in natürlicher Form und in ausreichenden Mengen zu.


Meinungen über Krankheiten

und was in solchen Fällen zu tun ist, gibt es zu Hauf. Wobei das große ‹konservative› Lager der Patienten (zuerst Diagnostik, Diagnostik, Diagnostik; dann Schneiden, Brennen, Sengen; dann Tabletten, Tabletten, Tabletten) immer noch stark überwiegt. Hier herrscht die unerschütterliche Meinung, daß ‹man› bei einer ernsten Krankheit den ‹ganzen Weg› ganz heroisch und tapfer zu gehen habe. Kampf ist hier also angesagt (vgl. dazu «Abschied vom Sterben»).

Zum Glück gibt es bei diesem Thema auch friedlichere Meinungskulturen, in denen die Menschen ihrem Körper nicht den Krieg erklären, sondern versuchen, ihn sich zum Freund zu machen. Eins noch: Die meisten von uns werden sich eines – hoffentlich fernen – Tages für eine Meinungskultur, für ein Sujet entscheiden müssen. Ein frühzeitiges Nachdenken über dieses Meinungsschisma könnte dabei helfen. Dann werden wir nicht so überrascht und können im Hagel der Ratschläge ruhig bleiben.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Wir haben gesehen, daß wir zur Lösung alltäglicher Routineprobleme eine Fülle von Meinungen zur Hand haben, die als Rezepte, Regeln oder gar als feste Rituale daherkommen. Die Handhabung dieser Meinungen und der damit verbundenen Meinungsausführungen ist völlig automatisiert und überlernt, so daß wir unser Meinen und Wissen gedankenlos und unbewußt, ja geradezu mechanisch anwenden. Und, das hilft uns nicht weiter! Selbst weit verbreitete Meinungen über das, was in einem konkreten Fall zu tun und zu lassen sei, sind meistens Unsinn. Und leider drängen uns die verschiedenen ratgebenden Mitmenschen mit ihren Meinungen oft geradezu an die Wand des Unsinns, darauf beharrend, ja strikt verlangend, daß wir etwas genau so sehen oder machen, wie sie selbst. Warum? Ach, das gibt ihnen ein klein bißchen Selbstwerterhöhung. Ist das alles? Nein, selbstverständlich ist jede Meinungsäußerung auch eine Zugehörigkeitserklärung zu einem sozialen Raum (vgl. dazu das Kapitel «Orte des ‹Meinens› und ‹Wissens›» im Essay «Meinen: Eine Annäherung»). Wenn wir mit unserem Meinen also über soziale Meinungsufer hinausgehen, hat das Konsequenzen.

Wohltuend und äußerst aufschlußreich ist es, in einem ernsten und triftigen Fall (einer ernsten Erkrankung etwa) sich Rat zu holen bei Menschen, die aus unterschiedlichen lokalen sozialen Räumen kommen. Sie werden Augen machen, lieber Leser und liebe Leserin: Ist das nicht erstaunlich, daß die einen zur sofortigen Totaloperation raten und die anderen die Einnahme von kleinen Zuckerkügelchen mit homöopathisch dosierten Pflanzenextrakten empfehlen? Und wenn Sie, in einem solchen ernsten Falle immer noch unsicher sind, was denn nun von Ihnen zu meinen sei, fragen Sie doch noch einen dritten ‹Fachmann›! Oder gar eine vierte ‹Fachfrau›! Ach, Skepsis ist Luxus! Und irgendwann sind Sie so weit, daß Sie Ihren Fall selbst beurteilen können: «Frage Deinen Nächsten nur über Dinge, die du selbst besser weißt. Dann könnte sein Rat wertvoll sein.» (Karl Kraus) [8] Karl Kraus, in der ‹Fackel› Nr. 277/278 vom 31.3.1909, S. 60.


3. Vom Meinen über Menschen

Im folgenden möchten wir etwas ‹psychologischer› argumentieren und auf einen riesengroßen spezifischen Bereich unseres Meinens und Wissens eingehen, dem Meinen und Wissen über Menschen. Hier lassen sich zwei miteinander konfundierte Meinungsquellen finden: Zum einen unser Meinen und Wissen um allgemeine regionale und lokale Konventionen des zwischenmenschlichen Umgangs, und zum anderen unser Meinen und Wissen um regional oder lokal vorgegebene Typisierungen von Menschen, also um Stereotype und Schablonen aller Art. Fangen wir an:


3.1 Meinen und Konventionen

Konventionen legen schlicht fest, was in einem konkreten Kontext als ‹normal› im Meinen und Tun zu erwarten ist. Konventionen definieren den Spielraum für Skripte des Meinens und Verhaltens, sie markieren die sozialen Laufwege, ganz so wie eine Skilanglauf-Loipe. Und wir typisieren unsere Mitmenschen nun in Abhängigkeit von unserem lokalen Wissen um allgemeine Konventionen des zwischenmenschlichen Umgangs mit ganz leichter, aber sicherer Hand, indem wir darüber urteilen, ob diese in den vorgezeichneten Loipen laufen oder nicht. Das bedeutet, daß unserer Typisierung von Menschen in der Regel die Prüfung vorausgeht, ob jemand in einer sozial definierten Standardsituation etwas Angemessenes (Erwartetes) oder etwas Unangemessenes (Unerwartetes) meint oder tut und falls das letztere der Fall ist, wie groß die Differenz zum noch als ‹normal› zu bezeichnenden Verhalten ist. Wir nehmen also im Rahmen der Typisierung von Menschen ständige Passungs- und Zugehörigkeitsanalysen vor.

Diese Konventionen und die damit verbundenen Entsprechungskalkulationen haben in keinster Weise nur etwas mit einer überholten bürgerlichen Kultur zu tun. Nein, auch – und vielleicht gerade auch – in der Postmoderne sind die Konventionen beim Meinen und Tun – etwa was die zu tragende Kleidung, den vorzuzeigenden Gesichtsausdruck, die allfälligen Meinungen, das zu benutzende Vokabular etc. betrifft – sehr fest, sehr streng, sehr stark und vor allem auch lokal sehr verbindlich.

Diese Konventionsentsprechungsanalysen sollten wir uns nun aber nicht als einen nach ‹logischen› Kriterien geordneten Informationsverarbeitungsprozeß vorstellen. Denn solche sozial und lokal definierten und vorgeschriebenen Passungs- und Zugehörigkeitsanalysen können schlicht völlig unsinnig sein oder auch dann ablaufen, wenn die in den automatisierten Passungsanalysen verwendeten Kriterien in einer spezifischen Situation überhaupt keine Rolle spielen, mit dem wirklichen Geschehen also überhaupt nichts zu tun haben.

Betrachten wir uns einige Beispiele:


Nach dem Weg fragen

In einem dieser langen und halbdunklen Flure einer Behörde kommt jemand auf uns zu, stoppt kurz vor uns und sagt: «Wo ist denn der Raum GAFO 04/995?» Jetzt läuft die Typisierungsmaschine an. Unser Meinen um allgemeine Konventionen des kontextspezifischen Umgangs sagt uns, daß es sich hier – falls Kleidung und Gesichtsausdruck dazu ‹passen› – um einen Kontext des ‹Nach-dem-Weg-Fragens› handelt, und daß der Frager ein harmloser ‹Nach-dem-Weg-Frager› ist. Die Kontexttypisierung legt nun die weit verbreitete Interaktionskonvention fest, daß wir vorschriftsmäßig Auskunft geben: «Das weiß ich leider auch nicht!». Selbstverständlich gibt es noch mehrere andere mögliche Konventionen, wie etwa ein ‹Einfach-Weitergehen› oder ein Angebot, gemeinsam nach diesem Raum zu suchen.


Im Fahrstuhl

Für das Betreten eines Fahrstuhls und das anschließende Fahren selbst, gibt es mehrere mögliche und konkurrierende lokale Meinungen darüber, was jeweils zu tun sei. In vielen Bürohochhäusern ist es üblich, beim Betreten des Fahrstuhls die aktuellen Tageszeiten auszurufen wie «Morgen!» oder «Mahlzeit!». In anderen lokalen sozialen Systemen ist es aber auch völlig in der Meinungs-Ordnung, sich beim Betreten des Fahrstuhlkäfigs sofort und ohne Gruß umzudrehen und sich so vor die Fahrstuhltür zu stellen, daß das Gesicht nur etwa 1 cm davon entfernt ist. Hochinteressant sind soziale Systeme, in denen es völlig verpönt ist, sich im Fahrstuhl wechselseitig anzugucken. Jeder Rauminsasse versucht dann, irgendwohin zu gucken, wo er kein anderes Gesicht trifft. Sehr nett. Das erinnert an den kleinen Essay über das Fahren in der «U-Bahn».


Hm, hm

Noch ein Beispiel mit behavioristischem touch: Unser Wissen um allgemeine Konventionen des zwischenmenschlichen Umgangs schreibt zweifelsfrei vor, daß wir für das, was wir in einem Zwiegespräch sagen, von unserem Gesprächspartner ununterbrochen mit einem Nicken, einem Augenblinzeln oder kleinen zustimmenden Geräuschen (Hm, hm) verstärkt und belohnt werden. Bleiben diese Belohnungen nur für eine ganz kurze Zeit aus, hören wir in aller Regel sofort auf zu sprechen und fragen: «Was ist denn?» Denn durch das Ausbleiben der ununterbrochen zu erwartenden Verstärkungen ist die kommunal definierte Situation ‹Sich-Unterhalten› aufgebrochen und gestört. Lokale Spielregeln sind verletzt. Unsere Meinungen bezüglich eines ‹angemessenen› lokalen Zuhörverhaltens sind ziemlich fest. Wir vermeiden es sehr schnell, mit Menschen zu sprechen, die die engen Konventionen hier nicht einhalten.

Und weil die Konventionen hier so eng sind, gehört es zum Kontext knallharter Machtausübung, genau das Gegenteil des zu erwartenden Verhaltens zu zeigen und sich an der Verwirrung und Auflösung der sprechenden und ‹vortragenden› Person zu weiden. Diejenige Person, die sich für eine Machthaberin hält, tut eben nicht das, was hier allgemein üblich wäre und was ein ‹Gespräch› überhaupt erst möglich macht. Nein, sie macht ein völlig unbewegtes Pokerface und gibt nicht die geringsten mimischen, gestischen oder verbalen Rückmeldungen darüber ab, ob sie überhaupt zuhört. Sie läßt ihr ‹Gegenüber› auflaufen. Das muß für einen Machthaber sehr schön sein. Diese Situation ist allerdings für die Person, die sich selbst ohne Macht sieht, also als ‹ohnmächtig› einschätzt, nicht auszuhalten. Denn da sie es nicht wagt, den Machthaber einfach «Was ist denn?» zu fragen, muß sie erleben, wie ihre Empfindung der Machtlosigkeit kontinuierlich zunimmt und ihre Sprache langsam aber unaufhaltsam dahinstirbt. Dann allerdings kann die Person, die sich als Machthaber sieht, endlich sagen: «Was stottern Sie denn da herum?»

Es gibt eine ganze Reihe von Scharlatanen, Verführern und Machthabern, die mit Meinungen über Konventionen äußerst routiniert umgehen können und immer wieder Erfolg damit haben (vgl. dazu das aufschlußreiche Kapitel 3.2.3 ‹Machtausübung in Psycho-Gruppen› des Arbeitspapiers Nr. 9).


3.2 Meinen und Stereotype

Unser Meinen über Menschen ist zum einen also auf wundersame Weise verwoben mit den sozial und lokal erzeugten Meinungen über allgemeine kontextspezifische Konventionen des zwischenmenschlichen Umgangs. Wir nutzen beim Meinen über Menschen aber auch eine Fülle von Meinungen, die sich als Stereotype bezeichnen lassen.

Hören wir mal in ein kleines Gespräch hinein: «Kennst du eigentlich den Dieter, den Ex von Stefanie, der jetzt mit Tanja zusammen ist?» «Nein, wen meinst Du denn?» «Na, Du weißt doch, dieser Typ aus dem 3. Semester!» «Ich weiß es echt nicht, wie sieht der denn aus?» «Ja, also nicht so flippig, schon eher ordentlich, aber doch irgendwie alternativ oder zurückgeblieben, manchmal hat der auch so alte karierte Hemden an, daß das schon wieder cool ist, ja, und eigentlich sieht der auch ganz gut aus, aber leider weiß er das, na ja, und er macht eher so einen auf ruhig, auf Durchblick, aber das nehm' ich ihm nicht ab, verstehst Du, das ist eher so 'ne unterdrückte Ruhe, so 'ne falsche Ruhe. Weißt Du jetzt, wen ich meine?» «???»

Tja, so geht das den ganzen Tag. Für die Typisierung von Mitmenschen stehen uns tausende von Eigenschaftsworten und Adjektiven und tausende von kleinen lokal definierten Hinweiskriterien zur Verfügung, aus denen wir gleichsam aus dem Vollen schöpfen können. Bei diesem Meinungsspiel geraten wir schnell und leicht in Hochform. Entdecke die Möglichkeiten! Denn alles ist möglich. Und: Wir sollten uns klar machen, wie solche leichtfertig daher geholten Typisierungen unausgesetzt unser Verhalten beeinflussen, wahrscheinlich meistens, ohne daß uns das überhaupt klar wird. Wir möchten das aber hier nicht vertiefen, sondern lieber noch etwas näher an diese Typisierungsprozesse herangehen.


4. Zur Psycho-Logik des Meinens

Sowohl dem Meinen um allgemeine Konventionen des kontextspezifischen zwischenmenschlichen Umgangs als auch dem Meinen über regional oder lokal vorgegebene Stereotype ist gemeinsam das permanente konstruierende Hinausgehen über das unmittelbar Gegebene. Was heißt das? Nun, diese beiden konfundierten Bereiche des Meinens helfen uns dabei, unsere Welt aktiv herzustellen, nicht abzubilden. Wir passen die Welt den Meinungen innerhalb unserer sozialen Räume an (nicht umgekehrt). Wir vollbringen in unserem Meinen über Menschen also eigentlich immer nur Wiedererkennungsleistungen, indem wir eine ständige Reduktion von ‹Gesehenem›, von ‹Wahrgenommenem› auf die uns zur Verfügung stehenden Typisierungsmöglichkeiten und Kategorien des Meinens vornehmen. Wir subsumieren also unsere wuseligen Sinneseindrücke von den verschiedenen Verhaltensweisen von Mitmenschen ständig unter dieses oder jenes krude Etikett, welches für die lokalen sozialen Sinnordnungen des Meinens gerade bedeutsam ist.

Ein Hinausgehen über das unmittelbar Gegebene ist auch daran zu sehen, daß wir die Bedeutung sozialer Ereignisse und Erklärungen über mögliche «Ursachen» des sozialen Geschehens konform zu den momentan definitionsberechtigten sozialen Räumen und deren Typisierungs-Regeln erfinden. Ein kleines Beispiel dazu: Er und Sie. Sie schweigt. Er fragt: «Was ist denn?» Sie schweigt und denkt: «Um ihm das erklären zu können, müßte ich die Sterne auf die Erde holen, also schweig ich lieber.» Er denkt sich was aus, interpretiert ihr Schweigen, geht über das Schweigen in dieser Situation hinaus, fügt noch beliebige weitere Etikettierungen und Meinungen hinzu. Wichtig ist nun, daß in seinem Gedächtnis nicht nur diese Situation des Schweigens gespeichert wird, sondern die Schweigesituation plus die von ihm erfundene Bedeutung des Schweigens! Er erinnert sich also in Zukunft an seine Erfindungen.

Das Hinausgehen über das unmittelbar Gegebene bedeutet aber auch, daß wir aufgrund eines einzelnen isolierten Verhaltens in einer konkreten lokal definierten Situation, die wir von ihrer Bedeutung her sehr gerne vernachlässigen, bereits auf allgemeine, ja «typische» Dimensionen schließen, die das Verhalten eines Menschen situationsfrei und schablonenhaft festschreiben. Genau das ist die Wirkung von Stereotypen!


5. Paradigmenwechsel im Meinen

Interessante Frage: Gibt es gelegentlich Änderungen in den Rezepten, Regeln und Ritualen des Meinens? Werden Rezepte oder Regeln mal ausgetauscht? Gibt es so etwas wie Paradigmenwechsel im Meinen? Und wenn ja, wie geht das? Oder, noch eine sehr interessante Frage, was geschieht, wenn ein Problem auftaucht, welches mit unseren derzeitigen Rezepten des Meinens nicht zu lösen ist?

In unserer Kultur gibt es gesellschaftliche Rituale (Theateraufführungen, Vorträge, Festreden, Essays), in denen unser alltägliches Meinen schon mal in Frage gestellt wird und in denen wir unser Meinen und Wissen für eine Stunde auch gerne in Frage stellen lassen. Ja, gelegentlich werden wir sogar aufgefordert, unsere Rezepte, Regeln und Rituale des Meinens zu verändern. Solche Veranstaltungen des Predigens über Menschlichkeit, Nächstenliebe, politische Kultur, Konstruktivismus, Selbstbestimmung und Eigenbewegung rühren uns naturgemäß gelegentlich zu Tränen, sind aber nun wirklich nicht ernst zu nehmen. Schon unmittelbar nach einem solchen Meinungsanzweiflungsritual wird uns klar, wie lebensfremd das Gehörte oder Gesehene war, wie weit es am ‹wirklichen› Leben vorbeiging. Gut, wir wurden zwar wieder einmal schön moralisch abgegruselt, aber das ändert nichts an unserem gewohnten gewöhnlichen Meinen über die Welt und auch nichts an unserem Verhalten. Direkt nach einem Treffen von überaus antikapitalistisch eingestellten Globalisierungsgegnern kann einer von ihnen eine nichtsnutzige alte Rostbeule von Auto für 1000 DM verkaufen, weil er einen Dummen gefunden hat, der soviel dafür bezahlt. Ja, er ist sogar noch stolz, konnte er doch sein stabiles Meinungskonzept abrufen, was sich etwa so beschreiben läßt: «Ich kriege auch nichts geschenkt; man muß sehen, wo man bleibt; das ist sein Problem; ist der doch selber schuld, wenn der soviel Geld für so ein altes Auto gibt; etc.»

Die ritualisierten öffentlichen Veranstaltungen zur Beeinflussung und Änderung ritualisierter Meinungen haben also vermutlich wenig Erfolg. So leicht sind wir nicht von unseren Rezepten des Meinens abzubringen. Es funktioniert doch alles. Alles ist gut. Woran sollten wir zweifeln? Und, vor allem, woher sollen wir wissen, wie sollen wir herauskriegen, daß wir mit unseren Rezepten des Meinens nicht mehr weiter kommen? Das ist genau der Punkt. Wie sollen wir ein Scheitern unseres Meinens über die Welt ‹feststellen› können, wo doch das Scheitern mit Hilfe der Meinungen eingeschätzt werden müßte, die ja zum Scheitern führten? Denken wir daran: Unser Meinen und das öffentliche Meinen braucht mit dem, was ringsherum geschieht, braucht mit der Realität nicht das mindeste zu tun zu haben! Wir alle kennen Geschichten über Sekten, die etwa auf einen prophezeiten Weltuntergang warten, der dann – erstaunlicherweise – nicht eintrifft. Wir sollten über solche bizarren Sekten nicht lachen, denn wir sind – genau genommen – alle Angehörige von Sekten, von Meinungssekten.

Was ist aber, wenn unsere Rezepte des Meinens, für uns ersichtlich, also wirklich nicht mehr funktionieren, wenn wir unser tägliches Scheitern an uns heranlassen, wenn unser Meinen und Wissen versagt, wenn es nicht hält, was es verspricht? Nun, zum Glück gibt es solche seltenen Situationen, solche Sternstunden, in denen wir im Ernst unser Rezeptwissen anzweifeln könnten, nur gehört bei uns fast immer eine ordentliche Krisensituation dazu, bis wir freiwillig einen Paradigmenwechsel vornehmen. Solche Krisen sind normalerweise:


Ein Beziehungspartner bricht aus, eine Beziehung geht zu Ende.

Meistens ändern wir auch bei dieser großen Chance nichts, sondern beschimpfen den Anderen, fallen mit dem nächstbesten Partner in den gewohnten Trott im selben Bett und halten unsere Rezepte des Meinens zur Lösung des alltäglichen Routineproblems Zweierbeziehung aufrecht. Aber es könnte auch anders sein. Wir könnten tatsächlich durch eine Krise angeregt werden, unsere Regeln und Rituale des Meinens, unsere stereotypen Beziehungshandlungen (Zärtlichkeiten, Standardsätze, Gewohnheiten) und unsere Sichtweisen, unser Blickfeld, unsere Konstruktionsgewohnheiten zu ändern. Ach, das wäre doch was!


Unfälle, Unglücke, Krankheiten

Hier sieht unsere Kultur als normales, ja zu erwartendes Skript vor, daß man jetzt, wo man dem Tod und der Gefahr so knapp entronnen ist, überall zum Besten gibt, daß man von Stund an ‹bewußter› und ‹intensiver› leben und überhaupt ‹kürzer treten› werde. Man gibt also vor, daß sich das Meinen über den ‹Sinn› des Lebens grundlegend geändert habe. Denn unsere Kultur schreibt vor, daß sich unser Leben gliedert in ein «Vor-dem-Unfall» und ein «Nach-dem-Unfall». Da gibt es unglaubliche Karrieren von Menschen, die glauben, allen anderen erzählen zu müssen, daß sich ihr Leben jetzt ganz unglaublich verändert hätte, dabei äffen sie nur verschmiemelte Sprach- und Lebensskripte nach, versuchen wieder einmal Vorgemeintes nachzumeinen und Vorgelebtes einzuholen und nachzuleben. Schade. Aber es könnte auch anders sein!


6. Ausblick

Damit kommen wir zum Ende dieses Teils unseres kleinen Grundkurses in Skeptizismus, in dem wir beschrieben haben, wie kristallisierte Rezepte, Regeln und Rituale des Meinens über die Wirklichkeit regelhafte Zusammenhänge herstellen und uns – immer im Rahmen spezifischer sozialer und lokaler Räume – unsere Welt sinnvoll erscheinen lassen. Wir möchten in diesem Ausblick nun nur noch einer Frage nachgehen, die – insbesondere von jüngeren Zeitgeistinsassen – häufig gestellt wird. Es wird gefragt, was denn an den Rezepten, Regeln und Ritualen des sozial definierten Meinens so ‹schlecht› sein soll? Und warum unsere Rezepte des Meinens zur Typisierung von Menschen im Sinne von Stereotypien denn überhaupt eine Gefahr seien? Wir bräuchten das doch alle! Und wir kämen doch auch alle gut zurecht mit dem von anderen ausgeborgten Meinen! Und, es könne doch gar nicht alles, was der ‹gesunde Menschenverstand› – immerhin heiße dieser ja auch ‹gesunder› und nicht ‹kranker› Menschenverstand – so mache, immer nur negativ sein? Das sei doch wieder nur eine große nihilistische und oberflächliche Vereinfachung! Zum Beispiel, wenn jemand eine Pistole auf meine Brust richten würde, dann müsse ich doch wissen, daß das gefährlich sei! Und so weiter.

Na ja, kann sein, daß es ganz selten mal Situationen gibt, in denen unsere Regeln des Meinens und unsere vorweggenommenen Typisierungen von Menschen sinnvoll sind. Meistens sind sie es jedoch nicht. Denn allgemeine Meinungen sind in aller Regel kruder Unsinn. Sie haben keinerlei angemessene Lösungen parat für die allfälligen Probleme unseres Daseins: «Die Meinung ist die Königin der Welt, weil die Dummheit die Königin der Schwachköpfe ist.» (Nicolas Chamfort) [9] Nicolas Chamfort (1987) s.O., S. 25. Das scheint uns deutlich genug! Kommen doch diese allgemeinen Meinungen als Moden daher, manchmal gar nur als Tagesmoden. Das haben sie gemein mit den veröffentlichten Meinungen in den Zeitungen und im TV. Auch diese bieten uns bei der Bewältigung unseres Daseins keine Hilfe, da sie ausschließlich am Spektakel interessiert sind. Die veröffentlichten Meinungen wollen uns nur in den Meinungsgriff bekommen: «BILD Dir Deine Meinung!». «Kurzum Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: was bleibt da anders übrig als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen?» (Artur Schopenhauer) [10] Arthur Schopenhauer (1983) s.O., S. 63. Um das ein für alle mal zu klären: «Dumme Menschen haben zu allem und jedem eine Meinung; kluge zu wenigem mehrere.» (Artus P. Feldmann)

Und warum sind Regeln des Meines und allfällige Typisierungen gefährlich und negativ? Was richten wir denn damit an? Nun, es besteht bei unseren Rezeptmeinungen und Typisierungen die große und kaum zu vermeidende Gefahr der Beliebigkeit. Was heißt denn hier plötzlich Beliebigkeit? Nun, beliebig ist eine von uns den öffentlichen Vorschriften nacherfundene Typisierung dann, wenn sie vom Anderen so gar nicht ausgesandt wurde, oder wenn unsere erfundene Bedeutung eines Verhaltens und das ‹tatsächliche› Verhalten ganz weit auseinander lagen! Wie oft bezeichnen wir etwas als aggressiv, dabei hat einer nur sein Gesicht verzogen, wie unendlich viele Mißverständnisse gibt es!

Das ist das Problem, alle sagen, daß sie doch so toll zurecht kommen! Nur: Die Vorgänge der Interpretation, der Ursachensuche und der weiteren Schlußfolgerungen im Dienste der Typisierung einer Situation oder Person schließen leider naturgemäß die Möglichkeit beliebiger, unsinniger, ja sogar ‹falscher› Interpretationen ein. Natürlich können wir auch mal richtig liegen in unserem Meinen oder bei der ‹Einschätzung› eines Menschen, aber woher sollen wir das wissen, wo doch der ‹Charakter› des Anderen im Auge des Betrachters liegt!?

Warum sind also unsere Rezepte, Regeln und Rituale des Meinens gefährlich? Weil wir nie wissen können, ob sie zutreffen und weil wir mit unseren Typisierungen Gewalt anwenden. Gewalt? Ja, Gewalt! Zu einem Diskurs, zu einem Dialog gehört es für uns, unser Gegenüber nicht mit beliebigen abgeschmackten Regelmeinungen und Typisierungen zu belästigen, sondern statt dessen zu versuchen, so gut wie möglich zu verstehen, was unser Gegenüber zu sagen und zu zeigen versucht, falls er etwas zu sagen oder zu zeigen versucht.

Was tun? Nun, vielleicht ist Skepsis die befreiende Vorstellung, daß es die eine vielbeschworene Wirklichkeit, die sich auch noch mit Rezepten, Regeln und Ritualen bewältigen läßt, nicht gibt, sondern viele. Leitgedanke aller Skeptikerinnen ist so der in diesem kleinen Essay schon öfter erklungene Ruf: «Nun, es könnte auch anders sein!» Skepsis ist der befreiende Gedanke, daß unsere Wirklichkeit daraus besteht, Möglichkeiten zu haben im Meinen, die jenseits aller Meinungserwartungen und Meinungsvorschriften liegen können. Und als Skeptikerinnen stehen wir vor der nie endenden Aufgabe, uns selbst herzustellen und zu diesem Behufe denken zu lernen. Denn nur so können wir es wagen, über die uns wie Mücken umschwirrenden allfälligen Alltagsmeinungen hinauszusteigen. Und wir ‹müssen› aus den Rezepten, Regeln und Ritualen hinaussteigen, um – irgendwann – zu Eigenbewegungen im Denken und Handeln kommen und ein eigenverantwortliches Leben führen zu können: «Meinungen, Überzeugungen, Standpunkte, Prinzipien: Alles Feinde der Wahrheit; nur Gedanken können zur Wahrheit beitragen.» (Artus P. Feldmann) Könnte sein, Artus. «Der Gedanke ist ein Kind der Liebe. Die Meinung ist in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt.» (Karl Kraus) [11] Karl Kraus (1986) s.O., S. 112. Wir sollten uns für die Liebe entscheiden!

Ein Lob der Skepsis also! Denn Skeptiker sind Philosophen, und Philosophen betreiben Philosophie. Und «Philosophie ist besorgtes Leben in geistesgegenwärtiger Aktion. Diese äußerste Möglichkeit der Philosophie ist […] das Wachsein des Daseins für sich selbst, […] was vor allem bedeutet, es dabei zu ertappen, wo es sich selbst aus dem Weg geht. […] Es bedeutet: die Verfallsgeneigtheit des Lebens durchsichtig machen, die Fluchtwege in die vermeintliche Stabilität abschneiden und den Mut haben, sich der Unruhe des Lebens zu überlassen im Bewußtsein, daß alles vermeintlich Haltbare, Festgestellte, Verbindliche nichts anderes ist als Zurechtgemachtes: eine Maske, die das Dasein sich aufsetzt oder von der öffentlichen Ausgelegtheit, also von den herrschenden Meinungen, Moralvorstellungen und Sinngebungen, aufgesetzt bekommt.» (Martin Heidegger) [12] Zitiert in der Paraphrasierung Rüdiger Safranskis aus seiner wunderbaren Biographie über Martin Heidegger: Rüdiger Safranski (1994) Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München, Wien: Carl Hanser, S. 153.



Erstellt: 8. Oktober 2001 – letzte Überarbeitung: 8. Oktober 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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