BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die schlimmste Lichtquelle der Welt: 10 Thesen zum TV»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Artus P. Feldmann
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Sehen heißt:
im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden,
das die Denkgemeinschaft geschaffen hat,
der man angehört.»
(Ludwik Fleck)

«Der rohe Mensch ist zufrieden,
wenn er nur etwas vorgehen sieht;
der gebildete will empfinden,
und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.»
(Johann Wolfgang von Goethe)

Das Fernsehen in Deutschland hat im Verlaufe seiner Geschichte eine spektakuläre Drift mitgemacht: Von einer ‹ernsthaften› Sendung – auch mit durchaus ‹ernsthafter› Unterhaltung – über die Werbung zur Werbesendung. Am Anfang war alles Programm, heute ist fast alles Werbung, auch das Programm.

Im Anfang hatte das Fernsehen eine Bildungsfunktion. Die ‹Macher› bekundeten, das Fernsehen diene der Information und erlaube den mündigen Bürgern und Bürgerinnen draußen im Lande die Teilnahme am gesellschaftlichen Makrodiskurs. Fernsehen wurde als Instrument der demokratischen Meinungsbildung gesehen. Da allerdings auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ein Geld verdienen ‹mußten› und das Kapital so gerne seine attraktiven Produkte im neuen Medium ausstellen wollte, geriet das ganze gut gemeinte Bildungsunternehmen rasch ins Driften: Die Werbung zog ins Fernsehen ein. Diese Werbung gab es zunächst nur zu bestimmten, publikumswirksamen Sendezeiten, wenn potentielle Konsumenten und Konsumentinnen vor dem Bildschirm saßen: Also in der Vorabendzeit. Davor und danach, jenseits des sogenannten ‹Werbefernsehens›, war Reklame tabu und wäre wohl, etwa als Unterbrechung von Spielfilmen, manchen Zuschauern und Zuschauerinnen durchaus als Belästigung erschienen.

Im Zuge der endgültigen Kommerzialisierung unserer Kultur allerdings wurde dann, folgerichtig, im Privatfernsehen die gesamte Sendezeit nach amerikanischem Vorbild mit Werbung durchsetzt. Das einstmalige Bildungsziel degenerierte und den Programmgestaltern blieb eine einzige öde Aufgabe übrig: Die richtigen Konsumentengruppen zur rechten Zeit vor den Bildschirm zu kriegen und dort festzuhalten, ja festzufrieren, auf daß Werbung ‹wirke›. Die eigentlichen ‹Sendungen› verwandelten sich in Pseudosendungen, in ein den Werbespots immer ähnlicher werdendes und eher nebensächliches Lockmittel. Sie wurden zum Kleister auf dem Fliegenpapier des Bildschirms, an dem die Zielgruppen potentieller Käufer kleben bleiben sollen. Ex-RTL-Geschäftsführer ‹Helmut Thoma hat in dieser Logik die Aufgabe des Fernsehens als Transport von Botschaften zwischen A und B beschrieben; A sei der Werbetreibende, B sei der Zuschauer, und ein TV-Sender habe für A die richtigen Bs vor dem Fernsehschirm zu versammeln›. [1] Weischenberg, S. (1997): Neues vom Tage. Die Schreinemakerisierung unserer Medienwelt. Hamburg: Rasch und Röhrig.

Und im Anfang war Fernsehen eine Art soziales Ereignis. Lief ein Durbridge-Krimi, waren die Straßen leergefegt. Und am nächsten Tag konnten fast alle Menschen über diese eine Fernsehsendung sprechen, da sie alle das gleiche gesehen hatten. Heute, bei 50 TV-Programmen, kann es diese starke soziale Bindungsfunktion des TV nicht mehr geben. Heute sieht mensch allein fern. Entzweit. Einsam.

Und wenn wir den Auguren glauben, dann hat sich der TV-Konsum in den Nullerjahren gravierend verändert. Junge, und vor allem junge gebildete Leute interessieren sich nicht mehr für das übliche TV-Programm. Sie haben absolut keine Lust darauf, immer wieder denselben Wichtigkeitswichteln in immer wieder denselben Talkshows dabei zuzuhören, wie sie einseitige Meinungen aufsagen und sich selbst – unbehelligt – für diese Meinungen auch noch loben. Junge Leute schauen lieber in langen Nacht-Sessionen mit ihren Freunden zusammen beliebte amerikanische TV-Serien. Das eigentliche TV-Programm ist derzeit wohl nur für alte Leute und für die Unterschicht gedacht, die von der Strasse ferngehalten werden soll.

Soviel zur Einstimmung. Nun schauen wir uns die schlimmste Lichtquelle der Welt näher an. 10 Thesen.


These 1: Fernsehen reduziert komplexe soziale Prozesse auf Personen

Die Bilderwelt der Medien ist voll von angeblichen Ereignissen, in denen einzelne Personen den Lauf der Geschichte beeinflussen und beeinflußt haben. Politische Händel und Kriege, Naturkatastrophen, Mord und Totschlag, Arbeitslosigkeit, Wahlen, Rinderwahnsinn, immer werden Bilder gezeigt, die unseren Blick auf einzelne Personen zwingen. Soziale oder gar politische Zusammenhänge bleiben regelmäßig außen vor. Es gibt nicht einmal rudimentäre Versuche, solche Zusammenhänge zu sehen und zu erklären. Das spätmoderne TV – und zwar sowohl öffentlich-rechtliches TV als auch Privatfernsehen – produziert als kulturelle Grammatik also pausenlos personalisierte Mythen und nur diese. Die Bilder von Personen verführen uns dazu, die Macht einzelner Personen zu überschätzen. Und es ist ebenso völlig klar, daß aus diesem Grund auch immer irgendwelche Personen aus irgendwelchen Ämtern zurücktreten sollen. Das Publikum wünscht sich hier regelmäßig eine große Purgatio, die allerdings völlig folgenlos bleibt. Denn frei nach Karl Kraus ist die einzelne und schließlich zurück getretene Person ja gar nicht das Objekt der Kritik, es ist der Umstand, daß unser System eben diese Person hervor gebracht hat. [2] In der Fackel Nr. 531-543 vom Mai 1920, heißt es auf Seite 134: «Objekt ist nie der Gegner, sondern der Umstand, daß es ihn gibt.»


These 2: Fernsehen reduziert Personen auf Emotionen

Die Personalisierung komplexer sozialer Prozesse findet nun hauptsächlich statt durch eine Reduktion auf Emotionen. Der Blick auf einzelne Personen ist fast immer auf deren Gefühle gerichtet, nicht auf deren Klugheit, Weitsicht oder Umsicht. Emotionen zu haben ist heute der Beleg dafür, daß ein Mensch ein Mensch ist. Denn an inhaltlichen, politischen oder gar sozialen Analysen ist kein Mensch interessiert. Cora Stephan sagt es so:
Öffentliche Personen, aber nicht nur sie, werden nicht an ihren sachlichen Qualitäten gemessen, sondern daran, ob sie sich als empfindender Mensch darstellen können.
Zu diesem Behufe hat sich unser ewiger Kanzler in jedem Urlaub in immer demselben Urlaubsort jeweils beim Streicheln eines Tieres abbilden lassen.

Im spätmodernen TV werden insbesondere Menschen vorgeführt, die ganz besonders intensive Gefühle haben. Es werden zu diesem Behufe Standardsituationen konstruiert, um Gefühle zu provozieren. Diese Gefühle kann dann der Fühlende zwar nicht beschreiben, er kann sie auch noch nicht begreifen, aber er oder sie hatte oder hat sie. Der Beispiele für diese ‹Gefühls-Evozierenden› sind viele: Hochzeiten, Siege oder Niederlagen im Sport, Unfälle, Streitereien, Ekelinduzierungen etc., wichtig ist immer der Zoom auf ein Gesicht verbunden mit der bangen Frage, weint er jetzt oder weint er noch immer nicht.

Sehr praktisch ist, daß insbesondere ‹Opfer› aller Art ganz intensive Gefühle hatten oder haben. Personen in einer Opferrolle sind also intensiv gesuchte Kandidatinnen, und eine Fülle von Formaten wird um Opfer herum aufgebaut, in der Hoffnung, daß bei bestimmten Fragen kameragerechte Tränen fließen. Man kümmert sich also um die Schicksale von Menschen, die einen nichts angehen; denn sie sind so weit genug weg, daß die Anteilnahme keinen Aufwand verursacht. [3] Siehe Weischenberg, Fußnote 1.

Man muß sich das mal vorstellen: Die Zusammenfassung eines Fußballspiels besteht heute daraus, daß minutenlang das Bild des Gesichtes eines Fußballtrainers gezeigt wird, der kurz vor seiner Entlassung steht, also mögliches Opfer sein wird, da der Erfolg oder Mißerfolg der von ihm trainierten Mannschaft ja von seiner Person abhängt (siehe dazu die These 1). Von einer auch nur einigermaßen abbildenden Darstellung des Spielgeschehens, von einer Reportage also, ist in der Sportberichterstattung seit der Einführung des Privatfernsehens nichts mehr zu sehen.

Kurz: Egal wie komplex irgendein Geschehen war, gefragt sind wohlfeile individuelle und menschliche (!) Gefühle, die aus dem kommunal definierten Zentralspeicher für Gefühlsreden und Gefühlsausdrücke abgerufen werden. Wie sagt es der alte Goethe: «Der Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern.»


These 3: Fernsehen erzeugt zunehmend selbst die Wirklichkeit, über die es dann berichtet

Natürlich gibt es hie und da noch Journalisten-Relikte aus der Moderne, die weiterhin tapfer den Mythos verkünden und leben, neutrale Informationsdisseminatoren und -distributoren zu sein. Die postmoderne TV-Wirklichkeit zeigt, daß dieser Anspruch nur noch verlacht wird. Die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung verschwimmen, es wird ‹Realität› inszeniert, um über diese ‹berichten› zu können, und es wird alles, wirklich alles gezeigt, wovon es Bilder gibt. Da die Wirklichkeitskonstruktionen zu möglichst günstigen Preisen erbracht werden müssen, sind Gegenüberstellungen und Überraschungsgäste besonders beliebt: Einfach wunderbar, wenn der Gast ausklinkt und eine Studiotür eintritt. Schon haben wir ein Thema für die nächste Sendung. Alles ist möglich.


These 4: Aktualitätszwang und Skandalspirale

Da viele Betrachter der Lichtquelle süchtig sind, muß die Dosis – genau wie bei Drogenabhängigen – ständig erhöht werden. Die Aktualität von Themen erschlafft immer rascher. Dies erzwingt weitere skandalöse Neuigkeiten (Skandalspirale) und Tabubrüche. Innerlich und äußerlich besonders eklige Mitmenschen erhalten flugs ein eigenes Format, eine eigene Show, um nach kurzer Zeit gegen angesagtere Wichtel ausgetauscht zu werden.


These 5: Selbstreferentialität

Das Fernsehen wird zum Opfer seiner eigenen Strukturen; die geschaffene Bilderwelt erzwingt ihren Erhalt; Formate beziehen sich auf andere Formate; der Fernsehjournalismus bezieht sich auf den Fernsehjournalismus; Promis beziehen sich auf Promis; Moderatoren besuchen Moderatoren. Das Machersystem ist geschlossen. Dieses selbstreferentielle System erzeugt eine Familie der Sichtbaren, die immer häufiger zu sehen ist. In den angesagten Sendungen treten also Leute auf, die vorher im TV aufgetreten sind. Alles dreht sich im Kreis. Diese Familie der Sichtbaren nennen wir die Sonnenhüter, denn ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß die Sonne über unserer Gesellschaft des Spektakels niemals untergeht.


These 6: Abschied vom Wissen und Können

Wichtig ist in den verschiedenen angesagten Formaten, daß Leute vorgeführt werden, die nichts können und nichts wissen. Das haben die TV-Macher schnell erkannt, daß Leute, die wirklich was können, out sind. Die Millionen Entgrenzten vor den TV-Geräten wollen schließlich sich selbst sehen und sagen: ‹Das könnte ich auch!› So kann man Luftgitarren-Wettbewerbe veranstalten, oder in einem angesagten Quiz Fragen stellen, die so sinnlos sind, daß man auch mit einer geringsten Bildung herumraten kann, wie die richtige Antwort sein könnte. Und wenn es um ein Können geht, dann um völlig sinnlose Fertigkeiten, wie etwa, am Riechen von Kot den Urheber desselben erkennen zu können.

Klar, da das TV alles, was möglich ist, ursupiert, gibt es natürlich auch beliebte Formate, in den ein geschmähtes hässliches Entlein so gut quaken kann, daß der Kamerazoom diesmal auf die Tränen der Juroren gerichtet ist, die von dem gelungenen Quaken völlig überrascht zu sein scheinen. Aber auch in diesen Sendungen geht es in erster Linie darum, möglichst viele Nicht-Könner scheitern zu lassen, und deren Tränen und Verzweiflung auszustellen.


These 7: Warum sehen Menschen fern?

  • Das Betrachten der Lichtquelle ist zutiefst in unsere Kultur eingebaut. Ja, es ist in sehr weiten Kreisen der Bevölkerung dieses unseres Landes selbstverständlich, angesagt und akzeptabel, die Lichtquelle so lange wie nur möglich eingeschaltet zu lassen. Alle gucken oder gucken auch nicht, aber das Gerät ist an. Deswegen haben Tageszeitungen eine ganze TV-Seite. Täglich. Und manche Sendungen sind für manche kommunalen Systeme dann auch noch ‹Kult›, und müssen schon deshalb geguckt werden, damit frau oder man halt sagen kann, daß man sie gesehen hat.
  • Das Fernsehen transportiert den Mythos, daß alles wirklich Wichtige im TV zu sehen sei: ‹As seen on TV!› Um am wirklich Wichtigen teilzuhaben, muß mensch also gucken. Da gibt es alle wirklich wichtigen ‹Informationen›! Nun, unabhängig davon, daß das TV keine Informationen übermittelt, läuft das ‹Internet› dem TV in dieser Beziehung den Rang ab. Deswegen gibt es mittlerweile parallel zum TV-Programm fast alle Formate auch im Internet.
  • Das Fernsehen bietet anthropologische Standardsituationen, in die sich jeder einigermaßen sozialisierte Mensch sofort einklinken und in denen er sich wiederfinden kann. Menschen können so vieles erleben und ‹mitfühlen›, was sie in ihrem eigenen Leben nicht zu erleben erwarten, von dem sie aber mal etwas gehört und gesehen haben. Alle einschlägigen Formate bilden eine natürliche Reihenfolge, die etwa folgendermaßen anzuordnen wäre: Herzblatt, Traumhochzeit, Talkshow zum Thema ‹Du stinkst mir!›, Bitte verzeih' mir, Ehen vor Gericht, Glücklich geschieden, Bitte melde Dich usw. usw. da capo ad libitum.
  • An den Inhalten (Formaten) kann es nicht liegen. Immer mehr Menschen gucken ja keine bestimmte Sendung, sondern ‹Fernsehen›. Das bedeutet, sie zappen sich ihr individuelles Sekundenmenü zusammen. Dauernd. Sobald ein ruhiges Bild kommt, ein ruhiger Satz, zappen sie weiter.
  • Das Fernsehen bietet vikariierende Verstärkungen. Stellvertretend für die eigene Person werden Helden belohnt und Bösewichter bestraft. In der Spätmoderne natürlich umgekehrt!
  • Da Formate längst zielgruppenspezifisch geplant werden, findet mensch mit Leichtigkeit ‹seine› Sendung und erfährt, was er anziehen, hören und somit kaufen muß. Und im Rahmen sozialer Vergleiche lernt mensch Maßstäbe und Skripte, eine Lebensführungsästhetik und die damit verbundenen Erzählstrukturen. Zu vielen angesagten Formaten werden zudem ganze Sekundärwelten angeboten: Von Merchandising-Produkten über Fanclubs, Zeitschriften und Internet-Homepages bis zu Ausflügen zu den Drehorten ist alles drin. Cleveres Marketing ist das. Die große Knete wird demnach auch gar nicht in die Sendungen (die Schauspielerinnen etc.) investiert, sondern ins Marketing. Es geht nicht um die Qualität des Formats, sondern um dessen Ausbreitung und Im-Gespräch-Sein.
  • Personen, die im TV auftreten, können leicht zu Vorbildern werden, obwohl sie nichts zu bieten haben, außer ihrer Sichtbarkeit. Die persönliche Wichtigkeit ist also ebenfalls ganz leicht dadurch zu erzielen, daß die eigene Person im TV zu sehen ist, und seien es auch nur 20 Sekunden. Diese 20 Sekunden werden selbstverständlich aufgezeichnet und – als Höhepunkt des eigenen Lebens – zu Hause immer wieder betrachtet.
  • Das Fernsehen macht süchtig, macht abhängig. TV-Junkies sehen zu viel und zu lange, unabhängig vom Formatangebot. Sie geben der Sucht nach, obwohl sie eigentlich vieles erledigen könnten (gerade die täglich wiederkehrenden Sendungen wie eben daily soaps dürften hochgradige Suchtpotentiale enthalten). Eines Tages erledigen sie dann kaum noch irgendetwas. Sie sind erledigt. Die schlimmste Lichtquelle der Welt regiert ihr Leben.
  • TV-Junkies vernachlässigen reale soziale Beziehungen und bevorzugen virtuelle Beziehungen zu ‹ihren› TV-Stars. Ken Gergen sagt es so: ‹Die grundlegende Frage ist nicht, ob Medienbeziehungen in ihrer Bedeutung den normalen alltäglichen Sozialbeziehungen nahekommen, sondern ob normale Beziehungen es mit der Macht der Kunstbeziehungen aufnehmen können. [4] Gergen, K.J. (1996): Das übersättigte Selbst: Identitätsprobleme im heutigen Leben. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.
  • Das Fernsehen strukturiert den Tag. Wo andere, offenbar gescheiterte Versuche, den Tag zu gestalten nicht mehr gelingen wollen, da besteht für Millionen entgrenzter GuckerInnen immerhin die Möglichkeit, ihren Tag am Fernsehprogramm auszurichten. Das gibt Halt: ‹Nach der Sendung A gehe ich immer einkaufen, dann bin ich rechtzeitig zu der Sendung B zurück. Dann mach' ich mit Sendung C und D weiter bis zu meiner Lieblings-Soap. Dann mach' ich mir schnell was in der Mikrowelle und gucke Sendung E.› Das ist ein Leben!
  • Visionen zur Kontrolle von Menschen, wie sie Orwell in seinem Roman ‹1984› noch hatte, sind heute offensichtlich unangebracht. Fernsehende Menschen neutralisieren sich selbst, sie richten ihr Leben final und ‹freiwillig› vor der Lichtquelle ein und schlagen ihre Lebenszeit tot. Der Fernseher gehört übrigens bei uns zu den unpfändbaren Dingen!
  • Ein faszinierender Gedanke: Die Menschen sehen gar nicht fern! Leicht fällt es, das Medium als Medium aufzufassen und zu glauben, daß es etwa dazu genützt wird, sich ‹Sendungen› anzusehen. Es könnte aber auch ganz anders sein. Nämlich so, daß im Zuge der postmodernen Gleichzeitigkeit der Fernseher zwar den ganzen lieben Tag lang läuft, aber kaum hingeguckt wird. Hier nun die ultimative und endgültige Liste der Tätigkeiten, zu denen der Fernseher heutzutage zwar flimmert, aber kaum Beachtung findet: Essen, Bügeln, Telefonieren, Putzen, Hausaufgaben machen, Schlafen (es gibt Menschen, die ohne Hintergrund-TV nicht schlafen können!). Ferner kann der Fernseher als Schutz vor Einbrechern benutzt werden, als Animationsmaschine für Parties, als Babysitter, als Beziehungsstabilisator (lieber glotzen statt streiten) und natürlich als Ablenker überall dort, wo es ‹langweilig› ist (im Waschsalon, in der Imbißbude, in der Bahnhofshalle, auf dem Szenekneipenklo etc.). Vom Medium und vor allem vom sozialen Ereignis hat sich das Fernsehen zu einer Hintergrundgeräusche produzierenden Lampe entwickelt. Wie einst das Radio, läuft das Fernsehen heute überall. Aber vielleicht, unsere dunkle Vermutung, nein, unsere stille Hoffnung, vielleicht guckt ja kaum noch jemand hin! Das wäre was! Und es gibt immer mehr Menschen, die ihren Flachbildschirm nur für die Betrachtung wunderbarer Serien nutzen, die also gar kein Interesse am TV-Programm haben.
  • Es gibt selbstverständlich auch Stimmen von hoch bezahlten und somit leicht verwirrten ‹Medienpädagogen›, die die schlimmste Lichtquelle der Welt gerne, bereitwillig und anhaltend verharmlosen, indem sie ihr gar therapeutische oder kathartische Funktionen zubilligen. Einige sprechen auch zynisch von ‹Empowerment›, welches in Talkshows transportiert werde. Damit ist gemeint, daß hier modellhaft Wege aufgezeigt werden, wie Menschen mit ihrer Welt besser klarkommen könnten. Das wüßten wir aber!


  • These 8: Faszination Fernsehproduktion

    Für normale TV-Junkies ist die eigene Teilhabe an einer TV-Produktion der ultimative Kick. Endlich einmal Zuschauer, also blindgläubiger Klatsch-, Brüll- und Nickesel oder pleureuse Kulisse zu sein, ist schon toll. Noch besser ist natürlich der eigene Auftritt, und die Ablieferung der vom jeweiligen Format geforderten menschlichen Standardgesten (siehe These 2).


    These 9: Kinder in einer Welt ohne Geheimnisse

    Kinder werden heute vor der schlimmsten Lichtquelle der Welt – oder vor den Geheimnissen der Welt der Erwachsenen – nicht mehr geschützt. Wir denken, daß Kinder heute mit 6–8 Jahren so etwa alles gesehen haben, was sehbar ist. Und mit dem Gesehenen werden Kinder in aller Regel allein gelassen. Kaum jemand hilft ihnen, die Bilderflut in Sinnsysteme zu gießen. Gleichzeitig erleben die Kinder selbst immer weniger in vivo. Die Kindheit verschwindet. Wie können Kinder untereinander noch konkurrieren? Indem sie sich (ähnlich wie in These 4) gegenseitig mit der Scheußlichkeit des Gesehenen zu übertrumpfen versuchen.

    Der wichtigste Punkt ist in unseren Augen jedoch, daß Kinder ganz ausschließlich nur ein Gesellschaftssystem kennenlernen – den finalen Kapitalismus – und nur eine mögliche Rolle in diesem System: Den Konsumenten. Kinder werden heute mit Hilfe der Werbung immer raffinierter in ‹Kaufentscheidungen› eingebunden. Der Druck der Werbung auf die Kinder wird an die Eltern weitergegeben. Schlimm ist, daß Kindern via TV ständig Angebote gemacht werden. Sie lernen eine Angebotserwartungshaltung. Und die führt dann später zur Anspruchsunverschämtheit: ‹Ohne neue Nikes kann ich mich in der Schule nicht mehr sehen lassen!›


    These 10: Die schlimmste Lichtquelle der Welt?

    Die eigentliche gelebte und erlebte Kultur wird in der Spätmoderne immer mehr von einer metastasierenden virtuellen Kultur überlagert. Dabei wird natürlich die ehemals konkrete Kultur von den vielerlei Maßstäben der virtuellen Kultur verdrängt und überlebt schließlich in wenigen zersplitterten Subkulturen. Konkrete Beziehungen zu echten lebendigen Menschen werden immer mehr als mühevoll, anstrengend, einschränkend und lästig erlebt, da die virtuellen Beziehungen zu irgendwelchen Serienheldinnen oder Moderatorinnen durch ihre Unkompliziertheit und Unverbindlichkeit verwöhnen. Wir denken tatsächlich, daß die schlimmste Lichtquelle der Welt die Menschen dazu bringen wird und jetzt schon bringt, monadisch und für sich, also solipsistisch die Zeit vor der Lichtquelle totzuschlagen. Wobei ein ganz wichtiges Ziel von Kapital und TV ist, dieses solipsistische ‹Nur-für-sich-sein› nicht als Einsamkeit zu empfinden. Bestes Beispiel für lange Zeit war der beeindruckende Kinospot für Eis: ‹Ich und mein Magnum!› Hier mußte sich ein postmoderner Mensch zwischen einem Kondom (für einen möglichen Geschlechtsverkehr) und ‹seinem› Magnum entscheiden. Es ist und war klar, was er wählen würde. Diese Entwicklung folgerichtig zu Ende gedacht, dürfte es in naher Zukunft keinen Geschlechtsverkehr zwischen wirklichen Menschen mehr geben. Ist einfach zu lästig.

    Bernd Guggenberger [5] Guggenberger, B. (1997): Das digitale Nirwana. Hamburg: Rotbuch. spricht in diesem Zusammenhang vom ‹Vampirismus der Bilder›. Fernsehbilder, schreibt er, ‹entziehen dem Leben Lebenszeit und Lebenskraft. Es ist mehr als nur unpräzise zu sagen, wir konsumieren Fernsehbilder. Es ist genau umgekehrt, die Bilder konsumieren uns – unsere Zeit und unsere Tatkraft.› Das Fernsehgerät als vampiristische Maschine – das Bild gefällt uns. Doch nicht nur ‹Lebenszeit und Lebenskraft›, denken wir, saugt der Televampir aus uns heraus. Was schwindet uns, was kann uns alles schwinden und verlassen, wenn wir (lang und häufig) des Saugers arglose Opfer sind?

    Das Finale:

  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt entzieht uns das Gespür für unsere eigenen Belange. Denn vor der flimmernden Mattscheibe, wo redselige Wichtel uns unentwegt Wichtel-Wichtigkeiten zu erzählen vorgeben, wird unser eigenes kleines Leben und Erleben allzuleicht ganz schwerelos. Das wirkt wie der Blick in den Nachthimmel: Dort der unendliche, gestirnblinkende Kosmos, hier das winzige enge Ich. Wie leicht verliert man oder frau da die Freude an den Kleinigkeiten, die der Alltag sind.
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt läßt die Kraft der Erinnerung schwinden. Viel zu viele Meldungen rauschen uns tagtäglich durch den Blick, viel zu viele Bilder. Wer könnte sie behalten (und wozu auch)? Man oder frau wage einmal das ernüchternde Experiment, und frage einen notorischen Gucker, was, sagen wir mal am vorvorigen Tage, ‹im Fernsehen kam›, z.B. in den Nachrichten. Ein Trümmerfeld der Erinnerung wird sich auftun, eine Gedächtniswüste, wie sie sonst nur der Demente kennt. Dies ist der Beweis, daß das Fernsehen keine Informationsquelle, sondern ein Lampe ist. Schade um das schöne Hirn!
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt raubt uns die Fähigkeit, Bilder zu betrachten und zu würdigen. Alles, was im Übermaße auf uns kommt, verliert an Wert. Die unglaubliche Bildverschwendung durch das Fernsehen hat eine bestürzende Inflation hervorgebracht. Mit schwindendem Augenlicht tasten wir nach groben und gröbsten Motiven: Es müssen schon zermatschte oder verbrannte Menschenkörper sein, damit unsere verschwollenen Lider sich noch einmal zitternd heben. Wir haben blinzeln gelernt. Bezahlt wird solche Lehre mit dem gleichgültig-kalten Blick der Müdigkeit. Anomie? Ja.
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt zapft uns die Wachheit ab. Wir sehen fern und gewöhnen uns an alles. Wir gewöhnen uns an alles und gewöhnen uns das Gähnen an. Wir sehen, gähnen, legen die Füße hoch, trinken ein Bier und schlafen ein. Ist doch egal, oder?
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt verschlägt uns die Sprache. Wir wollen nacherzählen, was wir sahen, doch es gelingt uns nicht. Zuviel ist passiert, zu schnell, zu schön, um wahr zu sein. Wer wäre fähig, ein Heer von Metaphern zu befehligen, das es aufnehmen könnte mit der Bilderinvasion. Die Bildbeschreibung, die Zeit braucht und Sorgfalt: Wie soll sie gelingen bei diesen Bildern, die so rasend und rauschend sind, farbig, vollgestopft, voll zickiger Bewegung, musikuntermalt und überkleistert mit den Stimmen rappeliger Vorsprecher? Wie lange dauert es, bis sich ein ganzer Satz entfaltet hat? Wie langsam knospt ein Sprachbild? Wir kapitulieren vor dem Fernsehbild. Die Sprache wird ärmer (man oder frau lege sein achtsam Ohr nur einmal an den Volksmund, einmal nur!). Es kommt der Tag, da das Bild uns sprachlos macht. Und wehe dann, wenn wir nur noch mit Bildern und Piktogrammen herumwedeln können und feststellen müssen, daß niemand versteht, was wir meinen.
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt klaut uns unsere eigenen Geschichten. Wir haben ja alles schon mal gesehen, gell? Was sollen wir also erzählen, vor allem, wenn wir etwas über uns erzählen? Im Zweifelsfalle sind die Fernsehgeschichten, die Fernsehbiographien, die Fernsehpersönlichkeiten doch interessanter. Wenn schon Geschichten, dann die Mären fremder Wesen. Die Sache hat allerdings einen Haken: Die geliehene oder geklaute Geschichte aus dem Fernsehapparat ist selten gut gebaut (also schlank und lang und spannend). So kommt es, daß unsere Geschichten einen ziemlich kurzen Atem haben, ja, daß uns sogar manchmal ganz die Luft ausgeht, wenn es heißt: ‹Erzähl' doch mal!›
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt nimmt uns unsere kommunale Welt. Mit dem Fernsehen handeln wir uns Fernen ein: Bilder aus aller Welt, globale Nachrichten, die Werbungen der internationalen Konzerne. Wer heute reist, der kann in aller Welt die selben Menschen treffen. Sie eint, nicht zuletzt, die Fernsehrealität. Wer von uns kennt nicht selbst vom entlegensten Fleckchen der Erde noch das ein oder andere Bild? Wir kennen uns aus. Überall, bis auf Zuhause. Globalisierung ist auch ein Fernseheffekt. Freilich bezahlen wir sie mit dem Verlust an kommunaler Identität. Die regionale Nuance dürfte in Kürze nur noch ein Werbeslogan sein. Dagegen sind auch kommunale Sender kein probates Mittel, denn sie kommen zu spät. Die Menschen, die im Lokalfernsehen auftreten, sind ja längst globalistisch sozialisiert. In ihrem klitzekleinen Sendeprogramm tun sie kund, daß auch sie zur großen weiten Welt gehören.
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt nimmt uns die Geheimnisse. Das Fernsehen klärt auf, zweifellos. Doch die Frage, ob die Idee der Aufklärung und des Alles-Wissen-Wollens wirklich so gut war, muß angesichts des medialen Alles-Gezeigt-Bekommens nicht mehr gestellt werden. Nichts auf unserem von Wissenschaft und Technologie zerrütteten Planeten geschieht noch, ohne auch im Fernsehen gezeigt zu werden. Geheimnisse, jene süßen verborgenen Pfründe, die aufzudecken die Wonne des Neugierigen und der Wissensdurstigen ist, werden kaum mehr hergestellt. Doch ach, wie öd' es ist, daß all die gut gemeinten Berichterstattungen der Moderne kein Geheimnis mehr gelassen haben, vor denen staunend und schaudern noch die lustvolle Erfahrung zu machen wäre, daß es etwas Unbekanntes gibt.
  • Die schlimmste Lichtquelle der Welt nimmt uns die Erlaubnis, zu sein. Nichts ereignet sich mehr, das nicht zuvor im Fernsehen gezeigt worden wäre. Wir konsumieren das Leben, wir (er)leben es nicht. Das einzige, was neben dem Betrachten der Lichtquelle noch Freude macht, ist Konsum. Wobei der Kaufvorgang sich längst von dem zu kaufenden oder dem Gekauften gelöst hat. Endziel des finalen Kapitalismus ist die finale Grundhaltung: Kaufen um des Kaufens willen. Und hier haben wir die große Synthese, das Ende: Fernsehen um des Fernsehens willen, Kaufen um des Kaufens willen. Das Verhalten hat sich von Formaten oder Produkten gelöst. Das Leben und die Welt: Sie sind Abfallprodukte geworden des farbigen Lichts.
  • Unsere Kritik an der schlimmsten Lichtquelle der Welt ist die Kritik der literalen Welt an der Welt des Bildes. Das Thema der Romantik war Bewußtsein. Das Thema der Moderne war Sprache. Das Thema der Postmoderne wird Ästhetik sein (Wolfgang Welsch). Wir fragen nach der Ästhetik der Bilder. Wobei wir glauben, daß die Urkraft des Bildes, also die schiere Wirkung eines bewegten Bildes im Vergleich zu einem Text noch viel zu wenig beachtet und entschlüsselt wurde. Daran müssen wir noch arbeiten. Denn Bilder haben eine eigene Grammatik. Eine Grammatik, die es noch zu untersuchen gilt: Ein Bild scheint a priori wahr zu sein. Ein Bild spricht für sich. Ein Bild kann sinnlos sein, aber nicht falsch (wie die Lüge). Bilder lügen nicht, obwohl sie selbstverständlich verlogen sein können. Das Bild bedarf keines Kommentars durch das Wort. Wir wissen nicht, wie die Bilder wirklich wirken. Wir wissen bloß, daß uns die Leute nicht zu erzählen vermögen, was sie gesehen haben. Bild frißt Wort. Was kann ein Satz schon ausrichten gegen ein Bild? Das ästhetische Denken der Spätmoderne braucht das Bild. Was ziehen Schulmädchen am ersten Schultag an? Eine höchst wichtige Frage, unbeantwortbar ohne ein Foto dazu.



  • Ins Netz gestellt am 27. Juni 2013
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