BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Im Auge des Spektakels» [1] Das dtv-Lexikon von 1997: «Auge, 4) Meteorologie: windstilles Gebiet im Zentrum eines Wirbelsturmes.»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Helmut Hansen
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«Realität ist alles, was man nicht selbst erfinden muss
und von dem man auch nicht weiß,
dass es dann eben andere für einen tun.»
(Anonym)

Vorrede

Wir leben in einer spektaklistischen Zeit, in einer Gesellschaft des Spektakels. Ein Tag, eine Stunde, ja eine Minute ohne Spektakel ist in diesem unserem Leben kaum vorstellbar. Guy Debord [2] Guy Debord lebte von 1931 bis 1994. Sein wichtigstes Werk «Die Gesellschaft des Spektakels» erschien 1967 in Frankreich. 1988 schrieb Debord einen Kommentar dazu. Beides zusammen wurde 1996 von Klaus Bittermann zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung herausgegeben. hat dies bereits 1967 gesehen. Und es ist schlimmer geworden, seitdem. Nicht nur in den ‹Medien›, dem ‹Unterschichten-TV› oder in der ‹Welt der Waren›, nein, insbesondere auch in der ‹Politik›. Denn das besonders Raffinierte und Unausweichliche am Spektakel ist, daß es gar nicht ‹in› den Medien, ‹in› der Warenwelt und ‹in› der Politik ‹stattfindet›, sondern daß diese als soziokulturelle Inszenierungen das Spektakel selbst sind.

Wie aber läßt sich nun die Gesellschaft des Spektakels beschreiben? Und wie können wir in einer Gesellschaft des Spektakels einigermaßen unbehelligt leben und überleben? Ja, gibt es denn überhaupt soziale Räume außerhalb des Spektakels? Gemach, lieber Leser und liebe Leserin, und der Reihe nach.


Über das Spektakel

«Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält.» (Debord, S. 21) [3] Die Zitate von Debord und die entsprechenden Seitenangaben beziehen sich auf: Guy Debord (1996) Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Und Hauptziel der gegenwärtigen Ordnung – so Debord – ist die Entfremdung der Menschen von sich selbst. Menschen sollen – gleichsam als Marionetten – machen, was sie machen sollen: Mehrwert schaffen für das Kapital, in die Glotze starren, und kaufen und konsumieren, was man ihnen vor die Nase hält. Denn der Marxismus ist tot! Der Kapitalismus hat gesiegt. So wird die vom Kapital hergestellte und spektaklistisch beworbene Warenwelt als Bild zu einem herrlichen Gefängnis, in dem das ganze Leben als permanente Vorstellung aufgeführt wird. Die Welt wird zu einem alles ausfüllenden Wirbel aus politischem Kasperletheater, medialen Inszenierungen, vermarktbaren Zukunftsidyllen, Werbefeldzügen, Kulturmanagement, Kunstklamauk, Sportevents, Identitätstrends oder was auch immer, und in all dem hat das Individuum weder einen eigenen Ort, noch kann es sich irgendwo dauerhaft orten. Denn in diesem Wirbel wird alles, was einstmals vielleicht direkt erlebt wurde, zur Repräsentation, zum vorgefertigten Bild. So wird der Mensch – vom einstmaligen Agenten – zum Zuschauer seines eigenen Lebens, zum Adressaten eines Bildersturmes, der nur eine Richtung hat. Es gibt keine Möglichkeit der Reaktion, geschweige denn der Einflußnahme. Besinnung? Besinnungslosigkeit! Muße? Trallala! Denken? Meinen! Dies schafft «die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält.»

Und das Spektakel läßt keinen sozialen Raum außerhalb des Spektakels zu. Ja, soziale Räume außerhalb des Spektakels sind gar nicht mehr denk- oder vorstellbar, weil das Spektakel eben nicht nur ‹Bilder› liefert, sondern vielmehr «ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen» stiftet. (Debord, S.&xnbsp;14)

Ein kurzer Blick in den Alltag, etwa das unbefangene Lesen einer regionalen Zeitung, zeigt uns, daß die gegenwärtige Ordnung eine Ordnung im Reich der Waren ist, und daß als einzig vorstellbare Welt eine Welt der Waren übrig geblieben ist. Und die Diktatur der Warenwelt führt direkt zu einer Welt des permanenten Spektakels, in dem keine Fragen mehr gestellt, sondern nur noch Antworten gegeben werden. Immer wieder neue Antworten. Immer wieder neue Produkte. Das sind die Antworten auf alle Fragen. Denn im Spektakel geht es um die Banalisierung aller lebenswichtigen Ereignisse und gesellschaftlichen Prozesse, um die lächelnde Ablenkung von allen wesentlichen Fragen, die die Gesellschaft eigentlich zu lösen hätte, ja um die Verwedelung aller Eigentlichkeit, um die Depersonalisation der Person. In der Gesellschaft des Spektakels dürfen und sollen die Gesellschaftsinsassen keine eigenen Erfahrungen mehr machen, sie sollen – als Endverbraucher oder Quotenpöbel – aus vorgefertigten und vorgelebten Erfahrungen wählen. Und dafür bezahlen. Natürlich. Es geht um «Zustimmungsbekundungen zu täuschenden Produkten». (Debord, S. 223) Wobei die Produkte Personen oder Waren sein können. Das ist gleich. Denn Personen werden zu Waren. Und da Waren verkauft werden, müssen Personen ebenfalls möglichst früh lernen, sich zu verkaufen. Sonst nix? Nein.

Was bleibt, was unbedingt bleiben soll, ist Zustimmung, Bestätigung, Ja-Sagen. Affirmation. Zu dem, was ist. Jetzt. Erwünscht sind Nickesel. Und die werden bei Laune gehalten. Um dies zu erreichen, stellt sich «das Spektakel […] als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: ‹Was erscheint, das ist gut; was gut ist, das erscheint›» (Debord, S. 17)

Wie unendlich wahr diese Beobachtung von Debord ist, wird uns klar, wenn wir darauf achten, welche verschiedenen ‹Nachrichten-Säue› jeden Tag durchs ‹Nachrichten-Dorf› getrieben werden und welche Nachrichten ausbleiben. Denn:
«Was nicht erscheint, ist schlecht. Wer den Raum des Spektakels betritt, kommt in ein wertfreies, tautologisches Reich der unendlichen Affirmation. Indem sie ständig glänzende Ereignisse offeriert, trocknet die Gesellschaft des Spektakels den Raum für Gedanken aus. Kritik wirkt wie Gemurmel übellauniger Kleingeister. Das Spektakel zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.» (Hans-Peter Kunisch) [4] Hans-Peter Kunisch: Die Sonne hat gesiegt. Widerstand im Medienzeitalter – Philosophen und Globalisierungsgegner entdecken den Situationisten Guy Debord neu. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 14. Juli 2001.
So ist es. Leider. Die Gesellschaft des Spektakels hat ihre ‹Kunden› fest im Griff. Gerade eben auch dann, wenn diese – auf Anweisung eines Animateurs – rhythmisch in die Hände klatschen dürfen, um so ihre heitere Zustimmung zu allem und jedem zu zeigen. Der Griff bleibt fest. Da wird nicht locker gelassen. Und wer erst einmal sich dem Spektakel ergeben und sich als Person aufgelöst hat, dem erscheint das Spektakel wie « […] die Sonne, die in dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es bedeckt die ganze Oberfläche der Welt und badet endlos in seinem eigenen Ruhm.» (Debord, S.&xnbsp;17) Ja, das Spektakel ist so etwas wie ein Geschmacksverstärker, der in jedes nur denkbare Gericht kommt. Nur, es ist gar kein Geschmack da, der verstärkt werden könnte. «Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.» (Debord, S. 21)

Die so erzeugte gesellschaftliche Passivität ist, so etwa Greil Marcus, zugleich Mittel und Zweck eines großen verborgenen Projekts, eines Projekts gesellschaftlicher Kontrolle. Das Spektakel wäre somit nichts weniger als die erfolgreiche Umsetzung der einzig wirklich effektiven totalitären Gesellschaftsform, wie sie Aldous Huxley skizzierte:
«Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben. Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe.» [5] Aldous Huxley: Brave new world. Das Zitat findet sich im Vorwort zur Neuausgabe von 1946.
Treffender kann die Herstellung von Hegemonie kaum beschrieben werden. Ersetzen wir das Wort ‹Propaganda› durch das Wort ‹Medien›, und ‹Zwangsarbeiter› durch ‹Konsumenten›, haben wir den sich tautologisch immer wieder neu erzeugenden finalen Kapitalismus. Die Herrschaft des Spektakels.

Noch einmal die Frage: Was bleibt? Die Antwort: Was bleibt, sind schlafende, entpersönlichte, entfremdete, gleichsam entkernte Personen, die jeden Tag aufs Neue dem Spektakel sehnsüchtig entgegen harren und die aus vollem Herzen über sich selbst sagen: «Ich bin doch nicht blöd!». Doch. Geworden.


Abschied von der Geschichte

In einer spektaklistischen Gesellschaft gibt es nichts mehr, was sich als Geschichte, als Historie bezeichnen ließe:
«Als erstes hatte es die spektakuläre Herrschaft darauf abgesehen, die Kenntnis der Geschichte im allgemeinen zu beseitigen […]. Das Spektakel organisiert meisterhaft die Ignoranz dessen, was passiert, und unmittelbar darauf das Vergessen von dem, was trotzdem hat ruchbar werden können.» (Debord, S. 205)
Was einmal war, wen interessiert das? Wie einmal etwas war, wozu sollten wir das wissen? Wie etwas geschehen konnte, wen geht das etwas an, wenn gleich meine Lieblings-Soap anfängt? Ja, Geschichte und insbesondere politische Historie sind überflüssig und lästig geworden. Helmut Kohls Diktum von der ‹Gnade der späten Geburt› ist längst überholt. Heute gibt es nicht einmal mehr ein Gestern. Denn was zählt, ist das Hier und Jetzt, der aktuelle Schluckauf irgendeiner Nicht-Nachricht oder irgendeines Nicht-Ichs. «Die Welt fängt jeden Tag von vorne an», hat mir mal ein Zeitgeistvertreter verraten. Könnte sein, denn in dem schönen Essay «So viel ‹Ich› war nie» hat Henriette Orheim geschrieben:
«In der A-Historizität der Postmoderne finden wir flüchtige soziale Räume, flüchtige soziale ‹Bindungen›, flüchtige Jobs. Das ‹Ich› wird zum ebenfalls flüchtigen, immer wieder neu herzustellenden Gesamtkunstwerk, dem es jeweils um den momentanen Zustand, um die aktuelle Befindlichkeit, um die soeben erlebte Aufregung oder Langeweile geht.»
Und, lieber Leser und liebe Leserin, genau um die Schaffung dieser Flüchtigkeiten und Befindlichkeits-Aufregungen geht es dem Spektakel. Da ist kein Platz mehr für Historie. Da ist überhaupt kein Platz mehr für irgendetwas. Nur noch für eins: Das Spektakel. Wo Einkaufen zum Erlebnis wird. Eben.

Auch die persönliche Geschichte, die Geschichte der ‹Ich›-Werdung, wird immer uninteressanter. Sie wird, wenn es denn mal sein muß, je nach Anlaß oder Auftrag immer wieder neu erfunden. Ein ‹Ich› ohne Geschichte hat natürlich auch keine Identität, ist nicht mit sich eins, denn das würde diskurrierbare Wurzeln voraussetzen. Die permanenten Ego-Behauptungen (‹Unterm Strich zähl ich!›), ja das ununterbrochene, tägliche Kreisen um das eigene ‹Ich›, zeigen die Sehnsucht nach Stabilität, nach etwas Festzuschreibendem, nach einem Geschichtsbuch des eigenen ‹Ichs›. Doch die Erzählungen zerfallen. ‹Flexible› Menschen (Richard Sennett) haben kaum mehr Chancen, sich eine stimmige, erzählbare Geschichte aufzubauen. Geschichtslos und orientierungslos wabern die vielen aufgeregten ‹Ichs› im Gewirr der sozialen Räume herum, die vom Spektakel willkürlich – und durchaus nach Plan – auf und zu gemacht werden.


Wissen und Können im Prekariat

Gewesenes, Historisches bezieht sich auch auf eigenes Lernen und Bemühen. Nur: Das ist in der Gesellschaft des Spektakels uninteressant. In der «ununterbrochenen Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält», kommen Passagen dazu, daß Menschen etwas wissen oder können sollten, nicht vor. Wozu auch? Abschied vom Wissen und Können? Ja, allerdings sind hier zwei Stränge zu unterscheiden, und wenn wir uns das stetige Auseinanderdriften von Proletenkultur und Elitenkultur betrachten, dann sind es sogar drei Stränge. Schauen wir zunächst auf den ersten Bereich, die immer weiter wachsende Unterschicht.

An anderer Stelle (siehe «Abschied von der Arbeiterklasse») hat Albertine Devilder beschrieben, wie das Spektakel der Medien immer mehr zu einem ‹White-Trash›-Spektakel wird, wie eine Proleten-Ästhetik immer mehr Räume des Schauens und Hörens besetzt. Das ist insofern wichtig, da in diesem Trash-Kontext Tag für Tag eingeübt und aufgesagt wird, daß gerade das Spektakel (etwa eine Casting-Show) die ganz einmalige Aufstiegschance aus dem Nichts bietet, ohne Wissen und Können, durch Zufall, durch schieres Glück, wie in einer Lotterie also, etwas ‹zu werden›. So sagt Beat Wyss irgendwo:
«Pop ist das Glücksrad der Unterschichten und nährt in unserem nun schon über 200 Jahre alten Kapitalismus den jung gebliebenen Traum, daß man es vielleicht vom Anstreicher zum Millionär bringt.» Und den vielen vielen Angehörigen der Unterschicht wird natürlich immer und immer vorgegaukelt, sie seien alle gleich «vor der Verheißung, es gäbe einen Weg nach oben für alle.»
In Romantik und Moderne (vgl. «Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne») blieb den Angehörigen benachteiligter sozialer Systeme nur die Teilnahme an den überaus beliebten Lotterien oder Wetten. Die gibt es selbstverständlich auch heute noch. Nur sind diese Glücksspiele heute vielfältiger (Lotto, Toto, Lotterie, Wetten), sie finden häufiger statt, und die Gewinne sind höher. Das Ziel kann hier nur sein, daß täglich große Präsentationen glücklicher Menschen geboten werden, die aus dem Nichts heraus zum Millionär geworden sind: «Nächste Woche Du!»

In der derzeitigen Gesellschaft des Spektakels ist zu diesen altbekannten Massenberuhigungsmitteln und Aufstiegsversprechen etwas Spezifisches dazu gekommen: Heute wird täglich eine Art Ich-Präsentations-Lotterie gespielt. Ganz zufällig kann einer unter Millionen ohne eigenes Zutun und ohne Rechtfertigung plötzlich ‹berühmt› werden, ohne etwas zu wissen, ohne etwas zu können. (Ich versage es mir ausdrücklich, Beispiele zu nennen.) Und diese Berühmtheit birgt das Versprechen unglaublicher finanzieller Erfolge. Das besonders Perfide an diesem Lebenschancen-Glücksspiel ist, daß der distanzierten Unterschicht vorgegaukelt wird, es genüge, um Erfolg zu haben, schlicht, der zu sein, der man eben sei. Henriette Orheim schreibt dazu in «Abschied vom Privaten (2): Über das Privatfernsehen»:
«Das Private als Mittel, um in der Öffentlichkeit wichtig zu werden. Das ist ein Selbstläufer. Insbesondere für schlichte Menschen, die hier ihre einzige Chance wittern, einmal im Leben auf der Sonnenseite stehen zu dürfen. Sich privat geben. Das ist authentisch. Das reicht. Das kann jeder. Die sich Vorführenden sollen so sein, wie sie sind. Reality eben.»
Und wenn irgendein Privatsender irgendein Casting für irgendein Format veranstaltet, und schiere Massen jugendlicher Menschen sich Stunde um Stunde in langen Schlangen an die angeblichen Lebenschancenverteiler herandrängeln und darauf warten, sich mit all dem, was sie nicht können, zeigen und entblößen zu dürfen, wie anders ist das zu erklären, als mit dieser verzweifelten Hoffnung, endlich einmal in dem großen Spiel und Spektakel von Zufall und Lebensglück zu gewinnen?

Wir können es ganz deutlich so sagen: Ortlose, entkernte Proletarier werden bei Laune gehalten durch das täglich bei irgendjemand eingelöste Versprechen, daß jeder es schaffen kann. Bis ganz nach oben. Durch die nonchalante Aussage in irgendeinem Entblößungs- und Verblödungsformat, er kenne Shakespeare nicht, hat sich ein Niemand zum Helden aller Unwissenden gemacht. Sein schneller Aufstieg und sein um so hurtigerer Fall könnten ein Lehrstück sein, wenn es denn eben so etwas wie Besinnung oder Nachdenken gäbe. Statt dessen wird die nächste Pop-Ikone durch die Formate gejagt. Denn das Spektakel selbst schläft nie. Es hütet den Schlaf der Menschen.


Wissen und Können in der Mittelschicht

Nun zum zweiten Strang, der sich mit der immer kleiner werdenden Mittelschicht beschäftigt. Neulich las ich, daß einschlägige Professoren der Pädagogik meinten, «Wissen habe für die Jugend keinen nennenswerten Prestigewert mehr.» Das gibt zu denken. Es könnte sein, daß die jüngeren Angehörigen der schwindenden Mittelschicht schlicht nicht mehr einsehen, daß sie sich nicht nur lange und intensiv mit einem Multiple-Choice-Wissen herumschlagen, sondern sich auch noch für den ‹Stoff› interessieren sollen. Sie wollen die paar vermeintlichen ‹Fakten›, die ihnen ein Bachelor-Studium nahe gelegt hat, unmittelbar darauf verwenden und verkaufen.

Und die vielen Studierenden aus der schwindenden Mittelschicht wissen, daß es in der Gesellschaft des Spektakels eben nur sehr wenig um Wissen oder Können geht, sondern eher darum, im Rahmen seines Selbst-Managements einen günstigen Eindruck auf wichtige Andere zu machen. Die entscheidenden neuen Sekundärtugenden scheinen also dahin zu gehen, sich selbst als Ware anzubieten, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, sich zu verkaufen, Interesse auf sich zu ziehen und Aufmerksamkeit zu erregen. Wissen und Können und langjähriges mühevolles Studieren machen im Meinen der Jugendlichen derzeit keinen persönlichen Wettbewerbsvorteil mehr aus. Das ist schon alles.

Wie ist es in der Gesellschaft des Spektakels dazu gekommen? Nun, dafür sorgen natürlich die Universitäten, die sich schon lange zu schlichten Fachschulen zur Einübung des finalen Kapitalismus entwickelt haben. Dies hat mindestens zwei Seiten. Zum einen hat die Wissenschaft eine fest umrissene Aufgabe in der spektaklistischen Gesellschaft: «Verlangt wird von ihr, augenblicklich alles Geschehende zu rechtfertigen.» (Debord, S. 231) Zum anderen geht es darum, die Wissenschaft selbst zu ökonomisieren, sie unter das Diktat der Ökonomie zu stellen: «Auf diesem Gebiet ebenso dumm wie auf allen übrigen, die sie mit der verheerendsten Unbedachtheit ausbeutet, hat die spektakuläre Herrschaft den riesigen Baum der Wissenschaft zu dem einzigen Zweck gefällt, sich einen Knüppel daraus zu schnitzen.» (Debord, S. 231)

So ist heute – ganz selbstverständlich – jeder Professor ein kleiner Unternehmer, der seine Lektion in Marktwirtschaft brav gelernt hat, seine eigenen Geschäfte am Markt betreibt und seinen Studierenden – selbst in einstmals hehren Studienfächern – erklärt, daß es nicht darum gehe, was sie später verkaufen, sondern daß sie etwas verkaufen. Kurz, sie sagen den Studierenden, daß es im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr um Inhalte gehe, sondern nur noch darum, daß uns irgendjemand irgendwelche Inhalte abkaufe. Daraus entstehe dann ein Wettbewerbsvorteil.

Tja, das entwertet die Inhalte, um die es in einem Studium eigentlich geht. Und wenn Inhalte gleichgültig, beliebig und austauschbar geworden sind, wenn die Studierenden unter Anleitung von zynischen postmodernen Professoren in den Inhalten nichts Entdeckenswertes, nichts intrinsisch Anregendes oder Aufregendes, nichts Wichtiges mehr sehen können, dann werden die Inhalte, dann wird Wissen zu etwas Sinnfreiem, das sich zwar lernen läßt und mit Hilfe dessen man sich ‹qualifizieren› kann, das aber letztlich nicht ernst zu nehmen ist (vgl. dazu den Abschnitt 2.2 in «Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne»).

In der Gesellschaft des Spektakels werden Lehrende zu Stoffdealern. Und der ‹Stoff› regt die innerlich unbeteiligten, coolen Lernenden weder auf, noch stößt er sie ab. Die Studierenden würden alles lernen, wenn es denn von ihnen verlangt würde, wenn es denn sein müßte. Sie lernen, etwas aufzusagen, von dem weder sie noch die Lehrenden etwas halten. Wundert es uns, daß immer weniger Jugendliche sich für die entseelten Inhalte interessieren? Wozu auch? Geht doch auch so.

Dieses ‹Geht doch aus so!› ist ein wichtiges und sich hurtig ausbreitendes Diktum der postmodernen «Low-Frustation-Generation». Die Fragen sind hier: Wie schlängele ich mich mit möglichst wenig Aufwand und Anstrengung durch mein Leben? Wie erreiche ich einen riesengroßen Gewinn, ohne viel zu investieren? Natürlich wäre es bei der Beantwortung dieser entscheidenden Fragen ganz nett, etwas zu wissen, nur macht Wissen selbst eben keinen Spaß, wenn der Erwerb desselben mühevoll ist. Die zu Hause wohnende und von der Mutter umsorgte «Low-Frustation-Generation» kann sich was besseres vorstellen, als sich um Wissen zu bemühen.

Schauen wir uns schnell ein Call-Center an, in dem ‹Fachkräfte› aus dem Prekariat und der Mittelschicht für ein paar Euro die Stunde Fachwissen vortäuschen. Diese ‹Fachkräfte› kommen mit sieben bis acht Standardantworten, die zudem auf ihrem Bildschirm erscheinen, durch ihren Arbeitstag. Was müssen sie wissen? Was müßten sie gelernt haben? Nichts. Das ist die Lösung und das Problem. Wenn wir unsere Position im Markt kennen, können wir unser Wissen und Können genau auf diese beschränken und auf den Rest gut verzichten. Ist doch toll, oder?


Wissen und Können in der ‹Elite›

Werfen wir noch einen Blick auf die immer kleiner werdende Elite in der spektaklistischen Gesellschaft. Hier wissen die Jugendlichen, daß sie studieren, daß sie Ausbildungstitel wie einen Doktor sammeln müssen, um ‹dazu gehören› zu dürfen. Natürlich sehen sie die Inhalte als genau so beliebig und sinnlos an, wie die Jugendlichen der schwindenden Mittelschicht. Nur haben sie kapiert, daß Wissen und Können eine bedeutende – auf den Markt zielende – Aufsagepragmatik haben. Ein ‹Master of Business Administration› zum Beispiel macht nicht deutlich, daß da jemand genug gelernt hat, um als Allzweckwaffe für die spektaklistische Herrschaft der ‹Herren des Wörterbuchs› arbeiten und diese aufrechterhalten zu dürfen. Nein, klar wird, daß dieser jemand sein Denkvermögen so begrenzen ließ, daß ihm das einseitige Dienen auch noch Spaß macht.

Fazit: Wissen um des Wissens willen, intrinsische statt extrinsische Motivation zum Erwerb von Wissen, scheint es heute immer weniger zu geben. Die Freuden des Wissenserwerbs, die Freuden, ein kleines Gebiet punktuell zu überblicken, etwas rein Geistiges verstanden oder geschaffen zu haben, scheinen nicht mehr mitteilbar zu sein. Zumindest der Sage nach diente Wissen und Können früher einmal der individuellen und kulturellen Entfaltung. Heute ist es ein von Wissen und Können gereinigter Marktwert, auf den alle schielen. Das Wort ‹Bildung› wage ich erst gar nicht zu erwähnen.

Wenn es überhaupt noch einen Bereich gibt, in dem Wissen und Können von der spektaklistischen Herrschaft wohlwollend zugelassen und erwartet werden, dann ist das ein Wissen um Dinge, die jeden Zusammenhang verstellen, Spektakel-Wissen: Also ein Wissen um sinnlose Formate des Spektakels selbst (Namen von Serienstars, Quizfragen etc.). Ein Zerstäuberwissen gleichsam, mit dem man ganz plötzlich Millionär werden kann. Und ein Können wird akzeptiert, wenn es sich völlig sinnlos und abgehoben von der gesellschaftlichen Wirklichkeit präsentiert: Also ein Können, in dem etwa ein Lastwagen von einem Kran auf vier rohe Eier gehoben wird, oder jemand vierzig verschiedene Farbbleistifte an deren Geschmack erkennen kann. Ein Zerstäuberkönnen gleichsam. Applaus!


Der allfällige Rekurs auf ‹Gefühle›

In der Gesellschaft des Spektakels spielen ‹Gefühle› und ‹Meinungen› die Hauptrollen. Gibt es jenseits dieser beiden kulturell definierten Monolithen überhaupt noch irgendetwas? Ich glaube nicht. Denn theoretische Überlegungen, Bedachtsamkeiten, Achtsamkeiten, Analysen, Gedanken, Ideen (vgl. dazu «Abschied aus der Welt der Ideen») sind in der Gesellschaft des Spektakels überaus langweilig. Sie werden auch – aus leicht nachvollziehbaren Gründen – in allen einschlägigen Medien sofort bösartig sanktioniert. Sie stören den Schlaf. Was in der Gesellschaft des Spektakels noch interessiert, was als Äußerung noch zugelassen ist, sind Meinungen und Gefühle und Meinungen über Gefühle. Ich möchte mich hier auf die «Gefühle» beschränken. (Über «Skizzen [zu] einer Psychologie des Meinens» wird an anderer Stelle berichtet.)

Absolut angesagt ist heute in jedem nur vorstellbaren Kontext der individuelle Bericht über ‹Gefühle›. Wir können sagen, daß heute nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit verhandelt wird, sondern nur die Wirklichkeit der Gefühle. Zunächst veranlaßt, verursacht, injiziert die Gesellschaft des Spektakels ein Ereignis, ein Erlebnis, eine Aufregung. Dann werden Menschen, die ein bestimmtes Spektakel erlebt haben, nach ihren Gefühlen und nur danach gefragt. Eine der beliebtesten Fragen, ja, die Frage Nr. 1 in allen spektaklistischen Formaten in ‹Funk und Fernsehen› ist und bleibt: «Was fühlten Sie, als ...»

Ein ‹Gefühl› darf diese Aufregung aber erst dann genannt werden, wenn es eine Meinung über die Bedeutung dieser Aufregung gibt. Natürlich hat die Wortwahl dabei streng einem von der Gesellschaft des Spektakels genehmigten Zentralreden-Thesaurus zu folgen. Am beliebtesten sind Stammeleien, also Äußerungen, in denen die Bedeutung der Aufregung nicht benannt werden kann, in denen der Aufregung die Worte nicht folgen können: «Wahnsinn! Super! Toll! Einmalig! Ein Schock! Schlimm!» Dazu paßt auch sehr gut: «Also ich weiß noch gar nicht, was ich jetzt sagen soll!» Erlaubt ist auch: «Ich glaube, ich werde erst nächste Woche so richtig mitkriegen, was ich jetzt erlebt habe!» Schön und brav.

Wichtig in allen Kontexten der Gesellschaft des Spektakels ist es also, eine Meinung über eigene Gefühle zu haben und zu äußern, und nur das. Noch wichtiger ist es, den entkernten Menschen einzureden, daß sie ganz persönlich, ganz individuell ihre ganz ihnen eigenen Gefühle haben, die ihnen niemand nehmen kann und will. Das angeblich individuelle Gefühlsurteil ist also für die spektakuläre Herrschaft so wichtig, da es als letzter Ankerpunkt einer Illusion des ‹Ichs› übrig bleiben soll. Und da die Menschen in dieser Gesellschaft diesen Spielball der Gefühle so gerne aufnehmen, lassen sie das Nachdenken über und das Besinnen auf Inhalte aller Art. Ist das nicht wirklich genial geregelt? Goethe sagte einmal: «Der Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern.» [6] (Zitiert nach: Die Fackel Nr. 313/314, S. 36, vom 31.10.1910) Die Gesellschaft des Spektakels braucht ganz viele Dilettanten!


Im Alltag des Spektakels

Lieber Leser, liebe Leserin, in diesem Abschnitt möchte ich – mit Hilfe eines kleinen Beispiels – in den Alltag des Spektakels hineinleuchten. Ich hatte für diesen Essay zunächst eine ganze Reihe von spektaklistischen Standardsituationen und Inszenierungen ausgewählt, in denen deutlich wird, wie die spektaklistische Herrschaft permanent darauf bedacht ist, die gegenwärtige Ordnung aufrechtzuerhalten, ein ‹falsches› gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen herzustellen und sie im übrigen in den Schlaf zu wiegen. So hatte ich eine dieser üblichen entsetzlichen Talkshows analysiert, und war auf eine beeindruckende Szene gestoßen: In dem ganzen Durcheinander von Beschimpfungen, Verspottungen, Beleidigungen und sinnfreiem Geschrei sagte plötzlich aus heiterem sonnigem Studio-Himmel ein Zuschauer einen ruhigen klugen Satz, der nicht nur deutlich machte, was da los war, sondern der auch noch das Ziel der Sendung (das unbekümmerte Aufeinanderhetzen von Menschen) beklagte. Für eine Sekunde war es bedrohlich still. Dann jedoch besann sich die ‹Moderatorin› als ‹Sonnenhüterin› auf ihren Auftrag in dieser Gesellschaft des Spektakels und sagte: «Ey, Du bist wohl Psychologe!?» Brüllendes, befreiendes Gelächter und Gejohle der versammelten und längst deindividualisierten und entkernten Zuschauermeute war die Antwort. Der Schlaf durfte weiter gehen. Die Ordnung war gewahrt. Geht doch. Ist einfach.

Ich möchte im folgenden nun eine klassische, ja absolut prototypische Standardsituation näher betrachten. Es böten sich viele Inszenierungen aus Politik und TV an, denke ich etwa an die Auftritte eines begnadeten Plagiators, doch das im folgenden geschilderte und nun Jahre zurückliegende Spektakel birgt alles, was im Alltag des Spektakels eigentlich beobachtbar sein kann. Fangen wir an:

Da ist zunächst einmal ein Moderator, der sich schon als bewährter Hüter des Schlafes ausgezeichnet hat und von dem im Sinne des Spektakels noch viel zu erwarten sein wird. Dieser Moderator lädt nun zwei Frauen ein: Eine junge Pop-Ikone, einen ‹Star›, nennen wir sie einfach mal ‹Verona›, die im hoch gelobten Rufe steht, gerne die Rolle eines ‹Sexualobjektes› und eines ‹Dummchens› zu spielen; und eine ältere Frau, auch eine prominente Medienfigur, nennen wir sie schlicht ‹Alice›, die im Rufe steht, eine kluge ‹Feministin›, ja eine ‹Emanze› zu sein. Die beiden Frauen unterscheiden sich nicht nur ganz erheblich hinsichtlich ihres Alters, ihres Aussehens und ihrer Kleidung, sondern insbesondere auch dadurch, daß Alice, die wesentlich ältere, mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, mit Absichten, mit Überzeugungen, ja mit Diskurswünschen in diese Sendung geht, während die jüngere Frau genau weiß, was von ihr erwartet wird: Die Zerstörung jedes aufkommenden Diskurses, und das immer wieder. Der Moderator hofft nur eins, daß sich durch diesen großen Unterschied zwischen den beiden eingeladenen Frauen für die Zuschauer seines Formates eine schöne Belustigung ergibt und für seine TV-Firma eine profitable Einschaltquote.

Da ist also Alice, sie will – unverständlicherweise – mit Verona ins Gespräch kommen, und dies in einem Medium, in dem es keine Gespräche geben darf. Sie scheitert. Natürlich. Aber warum beteiligt sie sich an diesem Spektakel? Ist sie längst ein Teil desselben? Ja. Weiß sie das? Nein.

Und da ist Verona, der Star. Was ist ein Star? «Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem seichten, scheinbaren Leben […].» (Debord, S. 48) Verona weiß, was von ihr als Pop-Ikone erwartet wird. Da ist sie alles andere als dumm. So sieht sie ihre Hauptaufgabe an diesem Abend darin, einen großen Teil ihrer sekundären Geschlechtsmerkmale zu zeigen und eine gute Laune zu haben. Nur so ganz nebenbei, ja, als wäre das angesichts ihres Aussehens, angesichts ihrer physischen Anwesenheit gar nicht mehr bedeutsam, weigert sie sich beharrlich, einen Sinn in den Sätzen zu sehen, die sie zu hören meint. Muß ein Star hören können? I wo. Muß ein Star sprechen können? I wo. Muß ein Star kommunizieren können? I wo. Muß ein Star überhaupt irgendetwas können außer ‹Aussehen›? I wo:
«Die extreme Zerstörung der Sprache kann hier platt als ein offizieller positiver Wert anerkannt werden, denn es geht darum, eine Versöhnung mit dem herrschenden Zustand der Dinge zur Schau zu tragen, in dem die Abwesenheit jeglicher Kommunikation freudig proklamiert wird.» (Debord, S. 165)
Verona geht nicht ein einziges Mal auf einen Gedanken von Alice ein. ‹Emanzipation›? Ja wieso das denn? Jeder kann doch tun und lassen, was er will! ‹Frauenbewegung›? Ja wieso das denn? Jeder kann doch tun und lassen, was er will! ‹Vorbildfunktion›? Ja wieso das denn? Jeder kann doch tun und lassen, was er will! Verona weigert sich überaus erfolgreich, so etwas wie eine Geschichte der Frauen anzuerkennen, eine Entwicklung, eine Bewegung von etwas zu etwas, von einem ‹früher› zu einem ‹heute›. Denn ‹Geschichte› gibt es in der Gesellschaft des Spektakels nicht, nur ein Hier und Jetzt, das im nächsten Moment schon wieder vorbei, aber nicht Geschichte ist.

Ganz besonders interessant ist, wie Verona sich permanent bemüht, deutlich zu machen, daß Wissen und Können heute keine Rolle mehr spielen, um in einem spektaklistischen Medium bejubelt zu werden. Ja, sie wirft Alice die Meinung entgegen, was sie, Alice, denn davon habe, über Wissen und Können zu verfügen, wenn sie so aussehe wie sie aussähe. Diese Gemeinheit, diese Unhöflichkeit bringt den größten Jubel. Verständlich.

Und Verona beschwört in einem lichten Moment den schon in dem Essay ‹Abschied von der Eigenbewegung› skizzierten ‹Abschied vom homo politicus›, indem sie Alice das Recht bestreitet, für jemand anderen, für ‹die Frauen› sprechen zu dürfen. Denn schließlich kann ja jeder nur für sich sprechen. Und sie, Verona, lasse sich von niemandem bevormunden. Auch dies verursacht großen Jubel bei den allzeit Bevormundeten. Und festigt Veronas ohnehin unbestrittenen Status als Star. Verona darf wiederkommen. Fazit:
«Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich wie bei den anderen. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.» (Debord, S. 49)
So ist es. Und wie großartig von Debord beobachtet und verstanden! Wir sollten uns auch vor Augen führen, was es heißt, sich diesem Gehorsam gegenüber dem Spektakel zu widersetzen. Gelegentlich wagt es ja eine prominente Schauspielerin oder ein Künstler, sich den sinnlosen und albernen Fragen eines ‹Sonnenhüters› zu entziehen, indem sie auf die Sinnlosigkeit oder Albernheit eben dieser Fragen verweisen und sie damit zurück geben. Es dürfte klar sein, wer hier anschließend dem gnadenlosen ‹Shitstorm› aller Gehorsamen ausgesetzt sein wird. Es wird nicht der ‹Sonnenhüter› sein. Und mit Debord verstehen wir, warum.

Und natürlich haben solche spektaklistischen Veranstaltungen Auswirkungen:
«Eine weitere Ursache ist, daß mit dem wachsenden Respekt vor dem, was im Spektakel spricht und für wichtig, reich und glänzend, für die Autorität schlechthin gehalten wird, sich bei den Zuschauern die Neigung breitmacht, genauso unlogisch wie das Spektakel sein zu wollen, um einen individuellen Abglanz dieser Autorität zur Schau zu tragen.» (Debord, S. 221)
Und dieser Abglanz ergibt sich für den Einzelnen, indem er sich eben mit sich selbst und seiner Ich-Präsentation beschäftigt und alles, ‹was weiter führen könnte›, fort läßt. Die Sonne des Spektakels scheint über dem, der klar und – wenn nötig auch – militant deutlich macht, daß alles auf der Welt einen Wert nur hat in Bezug auf ihn selbst, nicht in Bezug auf die Welt an sich oder darauf, wie sie einmal war oder werden wird. Denn wie die Welt da draußen ist und war und werden wird, das erklärt uns die spektakuläre Herrschaft Tag für Tag. Um ein solches Wissen brauchen wir uns nicht zu bemühen, sollten wir uns nicht bemühen. Finis.


Im Auge des Spektakels

Debord hat Recht. Es gibt keinen Raum außerhalb des Spektakels, außerhalb der Grimassen, außerhalb der Affirmation. Ich denke, daß das Spektakel so mächtig ist, weil es – fast im quantendynamischen Sinne – gerade nicht örtlich ist, weil sich das Individuum also nicht mehr orten kann, weil permanent neue Attraktoren in der virtuellen Umgebung herauspoppen, die die Menschen von sich fort auf immer neue Umlaufbahnen zerren. Und überall muß mensch dabeisein, teilhaben, bis es ihn – als Individuum – nicht mehr gibt. Das ist der Sieg der spektaklistischen Herrschaft.

Das Spektakel ist wie ein Wirbelsturm, wie ein Tornado. Es reißt alle sozialen Räume und damit alle Bewohner mit sich fort, als wären es Behausungen und Menschen aus Pappe. Doch in jedem Wirbelsturm, in jedem Tornado, gibt es ein Auge. Und während es ringsherum wirbelt und spektakelt, geht es im Auge des Wirbelsturms ruhig zu. Ganz ruhig. Stille. Frieden.

Wie wäre es, wenn wir versuchen, uns vorzustellen, es ließe sich im Auge des spektaklistischen Wirbelsturmes überleben? Klar, der Wirbelsturm bewegt sich und wandert weiter. Also müßten wir uns auch bewegen (Geistig? Uns selbst immer wieder disziplinierend?), müßten uns selbst gegenüber klar und wahr bleiben, um in der Stille des Auges bleiben zu können. Und wenn es schief geht, wenn wir wieder einmal vom Spektakel erfaßt und in die Dummheit der Affirmation hinein gewirbelt werden? Dann versuchen wir eben wieder das Auge des Wirbelsturms zu erreichen. Bleiben wir dort ungeschoren?

Ein Wirbelsturm hat sich irgendwann ausgewirbelt. Das Spektakel aber spektakelt immer weiter. Daß sich das Spektakel angesichts dieser geistesfernen Zeiten irgendwann einmal ausspektakelt hat, ist nicht zu erwarten. Es wird immer weiter wirbeln. Die Herrschaft des Spektakels wird weiter Menschen von sich selbst weg wirbeln, ihnen das Bewußtsein verwirbeln, ihnen ihre Persönlichkeit nehmen, ihnen ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Kultur rauben, ihnen die Notwendigkeit und den Reichtum von Wissen und Können abschwatzen und sie an täglich neue Konsumansprüche fesseln. Dafür dürfen sie dann allerdings ihre Gefühle behalten und Meinungen aufsagen, falls sie diese der größten Schmierlappenzeitung desselben Tages entnommen haben. Super.

Sich an den Rand des spektaklistischen Wirbelsturmes zu bewegen heißt, mitgerissen zu werden. Im Auge des Spektakels zu leben heißt, sich einen Ort zu schaffen in der kommunalen – nicht nur medialen – Ortlosigkeit, heißt Einsamkeit, da die vielfältigen Anknüpfungspunkte, mit anderen Menschen über das Spektakel zu fabulieren, abgeschnitten werden. Nur ganz wenige Menschen bleiben übrig, die ebenfalls versuchen, im Auge des Spektakels zu überleben. Nur ganz wenige, die zu kommunizieren und zu diskurrieren in der Lage sind, ohne sich auf das dauerwirbelnde Spektakel beziehen zu müssen. Die einen Reichtum haben, in sich.

Leider zeigt sich die Allmacht des Spektakels auch gerade darin, wie es mögliche Verweigerungshaltungen vereinnahmt. Erzeugt das Spektakel irgendwo ein kleines Flämmchen des Widerstandes, wird dieser sofort gezielt vereinnahmt, eingekauft, aufgesogen, um sich dann als Spielart des Spektakels wuchernd auszuweiten. Eine Form des Spektakels abzulehnen heißt also, eine neue Form des Spektakels zu schaffen. So ist es eben eine spektakuläre Handlung, ergo eine Nachricht mit höherem Informations- und Unterhaltungswert, wenn Protagonisten der Popkultur sich zum Beispiel plötzlich der ernsten Literatur oder Musik zuwenden, statt weiter Teil des spektakulären Popmonsters sein zu wollen. Und so werden sie durch ihre dumme Verweigerungshaltung, die eigentlich ja ohnehin nur der poppige Versuch ist «anders» sein zu wollen, noch nahrhafteres Futter für das Popmonster, dem sie eigentlich entkommen wollten.

Im Auge des Spektakels leben? Ein ‹richtiges› Leben im ‹falschen› führen? Wir haben keine Chance. Aber wir nutzen sie. Versuchen wir's.



Kommentare:


Lieber Helmut,
Deine Zeitbetrachtungen durch die spektakuläre Brille Guy Debords haben mir sehr gefallen. Besonders die Analyse der Funktion einer medial inszenierten Gegenüberstellung der Feminismus-Ikone Alice Schwarzenegger mit der Vermarktungs-Ikone Verona Croft finde ich sehr erhellend, stellenweise gar erleuchtend. Zwei Dinge sind mir durch Deinen Essay besonders klar geworden:
Zum einen weiß ich endlich, warum ich Moderatoren so verabscheue. Die eigentliche Aufgabe von Moderatoren, insbesondere von Talkshowmoderatoren ist es ja nicht, eine Diskussion zu leiten, Themen anzuregen, geschweige denn Gespräche zu führen, die eigentliche Aufgabe der Moderatoren, ihre spektakuläre ‹Job Description› sozusagen, ist es, die «ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält», die Zentralrede also, den passiven Zuschauern zu vermitteln, und dabei gleichzeitig aufzupassen, daß jede Form der Widerrede gegen das Diktat dieser ununterbrochenen Rede im Keim erstickt wird. Der ‹Große Andere› duldet keinen Widerspruch, und sein Heer der Moderatoren ist gleichzeitig Mittler und Hüter der Zentralrede, die die Gesellschaft in den Schlaf wiegt. Wenn mir diese etwas blümerante Ausdrucksweise gestattet wird.
Zum anderen ist mir erst jetzt wirklich klar geworden, wie perfide, um Dein Wort zu gebrauchen, die Taktik eigentlich ist, die Menschen zu entkernen, und ihnen gleichzeitig als Doktrin einzubleuen, daß sie so sein sollen, wie sie sind. Wow! Da müssen gewiefte Strategen am Werke gewesen sein, gemeiner geht's nimmer. Aldous Huxley würde sich im Grab umdrehen, wenn er nicht schon lange durch die Pforten der Wahrnehmung entschlüpft wäre. Ob's genau paßt weiß ich nicht, aber seitdem ich glaube, diese Taktik verstanden zu haben, habe ich die ganze Zeit einen Werbespot für kalorienarme Margarine in Auge und Ohr. Slogan: «Ich will so bleiben wie ich bin!» Und aus denn Tiefen des Offs kommt ein gleichzeitig gebietender und einschläfernder Singsang «Du darfst». Das ist schlau, das ist superschlau. Nicht «Du mußt!», sondern «Du darfst». Und die junge charakterlose Frau kauft vollkommen freiwillig das beworbene Produkt, denn die junge charakterlose Frau kann ja tun und lassen, was sie will. So einfach ist das heutzutage.
Geruhsame Grüße, Peter

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Lieber Helmut,
eine ‹Gesellschaft des Spektakels› und eine ‹spektakuläre Herrschaft› haben schon viele große Menschen – mit einer mir eher unvorstellbaren Weitsicht – vorhergesehen. Und sie haben dabei insbesondere immer auf die schändliche Rolle der ‹Medien› hingewiesen. Wie Karl Kraus sich am korrupten ‹Preßwesen› Wiens abgearbeitet hat, wird für alle Zeiten unvergeßlich bleiben. Für die wenigen, die das nicht vergessen wollen.
Als ich Deinen Essay «Im Auge des Spektakels» las, fiel mir als erstes allerdings nicht Karl Kraus ein, sondern eine Stelle bei Heidegger, die mich immer sehr – tja, klingt komisch – getröstet hat. Sie stammt aus einer Vorlesung  [6] Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Sechste Auflage 1998. Max Niemeyer Verlag Tübingen. Seite 28–29., die Heidegger im Sommersemester 1935 (!) an der Universität Freiburg i. Br. gehalten hat. Hier ist das Zitat, ich schenke es Dir:
«Wenn die hinterste Ecke des Erdballs technisch erobert und wirtschaftlich ausbeutbar geworden ist, wenn jedes beliebige Vorkommnis an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit beliebig schnell zugänglich geworden ist, wenn man ein Attentat auf einen König in Frankreich und ein Symphoniekonzert in Tokio gleichzeitig ‹erleben› kann, wenn Zeit nur noch Schnelligkeit, Augenblicklichkeit und Gleichzeitigkeit ist und die Zeit als Geschichte aus allem Dasein aller Völker geschwunden ist, wenn der Boxer als der große Mann eines Volkes gilt, wenn die Millionenzahlen von Massenversammlungen ein Triumph sind – dann, ja dann greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die Frage: wozu? – wohin? – und was dann?»
Danke für Deinen Essay!
Thomas aus Hagen

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helmut,
dass du bei der x-ten reanimation von guy debord mitspielst langweilt uns nur, deine beobachtungen sind sogar mehr oder weniger treffend. vollkommen unerträglich ist aber dein in die welt posaunter monadischer eskapismus. meinst du wirklich, alles was bleibt ist ein hinterherhecheln hinter dem auge des sturms? ruhe in frieden! damit bist du mindestens so passiv wie all die anderen sofakartoffeln. noch schlimmer, während die sofakartoffeln selbst keinen zusätzlichen wirbel verursachen, blähst du dich und deine solipsistische einsamkeit in schäbiger männermanier zur letzten instanz auf. das ist nichts als dein eigenes problem, also halt doch besser die klappe. aber nein, du gehst noch weiter, wieder typisch mann, du rufst auch noch andere dazu auf, dir auf deinem bemitleidenswerten weg zu folgen. ist nicht so toll allein in der einsamkeit, oder was? kleiner führer, herzlich willkommen bei der reaktion. vielleicht sollen wir dir noch einmal erklären, was es mit der hegemonie auf sich hat? nein, dazu bist du zu sehr in deinem individualistischen selbstmitleid verstrickt. schaufel ruhig weiter dein eigenes grab, aber bitte, du wirkst nicht so dumm, lass dich nicht noch einmal dazu verleiten, andere mit in deine gruft zu zerren.
kommitte zur gründung der dritten situationistischen internationalen
kollektiv frankurt-rödelheim


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Lieber Helmut,
schön, dass es nach der Sommerpause endlich wieder einen neuen Artikel von Euch gibt. Ich glaube auch wirklich einige Gedanken von Guy Debord jetzt besser zu verstehen, ist doch gut wenn solche abstrakten Sachen in verständlichere Worte gekleidet werden. Wieso aber gehst Du überhaupt nicht auf die Wissenschaft der Herstellung von Situationen ein? Das fehlt mir besonders im Schlußteil, wo Du zurecht bemerkst, dass wir theoretisch keine Chance haben, aber praktisch nichts anderes tun können, als den Versuch zu unternehmen, diese Chance zu nutzen.
Denn, dass ist jetzt eine kleine Kritik, die Chance liegt ja nicht auf der Strasse und muss nur gesucht und aufgehoben werden, gerade Ihr als Konstruktivisten müsst doch Wert darauf legen, dass solche Chancen immer wieder neu und aktiv hergestellt werden wollen. Die ‹Chance nutzen› würde also vielmehr heissen, eben diese Gelegenheit, in Form einer Insel fern des Spektakels, selbst zu erschaffen. Ich denke, dass wir genau diese Insel in anderen Worten in der ‹poetischen Konstruktion von Situationen› (Guy Debord), dem ‹Garten der Befreundeten› (Botho Strauss) oder auch in der ‹temporären autonomen Zone› (Hakim Bey) finden.
Frohes Schaffen,
Edna

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lieber helmut,
ich lese deinen abgesang und denke, oje, er beobachtet – wie immer – sehr scharf. menschen leben ihre sehnsucht nach ablenkung aus, indem sie konsequent jeder «eigenen» sinnlichen erfahrung davonrennen und sich statt dessen in wohldefinierte medial verdrahtete gefühlscontainer einsperren. wie du schreibst, merken sie leider nicht, dass sie sich einem einflussbereich aussetzen; sie pfropfen sich lieber – als totale desensualisierungsmaßnahme – ihre kopfhörer in die ohrmuscheln und hören robbies «let me entertain you». sie wählen nicht aktiv, welchem kommunalem system sie sich zugehörig fühlen wollen, sie lassen sich treiben; es könnte postmoderner escapismus sein, wäre da nicht das detail, dass dieser gar keinem wunsch entspringt, sich z.B. der frage nach einem «wozu?» zu entledigen. denn man ist ja nichts anderes als dieses plastikleben gewöhnt, es gilt als alltag, man verabschiedet sich auch von nichts, denn war mal was jenseits des spektakels? es existiert ja nicht einmal ein dazu passender suchbegriff, um sich im netz ein update zu holen.
bei der lektüre bin ich über zwei ausdrücke gestolpert, die mir missfallen: ‹entkernte› persönlichkeit und ‹wurzeln›. ach helmut, deine perspektivübernahme führte dazu, kurz in den trümmern der sprache der schlafenden personen zu suchen, um dich ihnen verständlicher zu machen – aber lesen diese denn deine texte? die prämisse, es gäbe einen konstanten kern der persönlichkeit, passt doch nur zu gut zum allgemeinen exhibitionistischen selbstverwirklichungswahn: ich bin soundso – das hat übrigens der letzt mbti-test auch ergeben – darauf kann man sich bequem zurückziehen.
nicht schön, denn was soll das sein, der persönlichkeitskern? basteln wir uns nicht genügend zäune, die uns einsperren, müssen wir uns dann noch in ein «selbst» einsperren? würde es nicht zur verarmung führen, wenn es dieses authentische ‹Ich› gäbe, dem wir hinterherrennen würden? aber vielleicht passt diese idee zu gut zum lebensstil, die welt simplifizieren zu wollen und bloß keine komplexen irritationen zulassen zu wollen.
den ausdruck ‹wurzeln› mag ich auch nicht im kontext des biographischen gewordenseins. wie du es beschreibst, hört es sich an, als ob menschen ohne wurzeln keine geschichte hätten. aber wurzeln sind mir zu starr, zu unbeweglich; die zeigen auf etwas, das uns gleichsam auf eine vergangenheit reduziert. wir haben doch viele geschichten über vergangenheiten, die wir uns erzählen könnten, oder? verzeih, vielleicht fehlen mir wurzeln und ich lehne daher dieses konzept ab. ich würde nur nicht identitätsreflexionen mit wurzelmetaphern beschreiben.
liebe grüße aus köln,
deine lisa



Ins Netz gestellt am 28. Mai 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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