BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die ‹Herren des Wörterbuchs› (1): Definitionen der Wirklichkeit»
von Albertine Devilder
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1 Einführung
«Gewöhnlich glaubt der Mensch,
wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.»
(Johann Wolfgang von Goethe)

In seiner Kolumne vom 20. Dezember 2008 hat unser treuer Sachbearbeiter Dr. Artus Paul Feldmann ein Traktätchen zu dem Begriff der ‹Herren des Wörterbuchs› angekündigt, und mir wurde in einer anschließenden Redaktionskonferenz die ehrenvolle Aufgabe erteilt, es zu verfassen. Aber vermutlich wird auch die Pop-Fraktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› bei diesem Thema mitmischen. Gut so. Und voilà, hier ist mein Text, ein ‹tractatus domini indicis verborum›.

Wer sich in den Texten, Glossen und Arbeitspapieren der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› ein wenig auskennt, weiß, daß der Begriff von den ‹Herren des Wörterbuchs› darin eine prominente Rolle spielt. Immer wieder rekurrieren wir auf diesen für uns so anschaulichen und wichtigen Terminus, und im Arbeitspapier Nr. 14 haben wir ihm gar einen kleinen Absatz gewidmet [1] Arbeitspapier Nr. 14, Kapitel 6.5.1: Das Wörterbuch der Merkatokratie. . Interessierte Leser und Leserinnen werden da eine erste und gelungene Einordnung und Beschreibung des Begriffs finden. Wir werden in diesem Traktat aber weiter gehen. Fragen wir uns zunächst, wo dieser Begriff herkommt, wer ihn geprägt haben mag.


2 Ursprung
Wenn Zwei einen Gedanken haben,
so gehört er nicht dem, der ihn früher hatte,
sondern dem, der ihn besser hat.»
(Karl Kraus)

Selbst ausgedehnte Recherchen führen nicht weiter als bis zu der Quelle, die wir schon in unserem oben zitierten Arbeitspapier Nr. 14 genannt haben, einem Artikel von Mustapha Khayati in der Zeitschrift ‹Situationistische Internationale›, Nr. 10, 1966, mit dem Titel: «Die gefesselten Worte (Einleitung für ein situationistisches Wörterbuch)». Wie oben schon erwähnt, verwenden wir diesen Begriff seit vielen Jahren mit großer Emphase, ohne oft an die Quelle zu denken. Ja, hin und wieder gibt es Zeiten, in denen wir glauben, ihn gar erfunden zu haben. Denn wie das obige Motto von Karl Kraus zeigt, geht es nicht darum, wer einen Gedanken oder einen Begriff zuerst oder früher hatte. Es geht darum, wer am besten damit umgehen kann. Und da sind wir ziemlich selbstbewußt. Karl Kraus sagt:
«Nicht ob das Resultat originell, sondern ob man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an. Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe dies und das in mir gefunden und fand es nachträglich in Büchern. Da erkannte ich, daß es nur auf den Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand auch diesen Gedanken in Büchern.» [2] In: Die Fackel Nr. 259/60, S. 55, vom 13.7.1908.
Unabhängig davon, wem die Ehre gebühren möge, diesen Begriff als erster besetzt zu haben, möchte ich im folgenden beschreiben, wie treffend wir ihn finden und wie glücklich gewählt, um komplizierte und undurchsichtige Zusammenhänge in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› zu erhellen.


3 Definition
«The meaning of anything
is merely other words for the same thing.»
(Charlie Chaplin)

«Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt.»
(Friedrich Wilhelm Nietzsche)

Wenn wir den Begriff von den ‹Herren des Wörterbuchs› ganz buchstäblich auffassen, könnten wir uns vorstellen, daß da irgendwo in unserem Land ein paar Herren sitzen, über ein Wörterbuch wachen und gegebenenfalls ganz gezielt neue Wörter erfinden. Das kann sein. Ja, es ist sogar so, daß politische Parteien, Lobbyisten, Interessengruppen und Firmen aller Art sich mit bestens ausgebildeten Fachleuten ständig, planvoll und geschickt darum bemühen, Wörter zu wählen, Wörter zu besetzen, oder Wörter zu schmähen, um ihren Interessen zu dienen und das, was sie selbst tun, zu euphemisieren, und das, was andere tun, zu dämonisieren:
«Großkonzerne besitzen die nötigen Mittel, um die Medien zu beeinflussen und die politische Willensbildung nach ihren Vorstellungen zu gestalten, und sie machen davon Gebrauch.» [3] Noam Chomsky (1999): Profit over people. Neoliberalism and global order. New York: SSP.
Aber Parteien, Lobbyisten, Interessengruppen und Firmen sind nicht die ‹Herren des Wörterbuchs›. Sie bedienen sich nur desselben. Wer einen Überblick bekommen will, welche Zeitungen heute täglich kritiklos das Wörterbuch abdrucken, der lese etwa die WELT, die FAZ oder den FOCUS.

Und natürlich steht auch ein Generalsekretär einer christlichen Partei täglich vor Journalisten, um den eigenen eingeschlagenen Weg zu loben und Alternativen zu schmähen. Denn der ‹politische Gegner›, der ‹eine andere Republik› will, muß täglich mit einem Arsenal von Wörtern und ‹Badspeak› («Theater, Absurdistan, ein Stück aus dem Tollhaus, menschenverachtend etc. etc.») behelligt werden. Dieser Strom an Unflat darf niemals abreißen, da sind sich alle Christen einig. Nur: Dieser Generalsekretär einer christlichen Partei gehört ebenfalls nicht zu den ‹Herren des Wörterbuchs›. Er würde es so gerne, aber er ist nur ihr Sklave, ihr Knecht.

Was oder wer also sind die ‹Herren des Wörterbuchs›? Nun, wir könnten sagen, die Dreieinigkeit von Industrieinteressen, Medien und Marketing. Politische Interessen (und damit die Politiker) gehören nicht dazu, denn die folgen blind der Dreieinigkeit. Wir müssen uns diese Herren also nicht physisch oder konkret vorstellen, obwohl das manchmal bei einigen Eiferern und Übereifrigen ganz nett ist. Aber diese Kämpfer für das Wörterbuch drängen sich nur vor, um ihren gerechten Lohn zu erhalten, den sie ja dann auch erhalten.

Die ‹Herren des Wörterbuchs›, das ist eine Metapher, die auf etwas verweisen soll. So soll sie etwa zeigen, daß es im Rahmen eines selbst geschaffenen sozialen Makrosystems der Mächtigen – wir nennen dieses System den ‹finalen Kapitalismus› – mögliche und unmögliche Wörter gibt, daß diese Wörter uns die ‹Wirklichkeit› erklären sollen, und daß es unendlich schwierig ist, sich diesen vorbereiteten Wörtern zu entziehen, denn wir wachsen damit auf.


4 Das Wörterbuch
«Wir sehen vermittels der Sprache.
Das Wort isoliert, definiert,
erschafft die Grenzen des Gegenstands.
Willkürlich und flottierend zergliedert die Sprache die Welt.»
(Siri Hustvedt)

Wir haben uns in der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› schon in vielen Traktaten und Arbeitspapieren mit den grundsätzlichen Möglichkeiten der Sprache und des Sprechens auseinander gesetzt. Und wir kommen immer wieder mit Texten, Zitaten und Aphorismen darauf zurück. Beginnen wir unsere Analyse des Begriffs ‹Wörterbuch› mit Richard Weiner, der im folgenden Zitat noch ganz allgemein bleibt:
«Wir sind Gefangene des Wörterbuchs; des Wörterbuches und konventioneller Konzepte, wir sind uns seiner grenzenlosen Verstümmelung und Grobheit bewußt, aber in unserem solidarischen Elend, in unserem Elend einander gleich, kein anderes Mittel der Verständigung zu haben, verständigen wir uns mit ihm ... um uns ständig weiter und weiter voneinander zu entfernen.» [4] Richard Weiner (1991): Der Bader. Berlin: Friedenauer Presse. S. 41.
Diese Vorstellung, daß Sprache nicht nur dazu dienen kann, sich einander zu nähern, sondern auch voneinander und von einer ‹Wirklichkeit› zu entfernen, halten wir als ‹Soziale Konstruktivistinnen› für außerordentlich zutreffend. Dies Phänomen, grundsätzlich, sprachtheoretisch oder individuell aus dem Erleben abgeleitet, ist ja Mittelpunkt vieler Psychotherapien.

Die Metapher von den ‹Herren des Wörterbuchs› soll uns nun aber darauf verweisen, daß Wörter gezielt eingesetzt werden, um uns im Unklaren zu lassen. Vor 90 Jahren drückte das Jakob Wassermann so aus:
«Was ihr hört, sind immer dieselben Worte. Sie haben fünf- bis sechshundert Vokabeln, mit denen bestreiten sie Forderung und Übergriff, Rechtfertigung und Abwehr, Reue und Bekenntnis, Vorwurf und Verdächtigung, Wahrheit und Lüge und den gesamten täglichen Umgang. Es ist unbeschreiblich lächerlich; ein Stammeln von ewig wiederkehrenden Floskeln, als ob ihre Hirnrinde aus Zeitungspapier bestünde.... Strafe, Sühne, Ausgleich, Gerechtigkeit: alles nur Mühle, die nicht mahlt, Feuer aus farbigem Papier, mit Redensarten ausgestopfter Popanz.» [5] In: Jakob Wassermann (1925): Laudin und die Seinen. Berlin: S. Fischer Verlag. Seite 101.
In unserem Arbeitspapier Nr. 14 werden wir auf den Seiten 52/53 konkreter:
«Und wozu ist dieses Wörterbuch da, wozu wird es gebraucht? Zur Herstellung der «‹notwendigen Illusion›, die eine triste Wirklichkeit als vernünftig, wohlwollend und notwendig, gar notwendigerweise wünschenswert erscheinen läßt.» [6] Noam Chomsky (1999), a.a.O. Das Wörterbuch soll also die Menschen der Jetztzeit in Trance versetzen, sie unbeweglich, ja gleichgültig machen. Ganz intuitiv sollen sie ein Einsehen haben, daß es jenseits der Merkatokratie keine ‹vernünftige› und lebbare Alternative gibt.»
Betrachten wir uns drei Wirkmöglichkeiten des ‹Wörterbuchs›.


4.1 Die unsichtbare Wirklichkeit
|:Dies ist ein guter Tag für Deutschland:|
(da capo ad infinitum)
(Angela Merkel)

Zum einen können wir sagen, daß die ‹Herren des Wörterbuchs› sich täglich bemühen, die Wirklichkeit, in der wir leben, unsichtbar zu machen und uns eine andere, ihnen erwünschte vorzugaukeln. Zum Beispiel sagen die seriösesten Studien, daß Arme immer ärmer, und Reiche immer reicher werden. Na und? Das läßt sich weg reden. Insbesondere dadurch, daß man den Vorsitzenden einer Partei, der das klar und deutlich ausspricht, immer wieder als Scharlatan, Gaukler, Agitator, Rattenfänger und Volksverführer beschimpft. Und das funktioniert? Aber ja. Politiker tun ohnehin nur das, was ohnehin geschieht (Robert Musil). Und sie wissen ganz genau, daß es gegenüber den von ihnen Regierten nicht darum geht, was gerade geschieht, sondern wie darüber gesprochen wird. Also sprechen sie, schwatzen sie. Das ist angewandter ‹schwarzer› Konstruktivismus, der von Politikern aller Art perfekt beherrscht wird.

Ein Beispiel: Schon daß der derzeitige Zusammenbruch der neoliberalen Ordnung als Finanzkrise bezeichnet wird, verrät uns das Baukastenprinzip des Wörterbuchs: Kein eingebetteter Journalist würde es wagen, zu behaupten, daß das von Heerscharen von Professoren, ‹Wirtschaftsweisen›, Bankern und Fachleuten propagierte neoliberale System des ‹freien› Handels mit Geld oder Waren und der ‹Marginalisierung des Staates› gescheitert sei. Nein, der Zusammenbruch wird als ein zufällig von außen kommender Orkan dargestellt, mit dem keiner rechnen konnte.

Nur nebenbei: Daß die neoliberalen Propagandeure, die den Staat eigentlich abschaffen wollten und wollen, jetzt nach der Hilfe des Staates rufen und natürlich auch zig Milliarden aus Steuergeldern erhalten, das ist ein sehr lustiges Aperçu. Noch lustiger ist, daß die Partei, die am schrillsten freie Märkte und Privatisierungen aller Art einklagt und mit ihrer Grundideologie das ‹Finanzdesaster› klar und direkt zu verantworten hat, von unbefangenen und unwissenden Bürgern und Bürgerinnen vermehrt in Parlamente gewählt wird. Ach wirklich, der finale Kapitalismus hat sehr, sehr komische Seiten!

Doch weiter: Natürlich ist in Krisen-Zeiten ein verstärkter Einsatz euphemisierender Wörter dringendst notwendig. Urs Widmer drückt es ganz treffend so aus:
«Die Sprache – diese Nebelwand, hinter der das reale Desaster verschwinden soll – wird jetzt noch mehr benötigt.» [7] SZ Nr.18 vom 23.1.2008, Seite 26.
So ist es. Nehmen wir als Beispiel das schöne Wort ‹Verbraucherschutz›. Das klingt toll. Wir würden sehr gerne als ‹Verbraucher› geschützt werden. Nur, wer das Gesetz kennt, weiß, daß es das Kapital vor den Verbrauchern schützt. Und ein Informationsschutzgesetz schützt selbstredend das Kapital davor, Informationen – etwa über verkauftes Gemüse mit Pestizid-Rückständen – an die Verbraucher geben zu müssen. So ist das. So geht das. Jedes Wort ein Nebelwerfer. Jedes Wort soll die Wirklichkeit unsichtbar machen.


4.2 Die gefesselten Worte
«Je näher man ein Wort ansieht,
desto ferner sieht es zurück.»
(Karl Kraus)

Zum anderen können wir über das ‹Wörterbuch› sagen, daß hier die Bedeutung einer Vielzahl von Wörtern definiert wird, die wir gerne anders definieren würden. Oder, daß die Wörter, die uns immer vorgetragen werden, nicht auf das verweisen, was wir unter ihnen gerne verstehen würden. Andere Vorstellungen von Demokratie, Wirtschaft oder Freiheit lassen sich nur in den Wörtern ausdrücken, die die ‹Herren des Wörterbuchs› längst besetzt haben. Mustapha Khayati trifft genau den Ton, der für uns bei dem Hören von ‹Herren des Wörterbuchs› mitklingt:
«Wie die Macht die permanente Lüge und die 'gesellschaftliche Wahrheit' ist, so ist der Sprachgebrauch ihre permanente Garantie und das Wörterbuch ihr universeller Bezug. […] Denn im Sprachgebrauch wohnt die Macht. […] Wenn die Macht ihre Waffen sparsamer gebraucht, überlässt sie es dem Sprachgebrauch, die unterdrückende Ordnung zu wahren.» [8] In: SI-Revue, Nr. 10, 1966: Die gefesselten Worte. (Einleitung zu einem Situationistischen Wörterbuch)
Merken Sie, lieber Leser und liebe Leserin, wie festgelegt die Sprache für beinahe jede Situation in unserem Makrosystem ist und wie schwierig es sein dürfte, wirtschaftliche und politische Utopien mit anderen Wörtern auszudrücken? Wie sich gegen den Sprachgebrauch wehren, wenn die Wörter besetzt, gefesselt, eingesperrt und okkupiert sind? Wir müßten die Wörter ja, wenn wir es denn wollten, in einem unglaublichen geistigen Gewaltakt – und ohne jegliche Hilfe – zurück erobern. Wie sollen wir das bewerkstelligen?

Wenn wir das obige Beispiel des angeblichen ‹Verbraucherschutzes› aufgreifen und über einen Verbraucherschutz reden wollten, der uns gefallen könnte, müßten wir den belegten und okkupierten Begriff erst einmal zur Seite räumen und einen anderen, vielleicht unvertrauten finden. Das ist alles andere als einfach! Freuen wir uns also auf die nächste ‹Gesundheitsreform›, in der unsere Gesundheit wieder einmal reformiert wird.


4.3 Die Laufwege des ‹Ichs›
«Die Welt geht noch unter in ihrem Geschwätz.»
(Michel de Montaigne)

Als dritten Bestandteil einer Definition dessen, was die Absichten der ‹Herren des Wörterbuchs› mit ihrem Wörterbuch sind, können wir überrascht feststellen, daß das Wort ‹Ich› in demselben eine überragende Rolle spielt. Ja, die ‹Herren des Wörterbuchs› sind nämlich ganz lieb und gönnen allen ihren Untertanen ihr ganz persönliches ‹Ich›, ja, sie locken es geradezu an mit immer wieder kolportierten Sprüchen wie: «Und was habe ich davon?» oder «Unterm Strich zähl ich!» Diese ‹Ich›-Einräumung ist naturgemäß eine wunderbare Vorbereitung darauf, sich später als ausgewachsenes ‹Ich› in der Gesellschaft des Spektakels und im finalen Kapitalismus durchzusetzen. Ja, hier lernen schon die Kids, daß ihr ‹Ich› äußerst wichtig ist. Und alle schwatzen davon, wie sie sich fühlen, wie sie drauf sind, und was sie gerade machen. Irgendwann kann man dann sogar als Prominenter im TV auftauchen, ohne auch nur irgendetwas zu können. Aber man hat ein ‹Ich›. Und ein ‹Ich› braucht Aufmerksamkeit.

Das Geheimnis ist nun aber, daß die Laufwege des postmodernen ‹Ichs› – entgegen der Dauerpropaganda von oben und auch völlig entgegengesetzt zu den ureigensten Überzeugungen der ‹Ich›-Inhaber von unten – äußerst eingeschränkt sind. Mustapha Khayati sagt es so:
«Durch das, was sie verbergen, arbeiten die Banalitäten für die herrschende Organisation des Lebens.» [9] In: SI-Revue, Nr. 10, 1966, a.a.O.
Und Bethchen B. schreibt in ihrem großartigen Traktat zum Phänomen der ‹Big-Brother-Shows›:
«Auch – oder gerade – auf die Gefahr hin, martialisch zu klingen: Das individuelle Selbst ist heute das Schlachtfeld eines Informationskriegs, den es verloren hat, bevor das Individuum auch nur eine Ahnung von Selbstbewußtsein entwickeln kann. Das Verhalten der Vereinzelten, und damit des Volkes insgesamt, braucht nicht durch einen Überwachungsapparat kontrolliert werden, weil der omnipräsente Große Bruder bereits die Erfahrungswelt der Menschen durch die Kontrolle ihrer Vorstellungsmöglichkeiten eingrenzt. Umstürzlerische Pläne, von wie auch immer gearteten revolutionären Zellen auf konspirativen Treffen geschmiedet, stellen heute also keine Gefahr mehr dar, weil die potentiellen Verschwörer lieber auf dem Traumschiff in die Karibik fahren. Mit anderen Worten, das vom Kapital evozierte und durch die Medien implantierte Bild eines gesunden Menschenverstandes legt die Laufwege der Massen so rigide fest, daß eine Auflehnung gegen dieses System den Menschen von heute nicht nur kaum vorstellbar ist, sondern als irreal, weltfremd und bedrohlich erscheint.»

5 Finale

Fassen wir zusammen:
«Der Zweck des Wörterbuchs der Merkatokratie ist die Verschleierung der Schachzüge des Kapitals. Unbedingt erforderliche und aus Sachzwängen ‹naturgleich› hervorquellende ‹Maßnahmen› werden in ein sprachliches Gewand gekleidet, das die Machtlosen glauben machen soll, das Kapital würde in ihrem Interesse handeln – oder die Machtlosen selbst würden gar aus freien Stücken im Dienste des Kapitals handeln.» [10] Arbeitspapier Nr. 14, Seite 54/55.
Aber diese von uns so oft benutzte Metapher von den ‹Herren des Wörterbuchs› soll uns auch zeigen, daß wir den vorbereiteten und zubereiteten Wörtern und den damit verbundenen Laufwegen etwas entgegen setzen können. Andere Wörter zum Beispiel. Oder eine befreiende Skepsis.

Gott weiß, wie schwer das ist.



Erstellt: 21. Januar 2009 – letzte Überarbeitung: 26. Januar 2009
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