BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Staat»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Albertine Devilder, Henriette Orheim & Helmut Hansen
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Einführung

Im Zeitalter des entfesselten, endgültigen und finalen Kapitalismus ist der Staat ins Gerede gekommen. Immer mehr Agenten des Neo-Liberalismus und der Globalisierung – eben nicht nur in den USA – reden immer öfter vom ‹schlanken› Staat, von ‹Entbürokratisierung›, von ‹Clusterbildung› und davon, daß die ‹Bevormundung› durch den Staat endlich aufzuhören habe. Schließlich müsse jeder Bürger für sich selbst entscheiden, was zu tun und zu lassen sei, und so sei von diesem zu Recht nicht mehr zu erwarten, daß er Sinn und Zweck einer so seltsam antiquiert anmutenden Veranstaltung – wie die eines Staates – einsehe und sich von diesem am Gängelband führen und das Heft aus der Hand nehmen lasse. Es leuchtet ein, daß diejenigen, die es sich leisten können, auch nur sehr ungern Steuern an diesen Staat entrichten.

Wohl gemerkt, hier reden keine mit einer hohen ‹street credibility› ausgezeichneten Teenies darüber, daß ‹Regeln nur für Schwache› seien, nein, hier arbeiten viele einflußreiche Leute, die sich täglich der Vorteile eines staatlichen Gemeinwesens auf vielerlei Art und Weise bedienen, daran, daß der Wunsch nach ‹weniger› Staat ein allgemeiner und der alte Begriff des Staates ersetzt werden möge durch solche Zauberworte wie ‹Freiheit› und ‹Eigenverantwortung›. Soll der Staat abgeschafft werden? Ist der Staat überflüssig? Sollen wir uns vom Staat verabschieden? Könnte sein. Das müssen wir uns näher anschauen.


Aufgaben des Staates

Bevor wir die heute zu beobachtenden Bemühungen zur Abschaffung des Staates skizzieren, sollten wir uns mit der Frage beschäftigen, was eigentlich einen ‹Staat› ausmacht. Wie läßt sich dieser Begriff definieren? Nun, das ist einfach, ein Staat gilt gemeinhin als ein geordnetes System eigens etablierter Institutionen, deren Zusammenwirken das dauerhafte und regelgeleitete Zusammenleben der in eben diesem Staat lebenden Menschen gewährleisten soll. Und die beiden vornehmsten Grundgedanken eines ‹demokratischen› Staates sind, daß zum einen die Regierung dieses Staates vom Volk gewählt wird und wieder abgewählt werden kann, und daß zum anderen die Grundprinzipien der Gewaltenteilung mit Leben erfüllt werden.

Soviel zur Idee eines Staates. Und welche Aufgaben eines Staates lassen sich daraus ableiten? Nun, sehr schön und sehr romantisch sind diese Aufgaben in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 definiert: [1] Mit Tränen in den Augen denken wir an die Szene in John Fords ‹The Man Who Shot Liberty Valance› von 1962, in der der farbige Woody Strode (als Pompey) in der von James Stewart (als Ransom Stoddard) eingerichteten Alphabetisierungs-Schule den ersten Satz der Unabhängigkeitserklärung zitiert: ... that all men are created equal ...
«We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed.»
Blicken wir also noch einmal voller Rührung auf die wunderbare grundlegende Idee eines demokratischen Staates und die Aufgaben, die dieser einmal hatte, schauen wir mit innerer Bewegung und Ergriffenheit auf den Mythos vom demokratischen Staatswesen. Nun, ganz offensichtlich war das von unseren Vorvätern so gedacht, daß dieser Staat für ‹alle› da sein sollte, indem er das faire Zusammenleben der verschiedensten Insassen ermögliche und damit das Gemeinwohl fördere. Wir können auch – eingedenk der oben zitierten Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – sagen, daß es die eigentliche Aufgabe eines demokratischen Gemeinwesens sei, den in diesem Gemeinwesen lebenden Bürgern zu ermöglichen, ‹glücklich› zu werden. Schauen wir uns nur wenige zum vermeintlichen Glück führende Begriffe an:

  • Wohlstand
    Es gab tatsächlich mal Wahlplakate in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, auf denen ‹Wohlstand für alle!› stand. Können wir uns das heute noch vorstellen? Nein. Wohlstand ist nicht mehr für alle vorgesehen und die Einkommensunterschiede zwischen ‹armen› und ‹reichen› Mitbürgern werden immer größer. Selbstverständlich versichern uns Professoren für Wirtschaftsethik, nirgendwo stehe geschrieben, eine bestimmte ‹Klasse› von Menschen dürfe nicht das mehrhundertfache eines Facharbeitereinkommens ‹verdienen›: Der Münchener Wirtschaftsethiker Karl Homann zum Beispiel sagt zu dem gerade skizzierten Thema des exorbitanten Gehaltsunterschiedes zwischen Herr und Gescherr: «Ich kenne keinen einzigen Lehrsatz in der Ethik, aus dem sich eine Gehaltsobergrenze ableiten ließe.» [2] Vgl. das Arbeitspapier Nr. 14, Seite 48. Klar. Genau für diese Aussage wurde ja der ‹Lehrstuhl› für ‹Wirtschaftsethik› eingerichtet.
  • Bildung
    Wie wäre es mit ‹Bildung für alle›, mit ‹Chancengleichheit›? Auch diese schlichte demokratische Forderung wird heute nicht mehr ernst genommen. Je konservativer die Landesregierungen, desto früher und endgültiger wird selegiert, bis die Kinder des Bürgertums unter sich sind. Bildung gibt es nur noch für wenige, der große Rest soll sehen, wie er klar kommt. Falls der ‹Rest› der chancenlosen jungen Menschen – wie zu erwarten – nicht klar kommen sollte, wird in Bälde der Bau von – privat geführten – Strafanstalten empfohlen werden. Denn in Deutschland befinden sich zur Zeit nur etwa 70 von 100.000 ‹Bürgern› in Strafanstalten, in den USA 800! Da gibt es einiges aufzuholen. Klar.
  • Sicherheit
    Da es derzeit in Europa keine uns feindselig gesonnenen Staaten gibt, müssen die äußeren Feinde im fernen Ausland gesucht werden. Die Wehr unseres Bundes kämpft also in Afghanistan oder am Kap Horn für unsere Freiheit. Und die Bekämpfung des ‹Internationalen Terrorismus› führt zu dem für konservative Staatenlenker erfreulichen Effekt, daß die ‹Freiheit› im Inneren nur verteidigt und sicherer gemacht werden kann, indem sie rigoros eingeschränkt wird. Nur Mißtrauen und permanente Überwachung führen zum Schutz unserer Heimat und zur Sicherheit für alle. Klar.
  • Sozialversicherung
    Zu den vornehmen Aufgaben eines Staates gehörte es insbesondere, dafür zu sorgen, daß den Staatsangehörigen in den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit, Not und Alter ein Schutz zu Teil wurde. Nun, das möchte heute niemand mehr so gerne hören. Heute ist die Rede davon, der Staat dürfe dem einzelnen Bürger nicht so viel Verantwortung abnehmen. Auch jammern manche über ordnungspolitische Restbestände wie den ‹Kündigungsschutz› oder die ‹Zwangsversicherungen› bezüglich Krankheit und Altersvorsorge und fordern, der einzelne Bürger solle endlich in die ‹Freiheit› entlassen werden. Es kann doch schließlich – so der hier zu verzeichnende Newspeak – jedem selbst überlassen bleiben, ob und wie er sich für die Wechselfälle des Lebens oder die absehbare Alterung schützen will. Warum soll sich der moderne, schlanke Staat da einmischen? Klar.
  • Infrastruktur
    Früher hatte der Staat einmal die Aufgabe, zum Wohle der Bürger Infrastrukturen aller Art zur Verfügung zu stellen, von der Autobahn über Eisenbahn, Telekommunikation und Universitäten bis hin zur Stadtsparkasse. Heute gilt die Ideologie, daß private Unternehmer Aufgaben dieser Art viel besser und ‹günstiger› übernehmen könnten. Folgerichtig werden Bahn, Post und Telefongesellschaft privatisiert (selbstredend werden dabei die Lasten der Altersvorsorge für die bisherigen und flugs entlassenen Arbeitnehmer vom Staat übernommen), die Förderung von Kultur jeder Art ‹zurückgefahren› und immer wieder die neue Frage gestellt, ob sich Bund, Länder und Gemeinden nicht auch noch aus dieser oder jener Angelegenheit ‹zurückziehen› könnten. Klar.


  • Kapitulation des Staates

    Das war ein kurzer und wehmütiger Blick auf das, was einmal einige Aufgaben eines demokratischen Gemeinwesens waren. Heute, im finalen Kapitalismus, spielen die Interessen der Bürger keine Rolle mehr, denn die Hauptrolle ist auf Dauer vergeben: Die Aufgabe des finalen Staates ist es, Kapital, Banken und Wirtschaft mit Milliarden an ‹Transferleistungen› und ‹Wirtschaftsförderungen› bei Laune zu halten und keine Gesetze zu beschließen, die Kapital, Banken und Wirtschaft mißfallen könnten. Ja, wir können sagen, daß Staat und Demokratie kapituliert haben vor den Interessen der Wirtschaft. Der Staat wagt es nicht mehr, sich für die Interessen aller Bürger einzusetzen. Er ist eine schwindende, machtlose Hülse geworden, die tatkräftig nur noch das genuine Geschäft der Wirtschaft besorgt – und dabei allerdings abertausende von Stellen (mit Pensionsberechtigung) für Parteimitglieder schafft. Klar.

    Es gibt verschiedene Umschreibungen für das, was der Staat noch besorgen soll. Die einen reden vom schlanken Staat oder der ‹Rückführung› von Aufgaben und meinen damit, seine angesagte Aufgabe sei heute eine umfassende ‹Deregulierung›, damit jeder, der etwas unternehmen wolle, dies auch – ungebremst durch bürokratischen Schnickschnack, gewerkschaftlich-ideologische Verstiegenheiten und ideologisch motivierten Umweltschutz oder gar Tierschutz – tun könne.

    Die anderen reden vom ‹Standort› Deutschland und meinen mit diesem aus der Kriegsführung entlehnten Begriff nur, der Staat solle sich bemühen, einen für das Kapital günstigen Wirtschaftsstandort einzurichten, in dem die Löhne und vor allem die ‹Lohn-Nebenkosten› – die ja den ganzen überflüssigen ‹Sozial-Klimbim› widerspiegeln – möglichst niedrig gehalten werden: Der Wirtschaftsstandort als Niedrig-Lohnort, nicht als Lebensraum der Bürger. ‹Mindestlöhne› gelten hier als Teufelszeug, überhaupt sollte sich in die ‹Tarifpolitik› niemand einmischen. Denn wie sagt es einmal einer der Totengräber des Staates im alten Sinne:
    «Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und können ihre Beziehungen frei aushandeln.»
    Tja, das wüßten wir. Vielleicht können wir auch mal die ‹Generation Praktikum› fragen! Oder die vielen Millionen arbeitslosen jungen Leute in Europa. Schöne neue Welt!

    In beiden Zukunftsvisionen vom schwindenden Staat geht es schlicht nur darum, das Kapital nicht zu vergrätzen und niemals etwas als Staat zu unternehmen, welches die Interessen der Wirtschaft nachhaltig stören könnte. Klar.


    Ausverkauf des Staates

    Derzeit haben alle staatlichen Institutionen – Bund, Länder, Gemeinden – Schulden in Höhe von etwa zwei Billionen Euro aufgehäuft. Jährlich kommen Milliarden an Schulden dazu. Auf der anderen Seite, der Seite dessen, was dem Staat (den Ländern, den Gemeinden) noch an Besitz bleibt, findet ein fröhlicher und allseits bejubelter Ausverkauf statt. Kanalsysteme werden verkauft und auf hundert Jahre zurück geleast, Beteiligungen an Firmen und Aktiengesellschaften aller Art werden abgegeben, Wohnungen und Grundstücke werden verkauft und so weiter. Übrig bleiben staatliche Institutionen, denen nichts mehr gehört, die statt dessen nur noch immense Schulden haben. Natürlich würde die Bundesregierung sehr gerne auch die Goldvorräte der Deutschen Bundesbank verkaufen, um ein paar Löcher zu stopfen, doch leider sträubt sich der derzeitige Bundesbank-Vorstand. Das läßt sich aber ändern.

    Interessant ist, daß die massive Veräußerung von Staatsbesitz – wie etwa in Bayern – als große politische Leistung angesehen wird. Keiner kommt auf den Gedanken, daß Beteiligungen und andere Werthaltigkeiten nur einmal verkauft werden können und daß dann eines nahen Tages den unglaublichen Schulden nichts mehr an Werten gegenüber steht.

    Einen Punkt wollen wir noch erwähnen. Beim Rückzug des Staates aus seinen eigentlichen Aufgaben und beim Ausverkauf des Staatsvermögens taucht als Beschwichtigung und Entschuldigung immer öfter die Argumentation auf, daß ‹private› Unternehmen oder auch Sponsoren viel besser die Interessen der Bürgen befriedigen könnten als der Staat. Nun ja, dann sind eben Bibliotheken, Museen, Theater und Universitäten in Zukunft private Unternehmen, und nicht nur die Müllabfuhr.

    Wir haben nur einige wenige Punkte skizziert, die die Kapitulation und den Ausverkauf des Staates verdeutlichen. Der derzeitige Staat vertritt die Interessen einiger weniger, er vertritt Privatinteressen - und die Interessen derjenigen, die für den Staat als Politiker arbeiten. Damit ergeben sich


    Neue Aufgaben der Politik

    Wenn der demokratische Staat vor den Interessen des Kapitals und der Wirtschaft kapituliert, dürfte klar sein, daß die vom Volk gewählten Politiker diese Kapitulation unterstützen müssen, wenn sie – ganz persönlich jetzt – ‹etwas bewegen› wollen. Die ‹Herausforderungen›, denen sich Politiker heute gegenüber sehen, bestehen also darin, als Agenten, als Allzweckwaffen des Kapitals die Abschaffung des Staates weiter durchzusetzen, dem Wahlvolk Augen und Ohren zu verstopfen und an die eigenen (nicht nur finanziellen) Interessen zu denken. Politiker der Jetztzeit ‹arbeiten› also für das Kapital und für sich selbst. Den Bürgern allerdings müssen sie vorspielen, als würden sie in deren Interesse handeln.

    Dieser Widerspruch wird in unserer Gesellschaft des Spektakels in sehr lustiger Weise gelöst, indem Politiker, gefordert und unterstützt von den allgegenwärtigen Medien, für die Bürger eine symbolische Politik betreiben, die sich erschöpft in einem ‹guten› Aussehen, einem ‹entschlossenen› Auftreten, einer maßlosen, übertriebenen Rede, und einem ‹So tun als ob›, einem Vortäuschen von politischen Handlungen also. Das ist der neue Stil. In allerletzter Zeit sind auch Darsteller zu bewundern, die ein ehrliches Gesicht aufsetzen und erklären, daß sie in Anbetracht der schwierigen Lage keine Versprechungen mehr machen könnten. Sehr schön. Gemeint sind natürlich Versprechungen an die Bürger, die Versprechungen für das Kapital werden auf jeden Fall eingehalten. Klar.

    Die Hauptaufgabe der Politik heute ist es also, zum einen dafür zu sorgen, daß Kapital und Wirtschaft ungehemmt Gewinne machen und Kollateralschäden an Mensch, Material und Umwelt dem Staat aufhalsen können, und zum anderen, daß es bei den Regierten keine Auflehnung, keinen Widerspruch gegen die Auswirkungen und Konsequenzen des finalen Kapitalismus gibt: Politik hat hier die genuine Aufgabe, die Entgrenzten, Ausgegrenzten und Zurückgelassenen zu tranquilieren und durch allerlei Staatsaktionen bei Laune zu halten. Dabei bietet sich unter anderem an, den Verlierern Ressentiments zu liefern, die sie von ihrer eigenen Lagebefindlichkeit ablenken können. Oder anders: Den Opfern unseres Systems bietet man – mit der Unterstützung durch die größte Schmierlappenzeitung dieses Landes – andere Opfer, über die sich dann echauffieren dürfen: ‹Betrügerische Harz IV-Empfänger›, ‹Asylbewerber›, ‹Kriminelle›, ‹islamistische Terroristen› etc.


    Der Politiker neuen Typs

    Es ist auf Anhieb verständlich, daß die neuen Aufgaben des Staates und der Politik einen neuen Typus von Politiker hervorbringen. Dieser trägt nicht mehr schwer an allerlei ethischen, philosophischen und politischen Erwägungen, dieser grübelt nicht mehr, wie er das Leben der Bürger schöner gestalten könnte, dieser ist nicht mehr der Idee einer Pólis verbunden, nein, er sieht sich dazu berufen, den ‹Wirtschaftsstandort› Deutschland zu fördern, indem er ausschließlich die Interessen des Kapitals als seine eigenen vertritt. Darüber hinaus ist er nur noch seinem Gewissen verpflichtet, und dies heißt, der Politiker neuen Typs muß dafür sorgen, daß er angemessen vom Kapital alimentiert wird. Geschult darin, ein ehrliches Gesicht aufzusetzen, schöne Sätze aufzusagen und Handlungsfähigkeit zu zeigen, arbeitet der Politiker neuen Typs nicht mehr am ‹Allgemeinwohl›, sondern er betreibt seine eigenen Geschäfte. Das böse Wort ‹Korruption› gibt es hier nicht, kann es nicht geben, denn jeder Abgeordnete ist ja nur seinem Gewissen verantwortlich, das heißt, er kann verantworten, was er tut.

    So ist es für den Politiker neuen Typs ganz selbstverständlich, daß er daran verdienen möchte, wenn er schon einmal als ‹Volksvertreter› gewählt wurde. Da ihm die staatliche Alimentation plus Zulagen unzureichend erscheint, verkauft er seinen vom Wahlvolk geschenkten Status als Bundestagsabgeordneter an möglichst viele Firmen, Banken, Interessenverbände und Lobbyisten. Eigentlich braucht niemand zu wissen, welchen Firmen gegenüber dieser Politiker neuen Typs verpflichtet ist. Und selbstverständlich darf niemand niemals wissen, was ein Politiker neuen Typs ‹dazu› verdient. Und wofür. Und auf Fragen dazu muß ein Abgeordneter empört reagieren, da er ja ein Gewissen hat.

    Wir haben einmal bei einem beliebigen christlichen Bundestagsabgeordneten recherchiert, welche kapitalistischen Interessen dieser im einzelnen verfolgt. Dabei ist diese Liste entstanden, wobei es sehr wahrscheinlich ist, daß in diesem Moment noch eine ‹Nebentätigkeit› dazu gekommen ist:

  • Rechtsanwalt in der internationalen Kanzlei ‹Mayer, Brown, Rowe & Maw›,
  • Tätigkeit beim Berliner Immobilieninvestor Apellas,
  • Vorsitzender des Konzernbeirates des Axa-Konzerns,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der BASF AG,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Commerzbank AG,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Interseroh AG,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Möller & Förster KG (Baumärkte-Baustoffe),
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Odewald & Co. - Gesellschaft für Beteiligungen mbH,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Rockwoll Beteiligungs GmbH,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young,
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Börse AG,
  • Mitglied im Wirtschaftsrat von Borussia Dortmund.

  • Es ist schon sehr aufschlussreich, zu sehen, welcher Abgeordnete für welche Firmen oder Interessengruppen arbeitet. Und noch einmal: von Korruption kann gar keine Rede sein, denn ein Abgeordneter darf von Firmen oder Interessengruppen so viel Geld nehmen, wie er möchte. Das kann per Definition sein Gewissen nicht beeinflussen. Deswegen wird unser Parlament ein wirksames ‹Anti-Korruption-Gesetz› wohl nie verabschieden.


    Schluß: Der Staat als leere Hülle

    Da alle Gegenentwürfe zum postmodernen Staat als ‹besiegt› gelten, bleibt uns derzeit keine Vision mehr übrig. Die Wirklichkeitswelt ist zu wirklich geworden. Möglichkeitswelten fallen uns nicht mehr ein. Denn der finale Kapitalismus schafft sich seinen finalen Staat. Doch dieser ist kein Staat alter Ordnung mehr. Er ist schwach, ausgeplündert, leer und bis über alle Ohren verschuldet. Da der finale Staat aber zumindest die Pensionen für die abertausenden Politiker zahlen muß, wird die leere Hülle Staat am Leben gehalten werden müssen, bis eines Tages ...., ja, was? Wie wird es weiter gehen?

    Nun, in Deutschland wird es keine Revolution geben, eher ein Sich-Zurückziehen, ein Nicht-mehr-zur Wahl-gehen, was aber den neuen Typus von Politiker nicht interessieren wird, denn über eine Mindest-Wahlbeteiligung steht nichts in unserer Verfassung. Was also wird die Zukunft bringen, wenn wir uns vom Staat alter Ordnung verabschiedet haben? Wie wird eine ‹nachstaatliche› Ordnung aussehen? Was werden die Menschen ‹unternehmen›, wenn sie vom Staat nichts mehr zu erwarten haben? Nun, dafür gibt es hinreichend Beispiele in Entwicklungsländern oder Operetten-Republiken wie Italien: Die post-etatistische Pólis wird geprägt sein von ‹Schattenwirtschaft›, ‹Selbstversorgung› und allerlei illegalen Bemühungen, sich den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Jeder wird sich um seine Sachen kümmern, den ‹Fremden› oder ‹Anderen› bestehlen und vom Staat nix mehr verlangen. So ungefähr könnte das gehen.



    Ins Netz gestellt am 10. Juli 2013
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