BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skizzen zu einer Mythographie des Kaufens» [1] Grundlage unseres Essays ist ein bisher unveröffentlichtes Manuskript der Bochumer Arbeitsgruppe mit dem Titel «Zur Mythographie des Konsums». Dieser Text wurde uns freundlicherweise von Dr. A. P. Feldmann mit der Bitte zur Verfügung gestellt, ihn zu überarbeiten. Dies haben wir als alte Freunde und Verehrerinnen der Bochumer Arbeitsgruppe sehr gerne übernommen.
von Bethchen B., Albertine Devilder, Helmut Hansen & Henriette Orheim
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1. Einführung

Im Mittelpunkt dieses Traktates stehen ‹Mensch› und ‹Kaufen›. ‹Mensch› ist ja einigermaßen klar, meint der Mensch, aber ‹Kaufen›? Tja: Kaufen. Also etwas erwerben, erstehen, einholen; holen überhaupt; etwas besorgen, sich etwas beschaffen, anschaffen, sich etwas zulegen; etwas organisieren, an sich bringen, sich aneignen, in den eigenen Besitz übergehen lassen, erringen. Ganz mild: Etwas nachfragen, etwas beziehen. Frecher dagegen: Ein Schnäppchen machen. Und neudeutsch natürlich: Shoppen. Mensch und Kaufen? Der kaufende Mensch? Ja: Käufer, Käuferin, Kunde, Kundin, Konsument, Konsumentin, Abnehmer, Abnehmerin, Erwerber, Erwerberin, Endverbraucher, Endverbraucherin.

Angeregt, eine kleine Mythographie des Konsums zu entwerfen, hat uns ein Paradoxon: Zum einen, daß im finalen Kapitalismus der Postmoderne das Kaufen eine Art Hauptbeschäftigung geworden ist (vgl. dazu auch den Schluß des Essays Abschied von der Arbeiterklasse) und – neben dem Fernsehen – eine alle anderen Lebensäußerungen weit überragende Rolle spielt, und zum anderen, daß wir, Hand aufs Herz, eigentlich längere Zeit fast nichts kaufen müßten, da wir nichts wirklich brauchen, abgesehen von einigen Kleinigkeiten wie Rotwein oder anderen Grundnahrungsmitteln. So würden, als Beispiel, unsere Kleidungsvorräte gut und gerne die nächsten 10 Jahre überleben, die Rotweinvorräte leider nicht. Da wir also nicht ständig irgendetwas Wesentliches kaufen müssen, hat sich der Kaufvorgang offensichtlich verselbständigt, vielleicht gar vom Kaufen selbst gelöst. Und dies finden wir interessant, nachdenkens – und beschreibenswert.

Die zweite Anregung, eine kleine Mythographie des Kaufens zu entwerfen, ergab sich aus dem denkwürdigen Arbeitspapier Nr. 11. Dort hat sich die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› ja bereits in eindrucksvoller Weise dem Geheimnis von Holen und Kaufen in Moderne und Postmoderne genähert, und die dort skizzierten Beobachtungen wollen wir hier natürlich nicht wiederholen. Statt dessen möchten wir die zu beobachtenden grundsätzlichen Unterschiede zwischen ‹modernem› und ‹postmodernem› Kaufen mit der heterosexuellen Matrix (vgl. z.B. Crawford, 1995; Becker-Schmidt & Knapp, 1995) in Verbindung bringen, also der unterschiedlichen kulturellen, sozialen und lokalen Konstruktion von genau zwei Geschlechtszugehörigkeiten, die mit dem biologischen Geschlecht weder etwas zu tun haben müssen, noch von diesem «geprägt», «gelenkt» oder «gesteuert» werden (vgl. dazu insbesondere Butler, 1991 & 1995). Kurz gesagt: Wir denken, daß jedes shopping, ob allein oder zu zweit oder zu mehreren, Kultur produziert und damit eben insbesondere auch gender, also psychologische und soziologische Geschlechtszugehörigkeit, und daß gender wiederum spezifische Arten des Kaufverhaltens produziert. Das geht im Kreis, wie bei allen interessanten sozialen und psychologischen Phänomenen. So denken wir, daß es zwei Ideologien des Kaufens gibt, die sich deutlich unterscheiden. Klingt verwickelt? Nöh, ist ziemlich einfach. Dieses Papier wird es erläutern. Lieber Leser und liebe Leserin, freuen Sie sich auf die Feste des Wiedererkennens, die sie gleich feiern dürfen.


2. Kaufen und die heterosexuelle Matrix

In der nun schon viele Jahrzehnte bestehenden heterosexuellen Matrix westlicher Kulturen sind ‹Männer› für Produktion und «Brötchen-verdienen» zuständig, und ‹Frauen› – abgesehen von ihrer «männerbeglückenden Wirksamkeit» (Bertha von Suttner, 1889) – für den Verbrauch der verdienten Brötchen und für die Verschönerung des Heims (vgl. z.B. Campbell, 1997). Daraus ergibt sich für uns, daß ‹Kaufen› in den finalen westlichen kapitalistischen Gesellschaften eine Aktivität ist, die durch und durch mit der Geschlechtszugehörigkeits-Dimension verknüpft und vermoppelt ist. ‹Männer› konsumieren in aller Regel, was Frauen für sie eingekauft haben (vgl. Campbell, 1997), natürlich nur, wenn sie sich in die Obhut einer Frau begeben haben. Ganz grundsätzlich erscheint uns also das ‹Kaufen› deutlich Teil der weiblichen Geschlechtsrolle zu sein, während die männliche Rolle eher nicht mit der Aktivität des Kaufens verbunden ist. Das hat Konsequenzen. So berichtet Campbell davon, daß z.B. ein Drittel der von ihm untersuchten ‹Frauen› die Kleidung für ihren Partner kaufen (vgl. Campbell, 1997).

Natürlich gehen ‹Männer› auch mal einkaufen. Dieser klare und von Tatsachen gesteuerte «Vorgang», diese «Maßnahme», dieser «Vollzug» unterscheidet sich jedoch unserer Auffassung nach erheblich von dem Geschehen, wenn ‹Frauen› einkaufen. Wie dieser Unterschied aussieht, und was alles zu beachten ist, wenn wir diesen Unterschied machen wollen, nun, davon handeln die nächsten beiden Kapitel. Beginnen wir mit der männlichen Ideologie des Kaufens.


2.1 Modernes ‹männliches› Kaufen

Die «weiblichen und männlichen Kauf-Ideologien», die Campbell (1997) unterscheidet, stehen in Beziehung zu jener Dichotomie, die (stereotyp) ‹weibliches› Verhalten als «expressiv», (stereotyp) männliches Verhalten dagegen als «instrumentell» auffaßt. Demgemäß betrachten ‹Männer›, so Campbell, Kaufen als einen auf Zielerreichung hin ausgerichteten, bedarfsdeckenden Akt, der mit Lustgewinn nur wenig zu tun hat. In der Tat: Zumindest sprechen ‹Männer› wenig von dem Genuß, den das Kaufen bereiten kann, auffallend oft und innig dagegen von der Notwendigkeit, ein Produkt X zu benötigen und daher anschaffen zu wollen («Wir brauchen unbedingt einen Bewegungsmelder für die Garagenauffahrt!»). Typischerweise, so Campbell, messen ‹Männer› der Aktivität des Kaufens selbst keinerlei intrinsischen Wert zu. Vielmehr fassen sie den Kaufakt bloß als ein notwendiges Mittel auf, um in den Besitz von Werten oder Waren zu gelangen. In diesem Sinne wird Konsum von ‹Männern› in einen Bezugsrahmen von «Arbeit» eingeordnet, vermittelt durch Kriterien wie Rationalität und Effizienz. Der typische männliche Kauf zerfällt, idealtypisch, in vier Phasen:

  • 1. Identifikation des Bedarfs,
  • 2. Evaluation der Bedarfsdeckungsmöglichkeiten,
  • 3. Aufstöberung eines passenden (günstigen) Angebots und schließlich
  • 4. der Kauf.

  • Analog zu weiblichem Konsum (s.u.) wird diese – eher instrumentelle – Art des Kaufens von ‹Männern› als sozialisationskongruent (nämlich «vernünftig») und daher als für sie passend, ja als «natürlich» erlebt. Im spezifisch männlichen Kauf reifiziert und stabilisiert sich die männliche Geschlechtsrollenidentität (im Kontrast zur weiblichen). Daher empfinden ‹Männer›, wie Campbell ausführt, den Konsumstil von ‹Frauen› gemeinhin als eher «irrational» und für sich selbst als unpassend.

    ‹Frauen› nun kritisieren, daß ‹Männer›
  • generell zu wenig Zeit auf das Kaufen verwenden,
  • ihre Ladenbesuche meist auf nur ein bis zwei Geschäfte einschränken,
  • zwar wissen, was sie brauchen, aber leider nicht recht wissen, was sie mögen,
  • nicht fähig sind, ihren Geschmack zu artikulieren,
  • oft das Erstbeste kaufen, das sie sehen, und schließlich
  • an Produkten keine Feinheiten unterscheiden und erkennen können.

  • Frauen halten Männer also für eher armselige Käufer, die sich nicht wirklich «vernünftig» verhalten und deren Kaufentscheidungen nicht selten ökonomisch defizitär sind. Denn ‹Männer›, so die ‹Frauen›, zahlen manchmal sogar mehr als nötig, bloß um schnell wieder aus dem Geschäft zu kommen. ‹Frauen›, so Campbell, halten ‹Männer› daher leichthin für «unsophisticated shoppers». Harte Worte. Aber – noch einmal – Hand aufs Herz, lieber Leser, liebe Leserin, ist da nicht was…, wie bitte, Sie stimmen bereits zu? Na schön.

    Prüfen wir noch etwas näher die schnöde Wirklichkeit des «männlichen» Kaufens: Wenn ‹Männer› einkaufen gehen, dann läuft das so: Vorher holen sie sich erstmal alle Kataloge und die einschlägigen Testzeitschriften. Denn der Kauf, als rationale Sachentscheidung, muß geplant und vorbereitet werden. Schlimm ist nämlich, wenn man das verkehrte Produkt kauft (welches, au weia, im Test schlecht abgeschnitten hat), oder, fast noch schlimmer, das richtige Produkt zum falschen Preis. Das darf nicht sein. Deshalb gilt unter ‹Männern› das Gesetz der rationalen Entscheidungsfindung. Die findet vor dem Kauf statt. ‹Männer› kaufen also gezielt. Eben schnell Produkt X «holen» und dann was anderes machen. Das eigentliche «Holen» ist also nur noch ein Klacks, da ihm lange und aufwendige Vorbereitungen zugrundeliegen. ‹Männer› gehen etwas Bestimmtes einkaufen. Wenn sie es kriegen, gehen sie zufrieden gleich nach Hause. Wenn sie es nicht kriegen, waren sie nicht erfolgreich, ärgern sich, und gehen auch nach Hause. Wenn ‹Männer› kaufen, handelt es sich also um einen zielgerichteten und auf ein bestimmtes Objekt fokussierenden Prozeß, es kann eigentlich gar nicht passieren, daß sie etwas anderes als das geplante einkaufen und mitbringen. ‹Männer› gehen auch nicht so oft kaufen, sie kaufen nicht gerne und vor allem gehen sie nicht so gern flanieren. Herumirren in Innenstädten und ein In-Trance-Fallen vor Kleiderständern gibt es da nicht.

    ‹Männer› kaufen gerne auch ganz andere Sachen als ‹Frauen›, also Computer oder Hifi-Firlefanz einschließlich wichtiger CDs, oder Autozubehör, also Spielzeug. Das heißt natürlich nicht, daß ‹Männer› nur billige Dinge konsumieren. Ganz im Gegenteil. Sie können für technischen Tinnef regelrechte Unsummen ausgeben. Doch gelingt es ihnen auch immer, dergleichen mit «vernünftigen» Argumenten zu rechtfertigen («hält länger», «ist eine Wertanlage», «kann man gut gebraucht verkaufen» etc.). Das ist natürlich Quatsch, wirkt aber trotzdem (vor allem auf andere ‹Männer›). Über die klug gekauften Produkte, denken wir, regulieren ‹Männer› eine ganze Menge ihrer sozialen Vergleichsprozesse. Vom Auspuff über die Aquariumspumpe bis zur Armbanduhr: lauter Meßlatten kauft sich der ‹Mann›. Dabei kann es vorkommen, daß vor allem «‹Ich›-Schwache» sich mit besonders exklusiven und prestigeträchtigen Produkten schmücken, auch wenn für andere Dinge des Lebens (das Essen z.B.) dann nur noch Pfennigbeträge übrigbleiben. So greift die Hand, an deren Gelenk die Rolex baumelt, dann zu einer Dose Aldi-Ravioli in Tomatensauce. Hauptsache, der Selbstwert stimmt.

    Wir wissen nicht, ob moderne ‹Männer› gemeinsam einkaufen. Aber wenn sie denn überhaupt einmal «bummeln» gehen, so Campbell, dann neigen sie eher zu einem technologischen «browsing», das heißt, sie stehen in Maschineriegeschäften und Geräteläden herum und starren auf Merkblätter mit technischen Daten. Es sollen aber auch schon mal ‹Männer› gesichtet worden sein, die gedanken- und traumverloren vor CD-Regalen stehen. Scheint eine Ausnahme von der Regel zu sein.

    Postmoderne Jungs, die zusammen in Geschäfte einfallen, tun dies gezielt. Sie gehen in Computerläden (am besten mit Cyberbar), Plattenläden, Technikkaufhäuser. Da gibt es ganz klare soziale Zwangsnotwendigkeiten, angesagte Sachen, die man haben (oder zumindest kennen muß). Marktkenntnis scheint einigermaßen wichtig zu sein, um zur Ingroup zu gehören.

    Fazit für «männliches» Kaufen: Technologisches browsing und «doing shopping». Einkaufen als zeitlich und inhaltlich begrenzte und abgegrenzte Angelegenheit!


    2.2 Postmodernes ‹weibliches› Kaufen

    Fangen wir mit etwas Gemäkel an: Laut Campbell umfaßt die gängige ‹männliche› Kritik an ‹weiblichem› Kaufen,
  • daß ‹Frauen› zu viel Zeit darauf verwenden,
  • zu viele verschiedene Geschäfte aufsuchen,
  • sich nicht zwischen verschiedenen Produkten entscheiden können und schließlich
  • nach langer Wanderung durch diverse Läden dann doch das kaufen, was sie zuerst sahen. Oder auch nicht.
  • Wir sehen, für ‹Frauen›, so Campbell, hat «going shopping» als expressiver Akt an sich schon einen Wert. «Going shopping» ist ein Vergnügen, unabhängig davon, ob es dabei überhaupt zum Erwerb irgendwelcher Produkte kommt. Das Bummeln ist für ‹Frauen› ein essentieller Teil des Einkaufens selbst, unverzichtbar und unumgänglich. Und das nicht nur, so Campbell, um Marktkenntnis zu erlangen und sich über das Angebot zu informieren, sondern vor allem auch, um in direkten Kontakt zu den Produkten zu kommen, ohne den so etwas wie ein Habenwollen oder Begehren gar nicht entstehen könnte. Dementsprechend gehen ‹Frauen› einfach «einkaufen». Sie gehen nicht, wie ‹Männer›, los, um Produkt X zu holen. Ihr Bummeln wird nicht selten mit anderen genußstiftenden Aktivitäten kombiniert, etwa Freundinnen zu treffen und zu plaudern, Kaffee zu trinken oder eine Kleinigkeit zu essen. ‹Weibliches› Kaufen ist, vor allem anderen, also Freizeitgestaltung. Und: Kaufen ist (gegründet auf eine stereotyp ‹weibliche› Sozialisation) ein mit Ästhetik assoziierter Akt, der sowohl auf Schönes bezogen, aber auch selbst ein Akt des Schönseins, des Sich-schön-Machens ist. Daher, so Campbell, ist, neben dem Einkauf von Lebensmitteln, nach wie vor und vor allem der Bekleidungskauf eine Domäne gelingenden Frauseins.

    Prüfen wir noch etwas näher die schöne Wirklichkeit «weiblichen» Kaufens: Wenn eine ‹Frau› einkaufen geht, dann keineswegs irgendwie und auch nicht nur. ‹Frau› macht einen Einkaufsbummel. Dafür sind die Innenstädte da, in der sich vor allem die Damenoberbekleidungsgeschäfte ansiedeln, um bummelnden ‹Frauen› zu gefallen. ‹Frauen› verschaffen sich während des Flanierens einen zwanglosen und ziellosen Überblick über das «Warenangebot», sie lassen sich von der Vielfalt der Güter anmuten. Sie mögen es auch sehr, wenn sich erst während des Einkaufsbummels Kauf-Wünsche, ja Kauf-Ideen entwickeln. Im Rahmen der heterosexuellen Geschlechtskonditionierung, hier der Sozialisation für die schönen Dinge, geht es beim Einkaufsbummel von ‹Frauen› insbesondere auch darum, Geschmack zu entwickeln und ästhetische Kriterien zu üben und zu kultivieren.

    Eigentlich wird bei ‹Frauen› der Einkauf selbst zur Nebensache. Das Kaufen ist eher in ein größeres Lebensprogramm eingebunden. Es kann sogar sein, daß zwei ‹Frauen› den halben Tag in einer Großstadt verbringen und doch mit (fast ganz) leeren Händen zurückkommen, weil sie «nichts gekriegt» haben. Aber schön war's trotzdem. Und eine Kleinigkeit (ein kuhförmiger Seifenspender oder eine Duftöl oder so) ist immer dabei. Wenn ‹Frauen› zum Kaufen in die Innenstädte ziehen, steht, so denken wir, weniger das Erlangen von «Markttransparenz» im Vordergrund als das mannigfaltige soziale Sichereignen, welches, sagen wir mal an einem Samstag, in einer Innenstadt vonstatten gehen kann. Und wenn zwei ‹Frauen› gemeinsam shoppen gehen, und die eine was gekauft hat, dann muß die andere eigentlich auch was «kriegen», sonst ist da ein Unbehagen. Und kauft die ‹Frau› für einen anderen ein (etwa einen ‹Mann›), so gönnt sie sich selbst gerne auch irgendeine «Kleinigkeit». Und umgekehrt. Da offenbart sich so etwas wie eine überaus sozialverträgliche Konsumumsichtigkeit.

    Nicht die «Vernunft» also oder das Preis-Leistungs-Verhältnis stiften Geschlechtsrollen-Identität, Selbstbewußtsein und innere Ausgeglichenheit, sondern das Flanieren. Und wir erinnern uns hier sehr gerne an den Begriff vom postmodernen Flaneur in dem wunderbaren Buch «Kosmopolis» von Stephen Toulmin (1991). Eine postmoderne Flaneuse freut sich also darüber, die verschiedenen «Waren» betrachten und anfassen und anprobieren zu können, sie ist glücklich darüber, verschiedene «Waren» auswählen und die Wahl wieder verwerfen zu können. Ja das Kaufen selbst, der Kaufakt rückt schon ein wenig in den Hintergrund. Die Vorfreude, das Genießen einer endlosen Vorlust ist das, was eine richtige Flaneuse ausmacht: «Mal gucken, was ich heute kaufe; mal gucken, welche Angebote ich heute wahrnehme; mal gucken, welche Bedürfnisse ich heute habe.» Das Kaufen mit seinem ganzem Drumherum ist so zu einem Erlebnis, einer Faszination, einem Hobby geworden: Schöne Geschäfte, Einkaufsparadiese, Erlebnislandschaften, anheimelnde Dekorationen und Präsentationen und nette Verkäuferinnen und Verkäufer. Natürlich gibt es da auch mal Ausnahmen (vgl. Schrödingers Katze geht einkaufen). Auch «Aktionen» sind beliebt. Da kauft ‹Frau› auch schon mal etwas «Unvernünftiges». Die postmoderne Paradoxie lautet: Wir brauchen eigentlich nichts mehr, da wir buchstäblich alles haben – wir stehen vor dem vollen Kleiderschrank und rufen: «Ich habe nichts anzuziehen!» –, und genau deswegen müssen wir immer weiter kaufen. Logisch? Ja sicher ist das logisch.

    Ganz wichtig scheint uns auch zu sein, daß das Gekaufte (vornehmlich Kleidung) nach der Heimkehr gerne «vorgeführt» wird. Für den unfreiwilligen Zuschauer (meist den Beziehungspartner) ist das eine heikle Angelegenheit! Denn nun sind wertschätzende, aber zugleich auch differenzierte Geschmacksurteile abzugeben, die nicht selten zu kleinen bis mittleren Beziehungsspannungen führen können, wenn es dem Partner an Sachkenntnis oder Feinsinn gebricht (mehr dazu weiter unten).

    Ach ja, da sind ja auch noch Mädchen. Angehende Flaneusen. Wenn Mädchen kaufen gehen, dann mit anderen Mädchen zusammen. Und dann vor allem aus Spaß. So ziehen sie durch die angesagten Läden, probieren dies und das mal an, giggeln und gackern zu fünft in einer Umkleidekabine, lachen sich kaputt, kaufen nix, gehen wieder, und sind glücklich. Das soll auch so sein.

    Fazit für ‹weibliches› Kaufen: Kein pflichterfüllendes und lustloses «doing shopping», sondern ästhetisches browsing, ein zeitlich und inhaltlich kaum eingegrenztes «going shopping».


    3. Gemeinsames Kaufen und die heterosexuelle Matrix

    Ach, Paar-Beziehungen zwischen (‹Mann› und ‹Frau›, ‹Mann› und ‹Mann›, oder ‹Frau› und ‹Frau›), die sich den Erwartungen der heterosexuellen Matrix beugen, sind doch noch immer eine der sprudelndsten Quellen des Amüsements. Was gibt es da nicht alles zu sehen und zu hören (vgl. dazu das umwerfende Arbeitspapier Nr. 8: Beziehungs-Skripte)! Beim gemeinsamen Einkaufen zum Beispiel: Das ist eines der wirklich unlösbaren Menschheitsprobleme. Denn keiner der beiden Insassen einer nach einer heterosexuellen Matrix gebauten Beziehungsbox kommt auf seine Kosten! Wenn es richtig gut geht, das mit dem gemeinsamen Einkaufen, kommt es nur zu stillem Leid und mildem Dulden. Aber der Reihe nach: Erfahrene Paare trennen sich. Nicht wegen des Einkaufs, sondern um des Einkaufs Willen. ‹Sie› (zum letzten Mal: Das ‹Sie› verweist auf kein biologisches Geschlecht, sondern auf eine soziale Gepflogenheit, eine Erwartung) geht hier, ‹Er› geht da. Nach zwei Stunden trifft man/frau sich dann in einem Café. Gut so. Dieses Arrangement ist wahrscheinlich einer der größten Fortschritte in der Evolution des Beziehungsgewusels. Manche Paare aber sind noch nicht so weit. Sie gehen zusammen einkaufen. Und dabei gibt es zwei Möglichkeiten, einmal, daß für einen von beiden etwas gesucht und «geguckt» wird und dann, die zweifelsohne risikoreichere Variante, daß für beide etwas gesucht und «geguckt» wird, was denn nun zu kaufen sein könnte.

    Campbell bemerkt, daß «joint shopping» eigentlich schon deshalb nicht gut gehen kann, weil ‹Frauen› eben eher «bummeln» und flanieren, d.h. sich inmitten des Kaufgeschehens aufhalten und dort gerne verweilen wollen, während ‹Männer› das Ziel verfolgen, die Einkaufszeit auf ein Minimum zu reduzieren. Die von Campbell befragten Leute gaben daher auch mehrheitlich an, gemeinsame Einkäufe mit dem Partner oder der Partnerin zu «hassen». Viele seien, so Campbell, schlichtweg unwillig, sich überhaupt auf derart Gefahrvolles einzulassen. Kein Wunder! Denn so sehr die beiden oben beschriebenen Einkaufs-Ideologien in Opposition zueinanderstehen, so komplementär sind sie doch: Erfüllt sich die eine, führt dies automatisch zur Hintanstellung und Herabwürdigung der anderen. In der Praxis geht dieser Konflikt offenbar sehr oft so aus, daß die bummelkompetente ‹Frau› ihren ‹Mann› als Anhängsel von Geschäft zu Geschäft mit sich herumschleppt. Zu seinem Leidwesen freilich. Denn während sie die ästhetischen (und damit in ihrem Rahmenmodell wesentlichen) Entscheidungen trifft, fällt ihm die Rolle des technischen Assistenten zu, der sich bestenfalls kleinlaut zu Fragen der Produktbeschaffenheit äußern, Kartons tragen und Werbeprospekte einsammeln darf.

    Geht's nur darum, für eine Beziehungshälfte etwas zu kaufen, kommt es darauf an, ob es sich um ‹Mann› oder ‹Frau› handelt. Sucht die ‹Frau›, sagen wir mal, «was zum Anziehen», ist die Rolle des ‹Mannes› relativ einfach. Er darf dastehen und, wir sagten es oben bereits, still dulden und leiden. Aber nicht nur das. Entsteigt die holde Traute einer Umkleidekabine, ist sein Geschmacksurteil, das heißt sein ganzes Geschick gefragt. Denn wahllos loben ist tödlich. Unklar ist auch, ob es bei dem erbetenen Urteil («Na, wie findest du's?») jetzt um das Kleidungsstück geht oder um sie, d.h. die Beziehung. Bei solchen Anproben ist Obacht angesagt. Eigentlich ist er ja nur aus Nettigkeit mitgegangen. Jetzt sitzt er allerdings in der Falle und muß sowohl seinen Geschmack als auch seine Zuneigung beweisen. Und wehe er sagt: «Ach weißt du, an dir ist alles schön!» Das zieht nicht. Dann schon lieber den Womanizer spielen und flüstern: «Ich habe nur Augen für deine Augen!» Die Situation, ganz klar, ist brenzlig denn es handelt sich bei jeder Anprobe auch um eine Beziehungsprüfung. Auch geschickte und erfahrene ‹Männer› entkommen solchen Situationen nicht. Und von einer schnöden Flucht, verbunden mit einem lapidaren «Ich geh' dann schon mal draußen eine rauchen!», ist dringend abzuraten. Denn ‹Sie› raschelnd in einer Umkleidekabine zurück, ja sie in dieser kritischen Lebenssituation allein und im Stich zu lassen, das führt zu schweren Beziehungsstörungen, also zu Zoff. Alle beschriebenen Probleme können natürlich auch nachträglich auftreten, wenn ‹Sie› allein beim Einkaufen war und das Mitgebrachte dann zu Hause ihrem Beziehungsgespons «vorführt».

    Geht es nun, in ähnlicher Konstellation, darum, daß der ‹Mann› «was braucht» und die ‹Frau› «mitkommt» bzw. ihn von Geschäft zu Geschäft schleppt («Du brauchst dringend eine neue Winterjacke!»), dann sieht die Sache schon ganz anders aus. Jeder kennt diese Szenen, wenn ‹Er› und ‹Sie› eine Herrenabteilung betreten und sich der Verkäufer oder die Verkäuferin über ihn hinweg und an ihm vorbei an ‹Sie› wendet: «Welche Größe hat er denn, und was soll es denn sein?». So ist das. Der ‹Mann› wird depersonalisiert und entmündigt, steht da und wartet, daß ‹Frau› und Verkäuferin sich zupfend und begutachtend an seinem Embonpoint zu schaffen machen. Eine klassische Episode! Ein echter Hingucker!

    Ein besonders interessantes Phänomen des beziehungsverstrickten Einkaufens ist der «abwegige Vorschlag». Nach längeren Anproben (ob ‹Er› oder ‹Sie› in der Kabine schwitzt, ist dabei eigentlich ziemlich egal), kommt die jeweils andere Beziehungshälfte, die geduldig draußen wartet, auf eine «abwegige Idee». ‹Sie› oder‹Er› guckt so rum, entfernt sich ein wenig von der Kabine und kommt dann, plötzlich und unvermittelt als wär's ein Scherzartikel, mit irgendeinem schrillen Kleidungsstück daher, das ihm oder ihr beim nächsten Blick aus der Kabine triumphierend mit den Worten entgegengehalten wird: «Wie wär's denn mit sowas?!» Dabei fällt zumeist die erstaunliche Andersartigkeit des gewählten Produkts im Vergleich zu den bisher in die «engere Wahl» gekommenen Sachen auf. Eine Provokation, zweifellos. Wir haben uns mögliche Gründe dafür ausgedacht:
  • Langeweile. Die zuschauende Beziehungshälfte ist das Rumstehen leid und macht sich einen Spaß.
  • Grenzen testen. Die zuschauende Beziehungshälfte will die Belastbarkeit der Beziehung ausprobieren und erhofft sich vielleicht eine baldige Beendigung des mühsamen Umkleidens.
  • Die eigene geschmackliche Inkompetenz demonstrieren. Die zuschauende Beziehungshälfte entzieht sich geschickt der Rolle des oder der Beurteilenden, bezeugt seine Unzuverlässigkeit in Geschmacksfragen und ist – heilfroh – aus dem Spiel.
  • Die geschmackliche Inkompetenz der anderen Beziehungshälfte demonstrieren. In eher gespannten Beziehungen kann die eine Beziehungshälfte der anderen mit einem «abwegigen Vorschlag» deutlich machen, was sie insgesamt von der Kleidungsausstattung der anderen hält. Gefährlich. Empfehlenswert nur für Fortgeschrittene!
  • Identitätstest. Die zuschauende Beziehungshälfte will ausprobieren, ob der oder die Liebste sich selbst und dem eigenen Geschmacksideal treu ist. Wird der abwegige Vorschlag angenommen («Ein Latexrock? Is' ja nicht schlecht, sowas. Gib mal her!») kann es allerdings zu nachhaltigen Beziehungskrisen kommen.
  • Symmetrische Kaufakte gibt es natürlich auch. Bei Lebensmitteln oder Möbeln und «gemeinsamen» Dingen fällt der Geschlechtsunterschied nicht so sehr, und mit der Zeit auch immer weniger ins Gewicht. Daß der Beziehungspartner zu Rate gezogen wird, ist durchaus reziprok, wenn auch produktabhängig. Wichtig ist wohl auch, ob eine Beziehung «gemeinsame Kasse» hat oder jede Hälfte ihre eigene Knete ausgeben kann.

    Fazit: Gemeinsames Einkaufen in der heterosexuellen Matrix kann von uns nicht empfohlen werden, da es sich hier um einen deutlichen Zielkonflikt handelt.


    4. Kaufen und das Fest der Liebe: Ein kleiner Exkurs

    Aber ja, es muß sein. Der besonderste aller besonderen Einkaufs-Anlässe kann hier nicht verschwiegen werden: Weihnachten. Angeblich handelt es sich ja um ein christliches Fest. Beziehungsweise um ein Familienfest. Doch auch sonst bleibt kein soziales Gebilde von Weihnachten verschont. Und allüberall muß geschenkt werden. Oder aber: es müssen umständliche Absprachen getroffen werden, «daß wir uns diesmal aber nichts schenken». An die sich dann natürlich auch nicht jede hält. Wenn das Schenken dann eintritt, so folgt es offenbar bestimmten Standards, die im ganzen Land bekannt und verbreitet sind und über die das deutsche Volk sich erstaunlich einig zu sein scheint.

    Etwa das Budget. Lange Jahre war (für den durchschnittlich verdienenden Haushalt) der Hundertmarkschein so etwas wie die Referenz, an der man sich beim Geschenk für einen näheren Verwandten orientieren konnte. Teurere Geschenke bekamen nur Geliebte und leibliche Kinder. Heute dürften die Grenzwerte in bestimmten sozialen Schichten deutlich höher liegen.

    Der Gegenwert des Geschenks, so läßt sich mit einiger Ernüchterung feststellen, ist ein Indikator für die Enge der Beziehung zum Beschenkten (bzw. die Wackeligkeit der Beziehung). Das Geschenk soll Nähe, Wertschätzung, Zuneigung, Verbundenheit und dergleichen ausdrücken (bzw. wiederherstellen). Der Ausdruck immaterieller Werte also ist es, der hier durch das Verschenken materieller Werte bewirkt werden soll. Zweifelsohne ein Paradox. «Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergeßlichkeit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig… Der Verfall des Schenkens spiegelt sich in der peinlichen Erfindung der Geschenkartikel, die bereits darauf angelegt sind, daß man nicht weiß, was man schenken soll, weil man es eigentlich gar nicht will. Diese Waren sind beziehungslos wie ihre Käufer.» (Theodor W. Adorno)

    Bei dem Versuch, diesem offenbaren Dilemma zu entkommen, haben die Schenkenden sich eine Norm eingehandelt, deren Perfidie nur schwer zu verkennen ist: Das immaterielle Werte ausdrückende materielle Geschenk muß «etwas Besonderes» sein! Persönlich, originell, phantasievoll. In Zeiten industrieller Massenfertigung ist das Einzelstück zum überzeugendsten Träger von Beziehungsbotschaften avanciert. Doch damit nicht genug: Ein weiteres Problem ist freilich, daß mit dem hohen Anspruch, etwas Persönliches, Originelles schenken zu müssen, zugleich nichts geschenkt werden darf, das sich der oder die Beschenkte ganz ohne weiteres selber kaufen würde (oder könnte). Es muß also ganz persönlich sein, gleichzeitig aber auch jenseits des persönlichen Horizonts des Beschenkten liegen. Viel schwieriger geht's nicht. Denn während schenkende Kinder sich noch mit einem Bildchen oder einer Bastelei aus der Affäre ziehen können, müssen beispielsweise Beziehungspartnerinnen einen «guten Riecher» für das richtige Geschenk entwickeln. In vivo heißt das, sie rennen wochenlang wie dement durch Innenstadtgeschäfte, bis die Verzweiflung irgendwann so groß geworden ist, daß sie sich schluchzend einer Verkäuferin an den Hals schmeißen, um Beratung betteln und schließlich die Verkäuferin heiraten. Oder noch schlimmer: Sie zerren ihr zu beschenkendes Beziehungsgegenüber durch die Ladenpassagen und beäugen wachsam jede Gesichtsregung, darauf hoffend, die gegenwärtigen Produktpräferenzen so genau erraten und ablesen zu können, daß sie etwas Passendes finden und ihnen zugleich «eine Überraschung» gelingt. Ach!

    In der Postmoderne kommt ehemaligen Sekundärmerkmalen des Geschenks zunehmend eine immer größere Wichtigkeit zu: Die Verpackung zum Beispiel muß schon besonders, ausgefallen, originell, persönlich sein. Und da das Schenk-Ritual selbst (wie alles einstmals Ernstgemeinte) für die postmoderne Befindlichkeit schier unerträglich ist, wird es ironisch gebrochen oder aufgehoben. So läßt sich z.B. ein winziger Ohrring ganz witzig in einem mit Konfetti gefüllten Waschmaschinen-Karton verpacken. Kein Entkommen! Frohes Fest!


    5. Zur Mythographie des Kaufens im finalen Kapitalismus

    Lieber Leser, liebe Leserin, natürlich hoffen wir, daß Sie vieles von dem wiedererkannt haben, was mit Ihnen und in Ihrer Umgebung so alles geschieht, beim Kaufen. Ach, Sie waren erst gestern mit Ihrem liebsten Wesen als «Vierfüßler» (Botho Strauß) zusammen in einem Bekleidungsgeschäft? Na, dann kennen Sie sich ja aus. Und jetzt wissen Sie endlich, warum das alles so ist.

    Wir finden es ziemlich erhellend und überzeugend, den Kaufvorgang in die westliche heterosexuelle Matrix einzubetten. Und da die Moderne im Alltag schon weitgehend abgedankt hat, da sie gleichsam überrollt wurde von der Postmoderne (vgl. das Arbeitspapier Nr. 11), nehmen wir an, daß die ‹männlichen› Vernunftkäufe, die hier und da noch zu sehen sind, bald buchstäblich aussterben werden. Ist die Zukunft des Kaufens somit ‹weiblich›? Treffen Sich ‹Männer› und ‹Frauen› in einer neuentdeckten Androgynie des Kaufens? Wir denken: Ja! Die Postmoderne schafft oder wiedererfindet den Typus des Flaneurs, der Flaneuse, des Surfers, und der Surferin (vgl. dazu die Essays «Surfen und Sich-Selbst-Verkaufen» und «Surfen und Sich-Selbst-Ausbeuten»). Wir denken, daß es sehr bald der Regelfall sein wird, ohne einen klaren Kaufwunsch, ohne ein bestimmtes Produktinteresse, ohne eine Kaufnotwendigkeit, ohne einen Bedarf, ja sogar ohne einen Frusthintergrund genüßlich einkaufen gehen zu können. Denn natürlich gibt es auch in der Postmoderne Frustkäufe: Da ist eine kleine Mißstimmung, ein Unbehagen, eine Dystonie. Ja, da geh' ich doch erst mal in's Städtchen und mach' es mir schön! Und wenn ich dabei etwas Überflüssiges zu kaufen finde, um so schöner.

    Es hat sich – wieder einmal – viel verändert, denn heute schafft das Kauferlebnis, die Vorfreude, die Vorlust, das Flanieren, das Browsing, das Wählen, das Sich-Entscheiden-Können aber Sich-Nicht-Entscheiden-Müssen Befriedigung und Zufriedenheit. Nicht erst der Kaufakt selbst. Dafür spricht auch, daß Attraktivität und Qualität der gekauften Produkte so beschaffen sind, daß sie den Kauftag meist nicht überstehen und der nächste Tag somit schon wieder zu einem Kauferlebnis verlockt. Das soll so sein.

    Aber schauen wir noch ein bißchen weiter, auf Gründe, die dafür sprechen könnten, daß es in der Postmoderne nicht mehr um irgendeinen modernen, rational gesteuerten «Bedarf», nicht mehr um die rationale Kaufentscheidung geht, sondern um das Erlebnis des Kaufvorganges selbst. Nun, zum einen gibt es allseits bekannte Sprachskripte, die aus der Werbung in den Alltagsjargon übergegangen sind, und die deutlich machen sollen, daß man sich mit einem Kauferlebnis «etwas Gutes tut»:
  • Jetzt gönn' ich mir mal was!
  • Man gönnt sich ja sonst nichts!
  • Die Freiheit nehm' ich mir!
  • Ich hab' mir schon solange nichts mehr gekauft!
  • Für unsere Argumentation spricht auch, daß aus den ehemals romantischen oder modernen sonntäglichen Familienspaziergängen in Feld und Flur («Vom Eise befreit sind […]») der sonntägliche Einkaufsspaziergang in irgendeiner Großstadt geworden ist. Dazu werden von den Städten irgendwelche «Brauchtümer» oder Historizismen erfunden, die jeder Beschreibung spotten. Wer einmal erlebt hat, wie sich postmoderne Flaneure und Flaneusen mit Kind und Kegel an einem ‹verkaufsoffenen› Sonntag in irgendeiner Fußgängerzone drängeln, wird das nicht so leicht wieder vergessen. Also: Heute führt der Familienausflug nicht mehr in die ‹freie› Natur, sondern direkt ins Kauferlebnisparadies. Das ist die wahre Freiheit!

    Für unsere Überlegung, daß das Kaufen der Zukunft ‹weiblich› sein wird, spricht auch die folgende kleine Geschichte, die uns zugetragen wurde: Da kommt eine ‹Frau› angeschlagen und zerpatscht von einem längeren Krankenhausaufenthalt nach Hause und meldet sich dadurch ins Leben zurück, daß sie sich erst einmal eine komplett neue Garderobe kauft. Hier scheinen wir ziemlich nahe am identitätsstiftenden Vorgang des Kaufens in der Postmoderne zu sein: «Ich kaufe also bin ich!». Oder zumindest: «Ich könnte gleich was kaufen, also bin ich!» Das Kauferlebnis als Identitätsstiftung und Selbstwertspiel! Wie könnte das funktionieren? Es folgen einige Bruchstücke dazu.

    Zum einen ist es eine Art Selbstwertspiel, wenn ich als Käuferin mein ‹gutes Geld› als einen zu meiner Person zugehörigen Teil weggebe. Es heißt nicht umsonst: Der Kunde ist König! Ich bin als Kunde also König! Ich habe das Geld und ich entscheide jetzt in einem äußerst individuellen und von keiner Werbung beeinflußten Akt, es herzugeben. Das war dann meine ureigenste persönliche Kaufentscheidung! Denn «So viel ‹Ich› war nie»! Gerade beim Kaufen!

    Zum anderen ist es naturgemäß auch eine Art Selbstwertspiel und Selbstwertveranstaltung, wenn ich als Käuferin anderen zeigen kann, was ich gekauft habe. Und meine ‹signifikanten Anderen› (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 7 und die Skizzen zur Persönlichkeitspsychologie und Sozialpsychologie) müssen mich und das Gekaufte dann bewundern. Dies könnte noch an Kaufvorgänge der Moderne erinnern, in denen ein Produkt im Vordergrund stand und in denen es fast immer um ein angemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis ging. In der heterosexuellen Matrix zeigen ‹Frauen› ja die gekauften Waren unter dem Motto «Ästhetik für wenig Geld», und ‹Männer› unter dem Motto einer «rationalen und cleveren Kaufentscheidung». Wir denken aber – wie wir das oben schon erläutert haben –, daß sich in der Postmoderne diese geschlechtliche Aufteilung nivellieren wird. Heute soll eben nicht das Produkt selbst bewundert werden, sondern die individuell zuzuschreibende Cleverneß der Wahl und anderes Identitäts-umschmeichelndes Zubehör.

    Da der Kapitalismus ja auf permanentes Wachstum ausgerichtet ist, und da Menschen aber eigentlich nicht immer mehr brauchen, müssen sie – ähnlich wie vor einem TV-Gerät – in einer Bedürfnis- und Konsumspirale festgeklebt werden. Und da ist es natürlich äußerst geschickt, es mittlerweile so weit gebracht zu haben, daß Menschen schon unglücklich sind, wenn sie ein oder zwei Tage nichts gekauft haben. Das muß man erst mal hinkriegen.

    Zum Schluß: Überaus interessant ist, daß es fast keine Kommunikatorinnen für ein Nicht-Kaufen, für Konsumverzicht also gibt. Es gibt keine Werbung, keine Propaganda dafür, etwas nicht zu kaufen. Beispiele für Nicht-Konsum-Werbung könnten sein: «Man kann immer nur ‹ein› paar Schuhe gleichzeitig tragen.» Oder: «Man kann immer nur ‹eine› Jacke tragen.» Oder ein anderes Beispiel könnte den Satz «Ich trage jetzt erst einmal meine alten Sachen auf!» zum Thema machen. Unvorstellbar? Klar. Dann, lieber Leser, lieber Leserin, versuchen wir jetzt einmal eine Kampagne zu entwerfen unter dem Motto: «Zeit, die beim Einkaufsbummel draufgeht, ist verlorene Lebenszeit!». Glauben Sie, das würde funktionieren? Wir nicht. Sie nicht. Alles klar?

    Literaturhinweise

    Becker-Schmidt, Regina & Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.) (1995): Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt: Campus.
    Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag.
    Campbell, Colin (1997): Shopping, Pleasure and the Sex War. In: Falk, Pasi & Campbell, Colin (Hg.) (1997) a.a.O. S. 166–176.
    Crawford, Mary (1995): Talking Difference. On Gender and Language. London: Sage.
    Falk, Pasi & Campbell, Colin (Hg.) (1997): The Shopping Experience. London: Sage.
    Suttner, Bertha von (1889): Die Frauen. In: Brinker-Gabler, G. (Hg.) (1979): Zur Psychologie der Frau. Frankfurt: Fischer. S. 45–60.
    Toulmin, Stephen (1991): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.



    Kommentare:

    23. Oktober 2002
    Liebes Autorenkollektiv,
    Eure «Skizzen zu einer Mythographie des Kaufens» habe ich mit großem Vergnügen gelesen. Die geschilderten Szenen sind sehr schön beobachtet und pointiert dargestellt. Als Bestätigung Eurer Thesen könnte folgende Geschichte dienen:
    Im KaDeWe («Kaufhaus des Westens», ein großer Konsumtempel in Berlin) wurde in der Damen-Unterwäscheabteilung eine «Ruhezone» extra für Männer eingerichtet. Das steht zwar nirgendwo, ist aber offensichtlich so gemeint. Der gewählte Ort und die Tatsache, daß im gesamten Haus keine vergleichbare Ansammlung von Stühlen zu finden ist, sprechen jedenfalls sehr dafür. Dort, nahe bei den Rolltreppen, stehen ungefähr sechs Sitzgelegenheiten, die ausnahmslos von Herren genutzt werden. Dort sitzen sie nun wie die Hühner (besser: Hähne) auf der Stange und versuchen, sich die Wartezeit bis zum Erscheinen der Holden mit allerlei Faxen zu vertreiben: Auf dem Mobiltelephon herumdrücken, in den Zähnen oder in der Nase pulen, oder einfach nur erschöpft und gottergeben auf die Schuhspitzen starren.
    Auffällig ist, daß kein Mann mit einem anderen spricht. Welch vertane Chance! Die Installation eines Bierautomaten und die Bereitstellung von Spielkarten und diversen Automagazinen würde diese traurige Ecke im Handumdrehen zu einem Hort überbordender Lebensfreude machen. Lediglich mit dem Rauchen würde es schwierig – zu viele Textilien, zu große Brandgefahr, schade. Da fehlt eigentlich nur noch die Lautsprecherdurchsage: «Der kleine Peter Müller möchte bitte aus dem Männerparadies abgeholt werden.»
    Herzliche Grüße von
    Benjamin



    Erstellt: 27. April 2001 – letzte Überarbeitung: 23. Oktober 2002
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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