BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Verblasste Mythen (2): Informationen»
von Artus P. Feldmann
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Einführung

Ach, Informationen. Sie sind allüberall. Jede Nachricht in einem Druck- oder Schaumedium behauptet, Informationen auszusenden. Das ‹Internet› soll ja voller Informationen sein, gesammelt von Wesen, die sich in einer ‹Schwarmintelligenz› zusammen finden. In tausendfach verkauften ‹Ratgeberbüchern› behaupten Ratgeber, sie hätten gerade mal eine einzige immens wichtige und zyklopische Information für uns, nach deren Kenntnisnahme sich in unserem Leben etwas ganz Wesentliches ändere. Ja, wir hören sogar des öfteren, daß wir in einem ‹Informationszeitalter› leben. Nun ja.

Auch in den verschiedenen sozialen Räumen, in denen wir uns aufhalten, werden in jedem Gespräch bunte Wirklichkeitsbehauptungen aufgestellt, die innerhalb dieses einen Raumes ganz leicht als Information oder Tatsache durchgehen. Im Nebenraum dürfte das etwas anders sein. Kurz: Jeder Mensch behauptet heute, über Informationen zu verfügen, die ihm immer wieder nützlich seien. Ein Beispiel? Nur eins? Nun gut, unser Lieblingsbeispiel: Alle Besitzer eines Reiheneigenheims leben in und mit der Information, daß sie ‹die Miete in die eigene Tasche zahlen›. Und wenn diese Information nun nicht wirklich nützlich ist? Wenn sie schlicht falsch ist? Nun, dann ist der derzeitige Kulturinsasse zu Recht empört und entrüstet und attribuiert external, denn da ist er ja wohl – von irgendjemandem – ‹falsch› informiert worden. Wenn das nicht weiter hilft, verzweifelt er und zweifelt an gar manchem, um dann in einem Raptus seine gesamte Familie auszulöschen. Nun aber.

Die gängige Lehre über Wesen und Bedeutung von Informationen ist in den Nullerjahren sehr schlicht: Informationen werden von außen an uns herangetragen, wir müssen diese Informationspartikel dann nur noch aufheben, zusammensetzen und zu unserem Vorteil einsetzen. Zu denken gibt es dabei nichts. 1,49€ sind weniger als 1.59€. Mehr gibt es nicht zu überlegen. Und so verstehen wir, warum die Menschen heute zu unserem größten Bedauern kaum mehr Gedanken haben, statt dessen aber bis zum Kognitionsrand mit Informationen und Meinungen begrenzter Art aufgefüllt sind. Ja, es ist außerordentlich lustig, wie Menschen im sogenannten Informationszeitalter tatsächlich glauben, bei Informationen, die etwa der Sender FOX in den USA oder das Blatt FOCUS (interner Spott unserer Redaktion: das Nachrichtenmagazin ohne Nachrichten) verbreiten, handele es sich ‹wirklich› um Informationen. Ach je.

Denn wenn wir uns diese sogenannten Informationen näher betrachten, wenn wir einer Nachricht im Radio lauschen, einem Interview im TV mit dem Generalsekretär einer Partei folgen, die unglaublichen und unsäglichen Kommentare in einem beliebigen Internetforum lesen, die Flyer von Handelsketten betrachten, auf denen vorne regelmäßig ein Stück Frischfleisch abgebildet ist, dann müssen wir uns einer überaus schmerzlichen Überlegung aussetzen: Informationen sind nicht das, als das sie uns erscheinen sollen. Daß Informationen – als Zeiger – klar und deutlich auf eine bestimmte Wirklichkeitswelt da draußen zeigen, ist ein verblasster Mythos. Zum einen aus einer ganz grundsätzlichen und konstruktivistischen Perspektive, zum anderen aus einer final-kapitalistischen. Das schauen wir uns an.


Naive Vorstellungen von ‹Informationen›

Schauen wir in die einschlägigen schwarmintelligenten Internetseiten, dann lesen wir, daß eine Information das ‹Ergebnis eines Erfahrungsprozesses› sei. Ist das nett? Ja, aber wie nett merkt keiner. Es geht aber noch weiter mit dieser völlig schmerzfreien und für ein Bachelor-Studium voll geeigneten Epistemologie: Denn ein ‹Sich informieren› – so die reine naive Lehre – sei immer mit einer Beseitigung oder Verkleinerung von Ungewissheit verbunden. Geht es noch, lieber Leser, liebe Leserin? Könnte das auch unsere Bundeskanzlerin genau so sagen? Ja. Oh je. Dann wissen wir Bescheid. Doch versuchen wir, diese Meinung zu verstehen: Da wird also eine Ungewissheit durch eine Information verringert. Ungewissheit kommt von Wissen, Informationen führen also zu einem Gewinn an Wissen. Das ist der ‹Naive Realismus› wie er leibt und lebt, ist er nicht rührend, anrührend, allerliebst? Wir sollten uns dies noch etwas näher ansehen. Wir zitieren deswegen aus Albertine Devilders beeindruckenden ‹Skizzen einer sozial-konstruktivistischen Psychologie›. Auf Seite 10f. heißt es da:
«‹Das Gehirn verarbeitet Informationen der Außenwelt!› Diese Behauptung ist uns so vertraut, daß wir es gewohnt sind, sie für wahr zu halten. […] Was ist Informationsverarbeitung? Informationsverarbeitung ist die angemessene Handhabung von Symbolen nach bestimmten Regeln. Und was sind Symbole? Symbole sind Zeichen, also Worte, Zahlen, Definitionen, irgendwas, also alles. Und was tun Symbole? Symbole bilden die Wirklichkeit ab, stellen sie dar, repräsentieren sie! Was also ist Informationsverarbeitung? Informationsverarbeitung ist die angemessene Handhabung von Symbolen nach bestimmten Regeln zwecks ‹Abbildung› der Wirklichkeit. Und ein kognitives System, wie unser Gehirn, funktioniert dann einwandfrei, wenn die verwendeten Symbole jeweils einen oder mehrere Aspekte der wirklichen Wirklichkeit da draußen wirklich, angemessen und richtig darstellen, abbilden und repräsentieren. Und die Interaktion zwischen kognitiven Systemen, die Kommunikation, der Diskurs, das Verstehen also, läßt sich dann als ganz einfache Informationsübertragung von einem Sender zu einem Empfänger darstellen. Der Sender enkodiert, der Empfänger dekodiert. Hier gibt es nur die eher geringfügigen Probleme der Kanalkapazität, oder des Kanalrauschens, aber es gibt keine Probleme mit dem, was die enkodierten und dekodierten Symbole repräsentieren sollen, das steht vorher schon fest! Das war’s? Ja.»?
Und was sagen kluge Leute dazu?


Konstruktivistische Vorstellungen von ‹Informationen›

Wir machen – wie immer – nicht viele Worte. Wir zitieren zwei Denker, die wir schätzen. Beginnen wir mit John R. Searle [1] In: Die Wiederentdeckung des Geistes, 1993, München: Artemis & Winkler, S. 246–247.:
«Das ist einer der schlimmsten Fehler in der Kognitionswissenschaft. Der Fehler besteht darin anzunehmen, daß ein Hirn in dem Sinn Information verarbeitet, in dem das beim Computer der Fall ist. [...] Es ist einfach falsch zu sagen, das Hirn verarbeite Information.»
Heinz von Foerster sagt es so [2] In: Sicht und Einsicht, 1985, Braunschweig: Friedrich Vieweg, S. 99.:
«Da die Fallgeschichte dieser modernen Krankheit leicht einen ganzen Band füllen könnte, greife ich nur die sogenannten ‹Systeme der Speicherung und Wiederbereitstellung von Information› heraus. [...] Natürlich speichern diese Systeme keinerlei Information, sie speichern Bücher, Bänder, Mikrofiches oder andere Arten von Dokumenten, und es sind eben diese Bücher, Bänder, Mikrofiches oder andere Dokumente, die wieder hervorgeholt werden, und die nur dann die gewünschte Information liefern, wenn ein menschliches Bewußtsein sie entsprechend verarbeitet. Diese Sammlungen von Dokumenten ‹Systeme der Speicherung und Wiederbereitstellung von Information› zu nennen, ist ebenso falsch wie eine Garage als ‹System der Speicherung und Wiederbereitstellung von Transport› zu bezeichnen.»
Ja was ist denn da los? Ich will mich kurz fassen, und ich weiß, für alle Nicht-Konstruktivisten, die sich in diesen Artikel verirrt haben, wird es jetzt etwas unverständlich: Wir verarbeiten im Rahmen unserer kognitiven Prozesse keine Informationen, «wir stellen sie her». Genauer: Wir erfinden sie. Und die Umwelt enthält keine Informationen, deren Sinn und Bedeutung geradewegs in unser Gehirn trudelten. Das war’s? Ja.

Humberto Maturana sagt es so: «Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.» Und Ernst von Glasersfeld schließt sich dem an: «Alles, was erkannt wird, wird von einem Subjekt erkannt

Wir zitieren noch einmal aus Albertine Devilders oben erwähnten ‹Skizzen einer sozial-konstruktivistischen Psychologie›:
«Das Gehirn läßt sich nicht sinnvoll als Einheit beschreiben, die zielgerichtet den Fluß aufeinanderfolgender Informationen abarbeitet und entschlüsselt. […] Auch der Gedanke, daß einzelne Zeichen und Symbole die Informationsträger darstellen, wird aufgegeben werden. […] Wir müssen uns dem einmaligen Gedanken nähern, daß für uns relevante kognitive Probleme nicht einfach von einer Welt da draußen vorgegeben werden, sondern daß wir unsere kognitiven Aufgaben und Probleme selbst inszenieren, hervorbringen und herstellen. Und die Relevanz unserer kognitiven Aufgaben ergibt sich zum einen schlicht aus dem Kontext, der Kultur, in der wir leben, und zum anderen aus unserer Systemgeschichte, also aus unserer körperlichen und sozialen Tradition.»
Soziale Konstruktivisten sehen die sogenannte Verarbeitung von Informationen also nicht mehr als eine Art Abbildungsmaschinerie oder als Entschlüsselung von Repräsentationen, sondern als kreatives Konstruieren einer Welt. Kognition wird zur Inszenierung, zum Konstruktionsakt! Wir erschaffen uns unsere Welt durch unsere Kognitionen, durch unser gemeinsames soziales Handeln, durch Sprechen. Ein Netzwerk von Sprechakten und Sprachfiguren stellt uns selbst, andere Menschen als unser soziales Gegenüber und die von uns ‹erkannte› Welt her. Und Kommunikation und Interaktion sind natürlich keineswegs irgendwelche Prozesse der Informationsübertragung von einem Sender zu einem Empfänger. Wenn das so wäre, wenn es festgelegte Bedeutungen gäbe, wenn unser Gehirn wie ein Computer funktionieren würde, dann müßten wir eigentlich viel weniger Probleme im zwischenmenschlichen Alltag haben. Dann müßten wir, wenn wir von einem Politiker ein «Das darf nicht zum Tellerrand der Solidaritätsaufgabe der Tagesordnung der Zukunft werden!» hören, denken: «Ach das meint der! Roger! Klaro!» Wir haben aber nichts verstanden, weil es nichts zu verstehen gab.


Über das Lernen von ‹Informationen›

Ich weiß, ich weiß, welcher Einwand nun den geneigten Lesern und Leserinnen, die mit konstruktivistischen Gedanken noch etwas unvertraut sind, als erstes aus dem Munde schlüpft: Ja, aber wie ist es dann mit dem Unterrichten und Lehren. Ein Lehrer sendet doch Informationen aus und trichtert sie ein, und ein Schüler nimmt sie auf, um sie zu einem gegebenen Zeitpunkt als Leistungsnachweis im Rahmen eines Multiple-Choice-Fragebogens wieder auszuspucken. Das ist doch Grundlage unseres auf Exzellenz getrimmten Lehr- und Lern- und Studiensystems, das kann doch nicht falsch sein. Doch.

Wenn wir uns Menschen – lebende Systeme – als autopoietisch organisiert vorstellen, dann sind diese prinzipiell informationell geschlossen. Und das heißt: Geschlossen. Da kommt nix rein, was nicht persönlich reingeholt, genauer, was nicht beim Hereinholen persönlich neu erfunden wurde. Somit kann es keine instruierende Interaktion geben. Somit wäre die Pädagogik neu zu erfinden. Denn wenn in unseren Nullerjahren Lehrer Schülern Wissen eintrichtern oder wenn wir selbst ein Sach-Buch lesen, dann ist in unserem Kulturkreis die verhängnisvolle Vorstellung sehr beliebt, daß da irgendwelche Informationen vom Lehrer zum Schüler oder vom Buch zu uns wandern. Leider beherrscht dieses sinnfreie Bild auch heute noch die meisten Überlegungen zum Begriff Information. Informationen wandern jedoch nicht. Statt dessen verweist in einem Kommunikationsprozeß die eine Seite auf Zeiger und Zeichen (Wörter, Gesten), die von der anderen Seite nicht dekodiert – dies würde ja eine definierte und allgemein gültige Bedeutung eines bestimmten Zeichens voraussetzen – , sondern rekonstruiert werden müssen. Jean Piaget war da mit seinen Begriffen Assimilation und Akkomodation schon nahe dran.

Halten wir die folgenden drei Merksätze für das Lernen von ‹Informationen› fest (Bachelorstudierende müssen sie jetzt leider zwanzig mal abschreiben. Und sorry, dafür gibt es heute keine Punkte):
  • Informationen können niemals von einer Person auf eine andere übertragen werden.
  • Ein autopoietisches System kann eigenes Wissen nur aufbauen, indem es etwas für sich selbst konstruiert und anschließend für sein Wissen hält.
  • Wissen ist niemals ein Abbild der Welt da draußen, sondern immer eine subjektive Konstruktion, die allerdings von einem sozialen Raum vorgeschlagen und nahgelegt wird.


  • Informationen: Ein verblasster Mythos

    Es gab mal eine Phase des kritischen Denkens über den Begriff Information – und über viele andere Begriffe, die so leichtfertig den Menschen aus dem Munde purzeln. Es gab überhaupt mal eine Phase des kritischen Denkens. Diese Phase wird heute verlacht und angegriffen von Leuten, die in ihrem Leben nicht einen einzigen Gedanken hatten. Die Konsequenzen sehen und fühlen wir in den Nullerjahren. Die Begriffe ‹Information›, ‹Wissen› und ‹Empirie› werden mit einer Naivität gehandelt und ihre schiefen Implikationen werden mit einer Inbrunst auswendig gelernt, die kaum zu glauben ist. Aber das muß im finalen Kapitalismus so sein. Es darf keine freien sozialen Räume der Wissenskonstruktion mehr geben. Also hat das Kapital die Universitäten fest im Griff und darf im Rahmen eines unbekümmerten naiven Realismus definieren, was ‹erforscht› wird. Wenn wir also hören, daß wieder einmal etwa ein tolles pharmakologisches Mittel erfunden wurde, welches unbedingt von allen alten Menschen einzunehmen sei, dann können wir bei dieser ‹Information› leider nicht mehr unterscheiden, wem dieses Pharmakon nun dienen soll, dem Kapital oder den alten Menschen.

    Zum verblassten Mythos von Informationen kommt aber noch die politische Perspektive hinzu, die uns den Begriff ‹Information› sehr suspekt erscheinen läßt. Abertausende von Agenturen, Pressevertretern, Interessenvertretern, Öffentlichkeitsarbeitern, Public-Relations-Managern, Lobbyisten, eingebetteten Journalisten, Generalsekretären und schwatzenden Politikern sind ununterbrochen nur damit beschäftigt, für uns solche ‹Informationen› bereit zu stellen, die ein eigentliches Geschehen verschweigen, verhüllen, nivellieren und für unbedeutend erklären und statt dessen eine Gegenwelt herbeizaubern, die Wohlstand und Sicherheit für alle Gutmeinenden verspricht. Es ist also nicht wichtig, was ‹wirklich› geschieht, sondern immer nur, wie darüber gesprochen und berichtet wird. Alles, was geschieht, muß also in der politischen Informationsaufbereitung für die Menschen den Drall kriegen, der den Interessen der Informationsherausgeber entspricht. Wer nur ein wenig seine Sinne noch beisammen hat, erkennt diesen Dauerprozess in der Politik, in den Zeitungen, in den Wissenschaften – ganz ohne Mühe.


    Schmankerl

    Immer, wenn wir in geistiger Not sind, wenn wir heute etwa wegen des leichtfertigen Umgangs mit dem Begriff ‹Information› verzweifeln möchten, tauchen vor unserem geistigen Auge unsere Helden auf, die uns allemal trösten. Heute gehen wir zurück zu Egon Friedell, dessen Gedanken schon viele, viele Traktätchen in unserem ‹Skepsis-Reservat› zieren. Das Folgende ist nicht nur für unsere tapferen Bachelorstudierenden gedacht, sondern für alle, die in ihrem Leben frohen Mutes bleiben wollen:

    «Unser Leben zerfällt in zwei Hälften, und jede dieser Lebenshälften hat eine besondere Aufgabe. In der ersten Lebenshälfte werden uns von allerlei fremden Menschen eine Menge von Ansichten, Urteilen und Meinungen mitgeteilt, und wir haben die Aufgabe, diese Ansichten auswendig zu lernen; in unserer zweiten Lebenshälfte haben wir die Aufgabe, diese Ansichten teils zu vergessen, teils durch ihr Gegenteil zu ersetzen.» [3] Egon Friedell (1993): Abschaffung des Genies. Essays bis 1918. Herausgegeben und mit einem Nachwort "Friedell als Buchautor" von Heribert Illig. Wien: Kremayr & Scheriau. 2. Auflage. Seite 9.



    Erstellt: 14. Juni 2010 – letzte Überarbeitung: 17. Juni 2010
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