BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Aufklärung (2): Krieg»
von Albertine Devilder & Helmut Hansen
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Prolog

Im ersten Teil des ‹Abschieds von der Aufklärung› haben wir gezeigt, daß in Europa der Weg nach ‹rechts› unaufhaltsam zu sein scheint. Unaufgeklärte und autoritäre Menschen mit beachtlichen Intelligenzmängeln wollen kein vereintes Europa ohne Grenzen, in dem jede und jeder sich einen Platz suchen darf. Nein, wegen der engen Grenzen ihrer Vorstellungskraft möchten diese unaufgeklärten und autoritären Menschen lieber unter sich bleiben und strikte Grenzen ziehen. [1] Nur wenn es Grenzen zwischen Ländern gibt, können diese überschritten werden. Gibt es keine Grenzen, wie derzeit in einem Europa der Freizügigkeit, kann es keine Grenzüberschreitungen und Kriege mehr geben.

In diesem zweiten Teil des ‹Abschieds von der Aufklärung› möchten wir über die Gründe nachdenken, warum es derzeit so viele unerbittliche kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Genauer: Warum es Menschen gibt, die Kriege anzetteln, und warum es Menschen gibt, die begeistert losziehen, um andere Menschen zu misshandeln und zu töten.

Normalerweise beginnen Diskurse über Kriege mit sogenannten ‹politischen› oder gar ‹religiösen› Fragen. Da entdeckt ein unaufgeklärter und autoritärer Mensch, der aus welchen Gründen auch immer eine Regierung führt, plötzlich eine winzige Region, eine Insel, die angeblich vor hunderten von Jahren einmal zur ‹eigenen Nation› gehörte. Und diese Region, diese Insel, muß jetzt ‹heim in das eigene Reich› zurück geführt werden. Das bedeutet Krieg. Genau den erleben wir zur Zeit in Europa. Und es wird weiter gehen, wenn etwa die ungarische Regierung, nachdem sie die Europäische Union verlassen mußte, einen Krieg gegen die Slowakei führen wird wegen irgend eines Grenzdorfes, welches 1461 mal zu Ungarn ‹gehörte›. Jede autoritäre Regierung braucht den Krieg, das hat George Orwell schon vor längerer Zeit erkannt und beschrieben.

Menschen führen also Krieg, wie kann das sein? Wir werden im folgenden darüber nachdenken, was Menschen so anfällig macht für anstehende Kriege und für Kriegspropaganda, und das jenseits aller politischen und religiösen Erwägungen. Zwei überraschende Punkte bieten sich an.


Voraussetzung Nummer 1: Naiver Realismus

«Wahrheit sag' ich euch, Wahrheit und immer Wahrheit,
versteht sich: Meine Wahrheit; denn sonst ist mir auch keine bekannt.»
(Johann Wolfgang von Goethe) [2] Aus der bedeutendsten Epigramm-Sammlung des 18. Jahrhunderts, den „Xenien“ von Goethe und Schiller (1796/97), Stichwort Nr. 209: ‹Das Motto›.

Wir haben mit klugen Leuten diskutiert, warum Menschen Kriege führen. Auf den Gedanken, daß dies mit der verbreitetsten Erkenntnistheorie zusammen hängen könnte, ist keiner gekommen. Wenn wir diese Voraussetzung dann erläutert haben, schien sie plötzlich sehr plausibel zu sein.

Wir haben den Naiven Realismus schon oft beschrieben. Er ist die wichtigste erkenntnistheoretische Grundlage für fast alles, was in Alltag und Wissenschaft unternommen wird. Die Meinung, Wirklichkeit sei einfach vorhanden und lasse sich ebenso einfach erkennen und in Worten ausdrücken, ist wohl der populärste Unsinn überhaupt. Bei Politikern und Juristen spüren wir oft, wie sie permanent für uns eine vermeintliche Wirklichkeit in Worte fassen, ohne daß die Worte die Wirklichkeit auch nur berühren. Sie wissen, daß es nicht darum geht, was geschehen ist, sondern, wie darüber gesprochen wird. Und immer wieder erstaunlich ist, mit wie wenigen Worten sich eine Wirklichkeit 2. Ordnung (im Sinne von Watzlawick) herstellen läßt, die mit der Wirklichkeit 1. Ordnung nichts zu tun hat.

Aber das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist die Meinung, daß man einfach nur seinen Kopf hinzuhalten braucht, und schon bilde sich die Wirklichkeit in demselben ab. ‹Ich seh' doch, was ich sehe!› Daß das Sehen, daß das Beobachten ein sozialer Konstruktionsprozess ist, kann von naiven Realisten nicht begriffen werden.

Daß, wie es Hermann Hesse [3] Sprach Siddhartha: «Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein bester Gedanke ist. Er heißt: von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr! Nämlich so: eine Wahrheit läßt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit. Wenn der erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er sie teilen in Sansara und Nirwana, in Täuschung und Wahrheit, in Leid und Erlösung. Man kann nicht anders, es gibt keinen anderen Weg für den, der lehren will. Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig.» In: Hermann Hesse (1982): Die Romane und die grossen Erzählungen. Vierter Band. Siddhartha. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jubiläumsausgabe, Seite 262f. sagt, von jeder Wahrheit das Gegenteil ebenso wahr sein könnte, dies kann kein ‹Naiver Realist› begreifen. Mit Mühe hat er – strikt angeleitet von seinem sozialen Raum – vermeintlich ‹eigene› Wirklichkeitsschneisen in den ihn umgebenden Wirklichkeitsdschungel gehauen, um sich orientieren zu können. Wieso sollte das plötzlich falsch sein, was er allfällig sieht? Naive Realisten kennen keinen Zweifel, keinen Skeptizismus, keine Wirklichkeit zweiter Ordnung. Das ist fatal. Letal.

Und wenn wir uns nun die beiden größten ‹Religionen› betrachten, wird klar, daß sie zutiefst naiv-realistisch daher kommen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.


Voraussetzung Nummer 2: Zweiwertige Logik


«Der Hinweis auf ein Ding, genannt ‹Logik›,
scheint noch immer viele Menschen zu beeindrucken,
aber nur darum,
weil sie nicht zuviel von diesem Gegenstand wissen.»
(Paul Feyerabend) [4] Paul Feyerabend (1984): Wissenschaft als Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Seite 160.

Es ist oft überraschend, wie eigentlich ganz vernünftige und kluge Leute sich in einer zweiwertigen Logik einsperren. Zweiwertige Logik bedeutet, es gibt zur Beurteilung von Aussagen oder Behauptungen genau zwei Werte, zwei Möglichkeiten, ja oder nein. Ein amerikanischer Präsident, dessen Autoritarismus und dessen Intelligenzmängel immer offensichtlich waren, hat zusätzlich zu einer von ihm zu verantwortenden verheerenden kriegerischen Mission («Mission accomplished!»), deren Auswirkungen noch lange zu spüren sein werden, immer betont, entweder sei man für ihn oder gegen ihn. So geht das. Alle Leute mit Intelligenzmängeln argumentieren mit Hilfe der zweiwertigen Logik, also auch alle Menschen, die auf dem Weg nach rechts sind.

Für mich oder gegen mich, schwarz oder weiß, ja oder nein. Geringfügiges Nachdenken könnte dabei helfen, die mangelnde Logik der zweiwertigen Logik zu erkennen. In der Wirklichkeit der sozialen Räume, in denen wir derzeit leben, spielen mehr Möglichkeiten eine Rolle, als es die zweiwertige Logik vorsieht. Für mich oder gegen mich, schwarz oder weiß? Nun, wie wäre es mit einem ‹weder - noch›? Oder gar mit einem ‹sowohl als auch›? Beide Möglichkeiten spiegeln unser Leben viel besser wider.

Er: «Sollen wir jetzt ins Kino gehen? Ja oder Nein?!» Sie: «Ich würde schon ganz gerne gehen. Aber ich würde auch ganz gerne mit Dir zu Hause bleiben!» Ein klassisches ‹Sowohl als auch›.

Er: «Sollen wir jetzt ins Kino gehen? Ja oder Nein?!» Sie: «Ach, weißt Du, viel lieber würde ich mit Dir in der Aubergine essen gehen.» Ein klassisches ‹Weder-noch›. [5] Der aufmerksamen Leserin wird es nicht entgehen, daß es Frauen sind, die die Zwangsjacke der zweiwertigen Logik intuitiv immer wieder abstreifen können. Wunderbar!

Dieses Kino-Beispiel ist von uns bewußt wegen seiner Harmlosigkeit gewählt worden. Transponieren wir es in die Welt der privaten und öffentlichen Auseinandersetzungen, sehen wir die Verlorenheit einer zweiwertigen Argumentation. Für mich oder gegen mich, Freund oder Feind, andere Möglichkeiten werden von unaufgeklärten und autoritären Menschen ausgeschlossen. Das ist fatal. Letal.


Krieg

Wir sind selbst verblüfft über die Triftigkeit unserer einfachen Argumentation in zwei Schritten. Der naive Realismus bildet die eine Hauptfolie. Er zeigt den kleinsten gemeinsamen epistemologischen Nenner, auf den sich fast alle einigen können: Die Welt spiegelt sich in meinem Kopf wider. Wenn andere Menschen die Welt anders sehen, dann kann deren Sichtweise nicht stimmen, denn ich weiß doch, was ich sehe. Man schaue sich nur in den Foren von Zeitungen und Zeitschriften um. Beschimpft und beleidigt werden Menschen, die es sich heraus nehmen, die Welt anders zu sehen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Gewalttätigkeit.

Die zweite Folie ist die Begrenzung unserer Möglichkeitswelt durch die zweiwertige Logik. Ich habe etwas in der Welt gesehen, weil ich es gesehen habe. Wer das anders sieht, kann nun nur mein Feind sein. Stimmst Du mir zu? Ja oder nein? Bist Du für mich oder gegen mich!? [6] Michel de Montaigne sagt es so: «Wer hat je durch Logik Verstand bekommen?» Aus: Michel de Montaigne (1985): Zum Zeitvertreib und um die Phantasie zu tummeln. Aus den Essais gezogen von Karl Bernhard. Zürich: Diogenes Verlag. detebe-Klassiker 21282, S. 63.

Wir sehen, wie sich beide Folien perfekt ergänzen. Sie bilden die weitgehend unbekannte und übersehene Grundlage, um gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu einem Krieg unter dem Beifall von Gleichgesinnten führen zu können. Aus beiden Folien wird das Recht abgeleitet, Andersdenkende zu beschimpfen, und Feinde oder Ungläubige zu misshandeln und zu töten. Eine sehr einfache Welt, die für Menschen mit groben intellektuellen und emotionalen Defiziten attraktiv erscheint.

Und wie im Mittelalter ziehen im Jahr des Herrn 2014 mordende Banden auf Anweisung eines Führers durch bestimmte Länder, als hätte es nie eine Aufklärung, einen demokratischen Gedanken, eine Sehnsucht nach Menschenrechten gegeben. Wie leicht dieser Rückfall fällt, ist erschreckend. Beeinflussen können wir diesen barbarischen Rückfall nicht. Aber vielleicht können wir ihn nun etwas besser verstehen.


Epilog

Wir haben in diesem kleinen Essay bisher immer euphemisierend von Menschen gesprochen. Uns allen ist aber klar, daß Kriege von Männern geführt und alle damit verbundenen Scheußlichkeiten von Männern ausgeführt werden. Der gesunde Menschenverstand bringt in aller Regel hier die weit verbreitete Meinung ein, daß Männer genetisch und hormonell bedingt generell zu Scheußlichkeiten neigten. Da können wir nicht zustimmen. Die geistige und ethische Armut bei einigen Vertretern dieser Spezies ist in bestimmten sozialen Räumen in unserer Kultur hergestellt worden, in denen die beiden oben genannten Voraussetzungen nie hinterfragt werden. Können wir uns einen ‹gebildeten›, achtsamen, skeptischen Mann vorstellen, der freiwillig in den Krieg zieht, um andere Menschen zu quälen, zu morden und zu vergewaltigen? Nein. Denn ‹Ethik und Ästhetik sind Eins› [7] Ludwig Wittgenstein (1984): Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 83..

Die Beantwortung der Frage ‹Person oder Kultur?› ist also eminent wichtig! Wählen wir die Einzelperson als Ursache, können wir unser gesellschaftliches Versagen auf einzelne ‹böse› Männer attribuieren. Wählen wir die Dimension Kultur, können wir unserem eigenen Scheitern nicht entkommen. Oder um es abgewandelt mit Karl Kraus zu sagen: Nicht der einzelne ‹böse› Mann ist das Problem, sondern der Umstand, daß es ihn gibt. [8] Der Aphorismus lautet im Original so: «Objekt ist nie der Gegner, sondern der Umstand, daß es ihn gibt.» In: Die Fackel Nr. 531-543 vom Mai 1920, Seite 134..



Ins Netz gestellt am 30. Oktober 2014
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