BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Vom Globalen im Lokalen - Eine kulturphysiognomische Skizze (Fortsetzung)»
von Helmut Hansen
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Einführung

Vor etwa fünf Jahren habe ich in einer kleinen Studie versucht, den abstrakten Begriff der ‹Globalisierung› mit Leben zu erfüllen, in dem ich beschrieb, wie Geschäftsideen im finalen Kapitalismus in einem konkreten Fall realisiert wurden und welche Auswirkungen dies auf alle Beteiligten hatte. Ich versuchte also, den so fernen und unbestimmten Begriff von der Globalisierung begreifbar und anfaßbar zu machen. Heute möchte ich diese Studie fortsetzen und beschreiben, was alles in den vergangenen Jahren rund um diesen Laden geschehen ist.


Das Globallokal im Jahr 2002

Vor etwa fünf Jahren machte eine neue Geschäftsidee von sich reden, die nicht nur in den Wirtschaftsteilen großbürgerlicher Zeitungen hinreichend gewürdigt wurde, sondern auch sogleich in der besten Lage der Fußgängerzone einer Stadt im Ruhrgebiet umgesetzt wurde: Eine Selbstbedienungsbäckerei. Das Konzept dieses Lokals war, auf einen Bäcker sowie auf Fachverkäuferinnen zu verzichten, sich tiefgekühlte Teigwaren zum billigsten Einkaufspreis auf dem Weltmarkt zu besorgen, sich diese von Hilfskräften im Hintergrund des Globallokals aufbacken und in Regale einräumen zu lassen, um schließlich den zahlreichen Kunden anzubieten, sich Back- und Teigwaren selbst aus den Regalen zu klauben und an der Kasse vorzuzeigen. Sehr wichtig in diesem Globallokal war es nun, daß die Back-Hilfskräfte und die Kassierer oder Kassiererinnen keine ‹normalen› Angestellten mit ‹normalen› Arbeitsverträgen sind, sondern als ‹Schwervermittelbare›, ‹Wiedereingliederungsbedürftige›, ‹Langzeitarbeitslose› oder ‹Ein-Euro-Jobber› von der hiesigen ‹Arbeitsagentur› zur Verfügung gestellt wurden. Zusätzlich war noch auf eine undurchsichtige Weise eine Personalvermietungsfirma involviert, die von den ohnehin geringen gezahlten Löhnen noch ihren Mehrwert abschöpfte. Das ganze Globallokal konnte mit drei bis vier Hilfskräften auskommen, zwei backten die tiefgekühlten Pellets auf, zwei kassierten.


Das Globallokal im Jahr 2007

Zunächst einmal: Das Globallokal existiert noch und es verzeichnet einen regen Zuspruch. Im weiteren Verlauf der oben erwähnten besten Einkaufsstraße haben noch zwei ‹Selbstbedienungsbäckereien› die Geschäftsidee übernommen. Die in der unmittelbaren Nähe gelegenen beiden ‹normalen› Bäckereien, in denen also die Backwaren von Verkäuferinnen über die Ladentheke gereicht wurden, haben dagegen geschlossen. Nur die in der ursprünglichen Studie erwähnte und ebenfalls ganz in der Nähe liegende Bio-Bäckerei hat das Auftauchen der ‹Selbstbedienungsbäckerei› überlebt und erfreut sich ebenfalls eines regen Zuspruchs, obwohl die Preise für die verschiedenen Back- und Teigwaren naturgemäß höher sind.

Gleich geblieben ist der Rückgriff auf Arbeitskräfte, für die es Lohnzuschüsse gibt. Es ist ganz erstaunlich, aber man sieht eine bestimmte Hilfskraft kaum einmal zwei Tage hintereinander. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. So vermeidet es der Besitzer des Globallokals - mit Unterstützung staatlicher Stellen -, Arbeitskräften einen normalen und auskömmlichen Arbeitsvertrag zu geben. Er hat die Herausforderungen der Globalisierung angenommen und ist gut aufgestellt.

Gleich geblieben ist die Klientel, die diesen Laden aufsucht. Kurz zusammen gefaßt könnten wir sie Globalisierungsopfer nennen: Alte Menschen, arme Menschen, viele Angehörige ethnischer Minderheiten in Deutschland. Erstaunlich ist, wie gut die Kunden zu den Menschen passen, die im Globallokal arbeiten müssen.

Gleich geblieben ist auch die Unwirtlichkeit des Ladenlokals, man muß sich einfach mal anschauen, in welcher Häßlichkeit - um nur ein Beispiel zu nennen - verschiedene Doppel- und Mehrfachstecker kreuz und quer durch den Raum miteinander verbunden sind, um die Kasse und einen großen Coca-Cola-Kühlschrank mit Strom zu versorgen. Ich sagte ‹Kasse›, und damit sind wir bei den Änderungen.

Was hat sich geändert? Das Globallokal nennt sich jetzt ‹Ihr fairer Bäcker›. Denn was ist fairer als ein niedriger Preis? Ein gutes Brot? Ach, Unsinn. Menschen kaufen im finalen Kapitalismus kein Brot mehr, sondern ganz buchstäblich einen Preis.

Der hintere Teil des Ladens, in dem die tiefgekühlten Pellets aufgebacken werden, ist heute leider nicht mehr einsehbar. Und es gibt nur noch eine mitten in den Raum gestellte Kasseninsel. Die größte Änderung ist jedoch die Einrichtung eines Imbiß im vorderen, der Einkaufsstraße und Fußgängerzone zugewandten Teil, indem früher Unmengen von Papiertüten zum Verpacken der Backwaren herumlagen. Dieser Imbiß ist so deprimierend, daß ich ihn Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, aus psychohygienischen Gründen schildern muß. Ich muß da eine Last, einen Alptraum loswerden.


Der Globallokalimbiß

Albertine Devilder hat vor einiger Zeit einen ausgezeichneten Essay geschrieben mit dem Titel ‹Abschied von der Mahlzeit›. Hier beschreibt sie eindringlich, daß es in der Postmoderne immer weniger Menschen gibt, die sich an Mahl-Zeiten halten. Man kann es so sagen: Heute ist zu jeder Zeit Mahl-Zeit, Eß-Zeit. Eine eigentliche, hervorgehobene, herausragende Mahl-Zeit, die auch noch gemeinsam mit anderen Menschen gestaltet wird, gibt es nur noch für verschwindend kleine Teile unserer Population. Vermutlich wird es bald ganz vergessen sein, daß man sich über Jahrhunderte zu einer bestimmten Zeit am späten Nachmittag getroffen hat, um gemeinsam wohl zubereitete Speisen einzunehmen.

Damit wir es nicht vergessen: Trink-Zeit ist ebenfalls immer. Insbesondere junge Leute und Schüler und Schülerinnen haben allerlei Trinkvorrichtungen dabei, denn sie scheinen ständig Durst zu haben.

Die Etablierung eines ‹fairen› Imbiß in einem ‹fairen› Globallokal, welches nicht nur billig aussieht, sondern auch noch die billigsten Preise für Backwaren aller Art hat, ist gemäß der herrschenden Ökonomielehre genial. Schon nach wenigen Wochen war der einzige Mitbewerber im Umkreis von 30 Metern ausgeschaltet. Dieser verlangte für eine Bratwurst mit Brötchen 1,50 €, unser Globallokalimbiß aber nur 1 €. Nachdem der Mitbewerber im Wettbewerb nicht mithalten konnte, ist unser Globallokalimbiß nun Monopolist in dieser Lokation und hat deswegen seinen Preis auf 1,10 € erhöht.

Nun muß ich leider die Waren beschreiben, die man im Globallokalimbiß kaufen kann. Es gibt mit Wurst oder Käse belegte Brötchen (ohne Butter oder Margarine oder ein Salatblatt oder ein Sandwich-Spread), eine Bratwurst, Pommes Frittes und einen Leberkäse. Dies ist die beliebteste Ware: Eine dicke Scheibe, die von einem undefinierbaren Fleischkuchen abgeschnitten und in ein trockenes Brötchen gesteckt wird. Sie kostet derzeit 1,10 €.

Vielleicht fragen Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin, was mich an diesen Waren in diesem Globallokalimbiß denn so deprimiert. Ich sage es Ihnen: Ich bin deprimiert, weil ich sehe, wie die in der direkten Umgebung des Globallokalimbiß herumstehenden Kunden diese Waren essen. Bei jedem Wetter. Das ist ganz fürchterlich. Bereits ab 10 Uhr morgens stehen dort alte und klapperige, dicke und aufgeblähte und ganz und gar heruntergekommene Menschen neben jungen Paaren mit einer spezifischen Ethnie, die ein kleines Kind mit dem ‹Leberkäse-Brötchen› füttern. Ist das deren Frühstück?

Auch stehen alle Menschen ein wenig vorgebeugt, um sich nicht zu bekleckern. Die alten klapperigen Leute haben einen ganz trostlosen Ausdruck im Gesicht, denn sie versuchen vorsichtig und ‹anständig› zu essen, man sieht auch, daß es ihnen etwas peinlich ist, dort in aller Öffentlichkeit beim Einnehmen von Speisen betrachtet zu werden; die dicken und aufgeblähten Männer und Frauen sehen nicht so aus, als hätten sie noch nicht gefrühstückt, sie brauchen offensichtlich um 10 Uhr schon wieder eine volle Kalorien-Dröhnung. Sie essen deswegen auch gierig und hastig, ohne Genuß, um schleunigst weiter gehen zu können. Ach, ich habe schon so viele Beobachtungen bei den Kunden dieses Globallokalimbiß gemacht, daß ich ein Buch damit füllen könnte. Doch ich möchte meinen Bericht hier schließen. Denn einige der gesehenen Bilder, insbesondere, wenn es um Familien mit kleinen Kindern geht, verfolgen mich bis in den Schlaf hinein.

Wie komme ich aus diesem wissenschaftlichen Bericht wieder heraus? So: Gestern - und dies war auch der Anlaß, diese schon lange geplante Fortsetzung endlich zu schreiben - verließen eben in dem Moment, in dem ich an dem Globallokal vorbei kam, zwei etwa 30 Jahre alte Männer in dunklen Banker-Anzügen und Krawatte mit jeweils einer kleinen Tüte die ‹Selbstbedienungsbäckerei› und der eine sagte zum anderen: «Hier darfst Du wirklich nur Brötchen und so was kaufen. Die Getränke sind viel zu teuer, da holen sie das wieder rein!»

Diese beiden jungen Männer, gut betucht, gut ausgebildet, gut angestellt, haben das Wesen des finalen Kapitalismus verstanden. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Sie kaufen da, wo es am billigsten ist. Immer. Was sie da kaufen, welche Qualität das hat, was sie da kaufen, wen interessiert das?



Erstellt: 21. August 2007 - letzte Überarbeitung: 21. August 2007
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