BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Sammelsurien»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

Idt is so myn gebreck,
my geit dörch marck und been,
dat sammelsurium,
wen ickt moet hörn und sehn.
(Johann Lauremberg, 1652)

Lieber Leser, liebe Leserin, kennen Sie Schotts Sammelsurium? Konzipiert, verfaßt und gestaltet von Ben Schott, erschienen 2004 im Berlin Verlag? Nein, aber ein ähnliches Buch? Und noch eins? Stimmt, lieber Leser und liebe Leserin, wenn Sie jetzt bei Amazon oder einem anderen Buchladen im Internet das Wort ‹Sammelsurium› eingeben, erhalten Sie mittlerweile an die achtzig verschiedenen Werke, die das bewußte Wort im Titel tragen. Was ist da los? Eine Epidemie? Eine Pandemie? Auf jeden Fall etwas, was eine Kulturphysiognomin interessiert.

Nett ist es, auf den Ursprung des Wortes ‹Sammelsurium› zu schauen. Im unentbehrlichen ‹Digitalen Grimm›, dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, finden wir:
«hamburgisch sammelsûr und sammelrasch, ein ekelhaftes gemüse, von verschiedenen sachen.»
Auch in der ‹Office-Bibliothek› des Bibliographischen Instituts wird diese etymologische Wendung aufgegriffen:
«sauer angemachtes Gericht aus gesammelten Speiseresten.»
Doch gezeigt werden soll mit dem Wort ‹Sammelsurium› auf dies: «scherzhafte bildung zur bezeichnung eines gemengsels, einer schlechten kompilation, eines verwirrten durcheinanders.» (Grimm). Und auf das: Eine «angesammelte Menge verschiedenartigster Dinge. Etwas, was sich mehr oder weniger zufällig beieinander findet und von unterschiedlicher Art und Qualität ist.» (Office-Bibliothek)

Nehmen wir noch einige Synonyme aus der ‹Office-Bibliothek› dazu, um den Konnotationshof des Wortes etwas weiter aufzuspannen : «Allerlei, buntes Durcheinander, Cocktail, Gemisch, Melange, Mischung, Mix, Potpourri, Wirrwarr; (bildungssprachlich): Diversa, Kaleidoskop, Konglomerat, Mixtum compositum, Mixtur; (umgangssprachlich): Kuddelmuddel; Mischmasch.»

Na schön, da haben wir die ‹Bedeutung› des Wortes, um das wir uns in diesem heiteren Traktätchen kümmern werden, ziemlich eingekreist. Jetzt kann ich zum Thema kommen.

Sammelsurien gab es zu allen Zeiten. Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› hat ja in ihrem Arbeitspapier Nr. 11 ganz wunderbar zwischen drei Kulturepochen unterschieden, in denen wir uns als Kulturinsassen tagtäglich, ohne aufzufallen, bewegen können: Romantik, Moderne und Postmoderne. Schauen wir auf die romantische Haltung: Erinnern Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin, wie Werther seiner Liebsten und Angebeteten bestimmte Stellen aus dem ‹Ossian› vorliest, oder wie in Jane Austens ‹Sense ans Sensibility› Christopher Brandon Marianne Dashwood bestimmte Sonette von Shakespeare vorträgt? Ja, einem geliebten Wesen eine Auswahl der ganz eigenen Lieblingsstellen der Literatur anzubieten ist ein allerliebster Brauch.

Aber das gilt auch für andere Genre: Erinnern Sie sich an die Zeit, als es noch Kassetten-Rekorder gab und Sie ganz liebevoll und sorgfältig einzelne Stücke von einer Vinyl-LP auf eine Kassette überspielten, um diese dann mit klopfendem Herzen - der oder dem Geliebten - zum Geschenk zu machen: Sieh mal, welche Musik mir gefällt, gefällt sie auch Dir? Welch rührende, behutsame und umwegreiche ‹Ich›-Öffnung. Welch romantische Selbst-Definition, welch liebe Einladung, an einem ‹Ich› teilzuhaben. Daher ja auch das scheue Herzklopfen, wenn man anderen geliebten Menschen das zeigt, was man selbst liebt.

Heute gibt es keine Kassetten mehr, die idiosynkratischen Musikzusammenstellungen sind allerdings geblieben. Im iTunes-Store kann heute jeder seinen Lieblings-iMix veröffentlichen, bei Promis heißen diese ‹Playlisten›. War in der Romantik die ganz eigene Vorliebe für bestimmte Werke der Literatur oder Musik eben etwas ganz eigenes, in welches nur einige wenige, ja unter Umständen nur eine oder einer eingeweiht wurde, sollen in der Postmoderne möglichst viele Menschen an der ganz eigenen Auswahl teilhaben. Das Private wird zum Öffentlichen.

Während sich bei einer romantischen Haltung das Prestige einer solchen Sammlung aus der vermuteten Wucht der Schönheit des Ausgewählten ergab, erfährt die Kompilation in der Postmoderne ihr Prestige eher aus der Ungewöhnlichkeit der Zusammenstellung. Das heißt, postmoderne Sammelsurien ähneln eher den aus der Kunst bekannten Collagen, Kompositionen also, die aus ganz verschiedenartigen Dingen verschiedenen Ursprungs zusammengefügt oder ‹montiert› sind.

Werfen wir nun einen kulturphysiognomischen Blick auf all diese eingangs erwähnten Bücher. Angefangen hat die eigentliche Pandemie - natürlich gab es schon vorher solche Bücher - wohl mit Ben Schotts Sammelsurium. Und da haben sich viele Autoren und Verlage gedacht: Das können wir auch! Klar. Denn ‹im Prinzip› kann das jeder, der sich bei sich zu Hause fühlt. Das Rezept: Beliebige angebliche Fakten werden in einer großen Unmittelbarkeit eklektizistisch kompiliert, aufgelistet, aneinander gereiht. Wobei man Ben Schott zu Gute halten muß, daß er weiß, was von Fakten zu halten ist: «Viele der Fakten in diesem Buch sind umstritten», heißt es auf Seite 5 der 6. Auflage von 2004. Alle Achtung, das ist eine geradezu wunderbare konstruktivistische Leichtigkeit.

Lustig ist es, wenn sich Leute ein Sammelsurien-Buch kaufen und sich keine Zerstreuung, sondern irgendeine Art Nützlichkeit von dessen Lektüre versprechen. Tja, da gibt es bei den auf die ‹Wirklichkeit› getunten FOCUS-Lesern schon mal Enttäuschungen, wenn sie sich mit ihrem Listen- und Faktenglauben - die Welt kommt ja schließlich in multiple-choice-clustern daher - nicht ernst genommen fühlen. Dann schreiben sie auch schon mal eine Online-Rezension, mit Furor: «Selten habe ich mich so darüber geärgert Geld ausgegeben zu haben. Oder besser: Aus dem Fenster geworfen zu haben! Kann man leider nicht anders sagen.» Köstlich, wenn Tiefpreiskultur, ‹Geiz-ist-geil-Mentalität›, ‹Ich-bin-doch-nicht-blöd- Gewißheit› und Faktenglaube zusammentreffen. Hach!

In den derzeit so populären Sammelsurien-Büchern wird das immer noch strapazierte geflügelte Wort «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» zur allseits akzeptierten Wirklichkeit. Jeder, der eine gewisse Wichtigkeit in sich spürt, erstellt sein eigenes kleines Wirklichkeits-Lexikon, um sofort die ganze Welt daran teilhaben zu lassen. Das ist nett. Postmodern nett. Ein ‹Ich› definiert sich über sein persönliches Lexikon. Wobei es eben nicht um die Qualität der Ingredienzen geht, um den enzyklopädischen Anspruch oder gar um die Ethik der Colllage, nein, nein, die Qualität des persönlichen Lexikons - und damit die ‹Qualität› des ‹Ich› - ergibt sich aus dem besonderen Zutaten-Mix, genauer, aus dem gewollt schrillen Beieinander von Zutaten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Oder anders: Das persönliche Lexikon darf außer dem Verweis auf eben ein ‹Ich› keinen übergeordneten Sinn ergeben, dann macht es Sinn. Alles klar?



Erstellt: 12. Januar 2007 - letzte Überarbeitung: 30. Januar 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.