BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Drei Versuche über die postmoderne ‹Unmittelbarkeit›»
von Albertine Devilder
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Einführung

Die ‹Unmittelbarkeit› ist in Verruf geraten, denn sie ist heute billig zu haben. Jeder kann sich auf sie berufen - und viele tun dies auch nach Herzenslust. Ja, es ist Mode geworden, auf sie zu rekurrieren, und viele Menschen schmücken damit das aus, was sie ihr ‹Ich› nennen, oder exkulpieren es gar mit ihrer Hilfe. Gibt es heute öffentliche und private Diskurse, in denen eine Unmittelbarkeit in dem einen oder anderen Sinn, direkt oder indirekt, nicht auftaucht?

Dieser kleine Essay, diese ‹Zeitansage›, beschäftigt sich mit der ‹Unmittelbarkeit› und dekliniert diese in drei frei gewählten Kontexten. Und sagen möchte ich, daß der offensichtliche Sieg der ‹Unmittelbarkeit› kein Gewinn ist.


Das Wort

Schauen wir zunächst genau aufs Wort und eruieren seinen Konnotationshof [1] Wie so oft, möchte ich diesem großartigen, unerschöpflichen und komfortablen Werk danken: Duden - Das Synonymwörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2004. [Ausgabe auf CD-ROM], damit wir wissen, auf was sich ein Jemand beruft, wenn er sich bewußt oder eher blind mit diesem Wort ausputzt: ‹Unmittelbarkeit› kommt in unserer schönen Sprache in etwa fünf Bedeutungsschattierungen daher:

  • Persönlich: Wenn wir einem Menschen in irgendeinem sozialen Kontext das Wort ‹Unmittelbarkeit› zuschreiben, dann meinen wir, sein Verhalten oder seine Rede sei direkt aus erster Quelle, gleichsam aus dem ‹Persönlichen› herrührend und nicht durch etwas Drittes - wie etwa eine andere Person oder eine äußere Anregung - vermittelt.
  • Nah: Ein wesentlicher weiterer Aspekt der ‹Unmittelbarkeit› ist die Vorstellung, daß das unmittelbare Verhalten oder die unmittelbare Rede durch keinen räumlichen oder zeitlichen Abstand getrennt ist vom auslösenden Agens in der ‹Person›. Wem das zu kompliziert ist: Ein sich mit einer ‹Unmittelbarkeit› herausstaffierender Mitmensch wird Wert darauf legen, daß er ein ‹Gefühl› in dem Moment äußert, in dem es ihm einfällt. (Nur nebenbei: Damit ist über die Psychologie der Gefühle alles gesagt.)
  • Direkt: Dieser dritte Aspekt ist in der heutigen Verwendung ein sehr wesentlicher. ‹Unmittelbarkeit› ist etwas, welches keine Umwege kennt: Verhalten und Rede müssen hier ad hoc erscheinen, also geradewegs, freiheraus, impulsiv, spontan, im Überschwang, ohne Umschweife, ohne nachzudenken, ohne zu zögern, unverblümt, unverhohlen, ungeplant, ungesteuert, unumwunden und unüberlegt.
  • Schnell: Der vierte Bedeutungsteilhof bekräftigt den dritten Aspekt, in dem er deutlich macht, daß ein sich auf eine ‹Unmittelbarkeit› berufendes Verhalten nicht nur ohne Umwege gezeigt werden muß, sondern auch immer etwas haben sollte, welches auf Eile verweist: Eine entsprechende Lebensäußerung sollte also auf Anhieb, sofort, auf der Stelle, auf dem schnellsten Weg, augenblicklich, eilends, flugs und schleunigst erfolgen.
  • Freiwillig: Dieser Punkt bringt eine weitere Facette dazu, die dem ersten Punkt sehr nahe kommt. In der Rede über die ‹Unmittelbarkeit› ist es nicht nur wichtig, als Ursache oder Quelle des unmittelbaren Verhaltens einen Personenagenten zu hypostasieren, nein, dieser muß auch noch sua sponte, in gänzlicher Freiwilligkeit, von selbst, von sich aus, aus eigenem Antrieb, aus freien Stücken, selbstgesteuert, selbstständig und selbsttätig seine unmittelbaren Verhaltenszeichen aus seinem inneren Kosmos schöpfen.

  • Nun, liebe Leser und Leserinnen, ein bescheidener Anfang ist gemacht, im folgenden möchte ich drei Zeichen der Zeit ansagen, die um das bisher Gesagte kreisen.


    Das ‹unmittelbare› ‹Ich›
    «Wenn ich privat bin, möchte ich schon auch Mensch sein.»
    (Annett Louisan)

    Über das, was die Menschen gemeinhin ein ‹Ich› nennen, ist in diesem Skepsis-Reservat schon vieles geschrieben worden. Blättern Sie doch einmal in Henriette Orheims «So viel ‹Ich› war nie»! Dort finden Sie etwa dies:

    «Und natürlich ist das ‹Ich› offen und ehrlich. Damit ist gemeint, alles was diesem ‹Ich› aus dem Mund fällt, fällt dem ‹Ich› aus dem Mund, denn es mußte mal gesagt werden. Wahrheitsgehalt für das ‹Ich›? 100 %. Und wenn nicht? Ist nicht das Problem des ‹Ich›.[...] Ach, herrlich! Das ‹Ich› ist fein raus. Das ‹Ich› macht, was es will. Die Welt da draußen wird spielend abgetrumpft. Der Rest, die ‹Umgebung›, ist Kulisse, Staffage, Bühne. Es gibt überhaupt keinen sozial relevanten Raum mehr, nur noch einen ‹Ich›-Raum. Klar, nervend ist schon, daß dem ‹Ich› manchmal irgendwas im Wege steht, Wirklichkeit in sozialen Räumen eben, oder angetragene Gefühle, mein Gott, lästig, aber letztlich berührt es nichts und niemanden, das ‹Ich› läßt sich nicht berühren, kann nicht berührt werden, steht außerhalb aller Gemeinschaften, ist für sich. Das ‹Ich› bleibt ‹Ich›, zur Not helfen auch mal Pillen. ‹Ich› empfinde. Wer?»

    Tja, so schön und ‹unmittelbar› schreibt nur Henriette. Deswegen sollten Sie aus ihrem Essay «Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche» noch dieses lesen:

    «In der Romantik hatte ein ‹Ich› eine Tiefenstruktur, ein Geheimnis, ein Sehnen, Unerklärliches, Rätselhaftes: Was wir sahen, war allerhöchstens die Spitze eines Eisberges. [...] Und in der Moderne hatte ein ‹Ich› eine Positionswürde, eine Respektabilität, die in aller Regel auf einer (formalen, nicht wirklichen ) Ausbildung, auf Wissen und Erfahrung beruhte. Und in der Postmoderne? Das ‹Ich› zeigt Oberfläche! Kein Eisberg weit und breit! Das ‹Ich› als flächige Eisscholle. [...] Zweidimensional. Und dies bedeutet: Das ‹Ich› ist Inszenierung. Das ‹Ich› ist Veranstaltung. Das ‹Ich› sieht sich als Objekt, welches meistbietend zu verkaufen ist. Das ‹Ich› als einzigartige, individuelle und unter Schmerzen gestaltete Benutzeroberfläche, als Showroom, als Austellungszone, als Messestand auf der täglichen ‹Ich›-Messe, als Wirtschaftsstandort, als Kampfzone, ja als Standortvorteil, wenn es denn entsprechend aussieht.»

    Tja, ein ‹Ich› ist in der Postmoderne schon eine großartige Angelegenheit, die auf der erstaunlichen Vermutung beruht, daß ein ‹Ich› schon wisse, was es wolle und was gut für es sei. Dies gipfelt nun schon seit etwa 20 Jahren in dem sozio-kulturell gesehen zwar aberwitzigen, aber doch sehr lustigen Satz, daß jeder jedes ganz für sich persönlich ‹entscheiden› müsse, was es zu entscheiden gebe. Je, nun, aber was gibt es denn zu entscheiden? Ach, das haben wir gleich: Hier die Übersetzung für den Endverbraucher: «Nehmen Sie den roten, den grünen, den lila oder den blauen Pausen-Nasch-Snack. Welchen Sie nehmen, das können Sie nur ganz persönlich selbst entscheiden!»

    Interessant ist nun, daß in der Postmoderne verschiedene Wege der ‹Unmittelbarkeit› des ‹Ichs› zusammenlaufen: Da kommt von der einen Seite die proletische [2] Die Bochumer Arbeitsgruppe hat in ihrem Arbeitspapier Nr. 14 die Unterscheidung zwischen Proletariern und Proleten getroffen (vgl. dort Seite 40) und das Wort ‹proletisch› eingeführt (siehe ebenda, Seite 41), welches ich hier gerne aufgreife. Direktheit, die nicht nur ohne Umschweife und ohne Etikette auch Unangenehmes oder Unangemessenes auszudrücken pflegt, sondern auch ganz direkt bei sich ist: «Ich bin einfach der Zlatko. Ich laß mich nicht verbiegen. Ich verstelle mich nicht. Ich bin so wie ich bin!» [3] Liebe Leser und Leserinnen, können Sie sich noch an ‹Zlatko› erinnern, der völlig zu Recht für eine kurze Zeit als Ikone des postmodernen Fernsehens gefeiert wurde, da er unfallfrei mehrere Male hintereinander das Wort ‹Ich›: aufsagen konnte?, und von der anderen Seite die sozialliberale Öko-Unmittelbarkeit der sich ausdrückenden ‹Ich›-Ausdrücklichkeit: «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.» [4] Claudia Roth sagte dies im März 2001 auf einer Partei-Versammlung der ‹Grünen›, in der sie anschlie-ßend zur Parteivorsitzenden erkoren wurde. Ist das nicht spannend, wie sich beide Seiten hier in diesem Satz finden?

    Und was lernen wir daraus? Nun, die sozial konstruierte und derzeit pervasiv gepriesene Trivialität, daß jedes ‹Ich› sich selbst am nächsten sei und zu allererst auf sich selbst zu achten habe und daß ‹alles› gut sei, solange man ‹bei sich› sei. Allerdings kommt kein sein ‹Ich› gerade mal wieder ‹ausdrückender› Mensch auf den Gedanken, daß die Herren des Wörterbuchs in einer Zeit der völligen Entsolidarisierung und Entsozialisierung den immer weniger ‹Gebrauchten› nur zu gerne ein ‹Ich› einräumen, natürlich nur solange, wie sie die Herrschaft über dessen ‹Meinungen› haben. Denn was da so schnell und direkt aus den Mündern der vielen ‹Ichs› purzelt, das sind eben nicht deren eigene Meinungen.

    Es ist schon erstaunlich, was hier wie konvergiert. Zu Beginn dieses Jahrtausends ist festzuhalten, daß fast jeder Mitmensch darauf besteht, ein einzigartiges ‹Ich› zu haben, welches sich insbesondere und in vornehmster Weise nah, direkt, schnell und freiwillig darin zeigt, daß es - ganz persönlich - nicht nur zu vielfältigen Einschätzungen in der Lage ist, sondern diese auch noch hurtigst, nach einem kurzen Blick nach innen, also ‹unmittelbar›, liefern kann. So wird die leere ‹Unmittelbarkeit› von ‹Ich›-Äußerungen zu einer Zumutung. Und verschlimmert wird diese Rücksichtslosigkeit durch die von vielen getragene Vermutung, je ‹unmittelbarer› eine ‹Ich›-Geste daher komme, desto ‹wahrhaftiger› sei sie. Schrecklich.

    Halten wir fest: Das ‹unmittelbare ‹Ich› ist durch keinerlei Bedacht von dem getrennt, was es für sein ‹Ich› hält. Eine ‹Unmittelbarkeit› als achtsame und Zeit erfordernde Gnosis ist kaum denkbar. Das ‹unmittelbare› Ich ist im finalen Kapitalismus der Postmoderne zu einem ‹Spontanseinmüssen› verdammt. Deswegen sind auch vielfältige ‹kulturelle› Formate in TV und Theater so eingerichtet, daß sie eine spezifische Direktheit geradezu feiern. Ich komme darauf zurück.


    Der ‹unmittelbare› Politiker

    Über den von uns so genannten ‹finalen Kapitalismus› und den damit verbundenen ‹Abschied vom homo politicus› ist schon manches in diesem Skepsis-Reservat geschrieben worden. So sagen Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen in ihrem Essay «Abschied vom Staat»:

    «Die Aufgabe des finalen Staates ist es, Kapital und Wirtschaft mit Milliarden an ‹Transferleistungen› und ‹Wirtschaftsförderungen› bei Laune zu halten und keine Gesetze zu beschließen, die Kapital und Wirtschaft mißfallen könnten. Ja, wir können sagen, daß Staat und Demokratie kapituliert haben vor den Interessen der Wirtschaft. Der Staat wagt es nicht mehr, sich für die Interessen aller Bürger einzusetzen. Er ist eine schwindende, machtlose Hülse geworden, die tatkräftig nur noch das genuine Geschäft der Wirtschaft besorgt - und dabei allerdings abertausende von Stellen (mit Pensionsberechtigung) für Parteimitglieder schafft.
    Es gibt verschiedene Umschreibungen für das, was der Staat noch besorgen soll. Die einen reden vom schlanken Staat oder der ‹Rückführung› von Aufgaben und meinen damit, seine angesagte Aufgabe sei heute eine umfassende ‹Deregulierung›, damit jeder, der etwas unternehmen wolle, dies auch - ungebremst durch bürokratischen Schnickschnack, gewerkschaftlich-ideologische Verstiegenheiten und ideologisch motivierten Umweltschutz oder gar Tierschutz - tun könne.
    Die anderen reden vom ‹Standort› Deutschland und meinen mit diesem aus der Kriegsführung entlehnten Begriff nur, der Staat solle sich bemühen, einen für das Kapital günstigen Wirtschaftsstandort einzurichten, in dem die Löhne und vor allem die ‹Lohn-Nebenkosten› - die ja den ganzen überflüssigen ‹Sozial-Klimbim› widerspiegeln - möglichst niedrig gehalten werden: Der Wirtschaftsstandort als Niedrig-Lohnort, nicht als Lebensraum der Bürger.»


    Die Aufgabe eines postmodernen Politikers ist es nun, auf der einen Seite den Staat alter Ordnung abzubauen, die ehemalig genuinen Staatsaufgaben zu ‹privatisieren›, das Staats-Vermögen an das Kapital zu verkaufen und die Chancengleichheit aller Bürger zu beseitigen, und auf der anderen Seite aber allen Bürgern zu erzählen, dem sei nicht so. Der ‹schwarze Konstruktivismus› postmoderner Politik gipfelt ja in dem Satz, daß nicht entscheidend sei, was geschehe, sondern, wie darüber gesprochen werde. Wenn wir also zum Beispiel hören, es gebe bald ein neues ‹Verbraucherschutzgesetz›, können wir todsicher davon ausgehen, daß dieses Gesetz das Kapital vor den Verbrauchern schützt, und nicht umgekehrt.

    Wenn wir uns nun den Prototypen des postmodernen Politikers ansehen und untersuchen, wie arg es mit ihm bestellt ist, dann sehen wir, wie der Begriff der ‹Unmittelbarkeit› auch hier eine bedeutende Rolle spielt. Immer nah am Geschehen dran - ob Naturkatastrophe, Kabinettssitzung, Feuerwehrball oder ‹terroristischer Anschlag› - ‹zeigt› der Politiker ganz prototypisch sein unmittelbares und waches Dabeisein. Und die ‹Unmittelbarkeit› ist eines der wesentlichsten Merkmale beim ‹so tun, als ob› sich Politiker ganz direkt und spontan um alle Probleme kümmerten, die jeden Tag neu als Problemsau durch das Mediendorf gejagt werden. Dabei sind Politiker heute ganz unmittelbar «anmaßend wie alles beschränkte» [5] Alexander von Humboldt (2004): Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich. Sonderband der ‹Anderen Bibliothek›. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. Seite 17.. Und natürlich sind sie immer exzellent gekleidet, denn sie sagen sich: «Was ich nicht weiß, das habe ich an».

    Die ‹Unmittelbarkeit› des Politikers ist zu einer Forderung geworden. Und die Kümmerung sieht dann so aus, daß im Brustton der Überzeugung irgendwelche hanebüchenen Vorschläge in Funk und Fernsehen heraus geplappert werden, die dem vom Tages-Problem genötigten Bürger eine Instant-Erleichterung verschaffen sollen. Ja, die Forderung nach Unmittelbarkeit verlockt Politiker, zu jedem zu kommentierenden Ereignis das unmittelbar Naheliegendste und damit Dümmste sagen zu müssen. Am nächsten Tag steht dieser hanebüchene Vorschlag in den Zeitungen, und am übernächsten Tag ist er schon wieder vergessen, da der postmoderne Politiker schon wieder ganz unmittelbar, engagiert, kraftvoll und handlungsorientiert eine neue Problemlösung für ein neues Tages-Problem in den Medien unterbringt. Nur nebenbei: Ich sagte ‹Tages-Problem›. Das soll uns darauf stoßen, daß die eigentlichen, übergreifenden Probleme in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› schon lange nicht mehr zu lösen sind.

    Da sich nun die ‹schlimmste Lichtquelle› der Welt und die größte ‹Schmierlappenzeitung› unseres Landes täglich bemühen, die Anzahl primärer und sekundärer Analphabeten zu erhöhen, vertrauen auch postmoderne Politiker nicht mehr ihrem gesprochenen Wort allein, sondern sie inszenieren ihre Worte, sie bemühen sich, die von ihnen erwünschten Konnotationen zu dem eben gesprochenen Wort vorzuspielen, vorzuführen und auf die Bühne zu bringen. Und das machen sie mit diesem unverzeihlich schlecht inszenierten Ausdruck von Entschlossenheit und Tatkräftigkeit in ihrem Antlitz. Politiker wissen: Vom Boulevard lernen, heißt, immer auf Augenhöhe mit den Wählern zu sein. Deswegen geben sie sich als kakophonierende, «polternde Analphabeten an der Macht» [6] Thomas Bernhard (1982): Beton. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Seite 88..

    Tja, das Fazit ist naheliegend: Postmoderne ‹unmittelbare› Politiker nutzen die Gleichschaltung der am TV-Tropf und an der ‹Schmierlappenzeitung› hängenden Ohnmächtigen, denn sie wissen, daß sie auf die Dummheit und Gemeinheit der Menschen setzen müssen, um eben diese Dummheit und Gemeinheit für ihre Zwecke ausnutzen zu können. Natürlich sagen sie ihren dummen und gemeinen Wählern bei jeder Gelegenheit, diese seien klug und ‹menschlich›.

    Da Politiker heute immer unmittelbar, schnell und direkt sein müssen, lernen sie nie zu denken. So bleiben sie schon allein deswegen immer auf der Entwicklungsstufe stehen, auf der das Denken nicht in Leben mündet. Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen sagen es in ihrem Essay ‹Abschied vom Staat› so:

    «Es ist auf Anhieb verständlich, daß die neuen Aufgaben des Staates und der Politik einen neuen Typus von Politiker hervorbringen. Dieser trägt nicht mehr schwer an allerlei ethischen, philosophischen und politischen Erwägungen, dieser grübelt nicht mehr, wie er das Leben der Bürger schöner gestalten könnte, dieser ist nicht mehr der Idee einer Pólis verbunden, nein, er sieht sich dazu berufen, den ‹Wirtschaftsstandort› Deutschland zu fördern, indem er ausschließlich die Interessen des Kapitals als seine eigenen vertritt. Darüber hinaus ist er nur noch seinem Gewissen verpflichtet, und dies heißt, der Politiker neuen Typs muß dafür sorgen, daß er angemessen vom Kapital alimentiert wird. Geschult darin, ein ehrliches Gesicht aufzusetzen, schöne Sätze aufzusagen und Handlungsfähigkeit zu zeigen, arbeitet der Politiker neuen Typs nicht mehr am ‹Allgemeinwohl›, sondern er betreibt seine eigenen Geschäfte.»


    Das ‹unmittelbare› Theater

    Über das TV zu reden, erübrigt sich. Es ist alles gesagt. Unsere ‹zehn Thesen zum TV› sind zeitlos. Eigentlich hat die Bochumer Arbeitsgruppe auch über das postmoderne Theater alles gesagt [7] Vgl. das Arbeitspapier Nr. 11, ab Seite 32: «Das Drumherum, die Inszenierung ist wichtig geworden (insbesondere, wenn alte Klassiker schrill und "respektlos" so inszeniert werden, daß sie nicht wiederzu-erkennen sind) [...] Es gibt kaum Ruhepunkte oder Standpunkte, und Aussagen, Ziele oder Botschaften sind fortgefallen. Auffallend ist die Respektlosigkeit vor irgendwelchen Traditionen. Alles läßt sich heran-ziehen, alles darf zitiert oder karikiert werden. Fast täglich werden von Theaterleuten, die gern den Bür-gerschreck spielen wollen, Tabus gebrochen, um Reaktionen bei den ZuschauerInnen zu erzeugen. Die Frage ist nur, welche Tabus können denn noch verletzt werden, seit die Massenmedien allabendlich die scheußlichsten Grausamkeiten weltweit servieren?». Was mich aber nun seit Jahren bedrückt, ist der immer weiter zunehmende Transport von TV-Stilmitteln ins Theater. Oder anders: Das postmoderne ‹Regie-Theater› äfft die doch niemals zu toppende ‹Unmittelbarkeit› und proletische Ästhetik des TVs nach. Warum nur? Tja, wenn ich das wüßte.

    Ich möchte mich auf ein einziges Zeichen beschränken und über die vielen anderen einen Mantel des barmherzigen Schweigens decken: Warum führen im postmodernen Regietheater immer mehr Schauspieler und Schauspielerinnen ihre primären Geschlechtsmerkmale vor? Warum muß ich gerade in einem klassischen Theaterstück - sagen wir mal ‹Iphigenie auf Tauris› von Johann Wolfgang von Goethe - damit rechnen? Eine gute Frage, eine komische Frage, eine entlarvende Frage? Und wem reißt diese Frage die Maske vom Gesicht? Mir oder dem postmodernen Regie-Theater?

    Nun, ich bin sehr glücklich, mit dieser Frage nicht mehr alleine da zu stehen, denn Jan Philipp Reemtsma hat sich ihr unlängst in seiner «Was wird aus Hansens Garten?» genannten Rede [8] Jan Philipp Reemtsma (2005): Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst. München: C.H. Beck. Seite 9 bis 41. angeschlossen: «Besteht tatsächlich die Befürchtung, das Publikum könne nur noch begreifen, daß es auf der Bühne um Sexualität geht, wenn sie in actu vorgeführt wird oder die dafür verwendeten Körperteile ad oculos demonstriert werden?» [9] Jan Philipp Reemtsma (2005), a.a.O. Seite 39.

    Und Jan Philipp Reemstma klagt: «Es geht darum, ein paar Orte zu haben, an denen Unmittelbarkeit und Spontaneität nicht ihre narzisstischen und masturbatorischen Selbstfeiern des totalen Indikativs abhalten. Und wenn dann die Theater leer bleiben? Dann bleiben sie eben leer. Und das Publikum sitzt vor den Fernsehschirmen und beobachtet, wie eine Gruppe von Leuten, die von morgens bis abends bei allem und jedem gefilmt werden, ihr trostloses Leben zunehmend (wie das Publikum hofft) zänkisch und obszön vor sich hin lebt.» [10] Jan Philipp Reemtsma (2005), a.a.O. Seite 39.

    Tja, vermutlich ist es so. Über das Dauer-Programm ‹Unmittelbarkeit› ist in unserer Kultur etwas verloren gegangen, ist etwas besiegt worden, was wir Symbolisierungsfähigkeit nennen könnten. Ich komme im nächsten Abschnitt darauf zurück.


    Über das Besiegte

    Nach der Einführung zu diesem kleinen und ungelenken Essay schrieb ich, daß derzeit dem Wort ‹Unmittelbarkeit› in unserer schönen Sprache etwa fünf Bedeutungen angeheftet werden können. Ich möchte diese Bedeutungshöfe noch einmal als Etikett vorstellen und bei jedem einzelnen nach Alternativen oder zumindest Erträglichkeiten suchen. Vielleicht sehen Sie sich die oben genannten Bedeutungsschattierungen der ‹Unmittelbarkeit› eben noch einmal an?

  • Persönlich: Ach, wie schön wäre es, wenn wir einmal statt einer ‹ratternden Konversationsmaschine› [11] Vgl. Berger, P. L. & Luckmann, T. (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit : Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main : Fischer Verlag. Siehe auch unser Arbeitspapier Nr. 7. ganz ‹unmittelbar› persönliche Gedanken eines Menschen hören - oder wenigstens persönliche Denkbewegungen erleben würden. Vermutlich haben nur Psychiater dieses Privileg, und die wissen damit leider nichts besseres anzufangen, als dieses unmittelbar ‹Persönliche› mit Medikamenten wegzudämpfen.
  • Nah: Ach, wie schön wäre es, wenn mal hin und wieder ein zeitlicher oder räumlicher Abstand Reaktion von Aktion trennen würde! Wie angenehm wären Refraktärphasen, Bedachtsamkeit, Achtsamkeit!
  • Direkt: Ach, wie schön wäre es, wenn wir zumindest gelegentlich erleben dürften, wie etwas gewunden und überlegt, mit Umschweife und Unterschwang, ja mit Fug und Glimpf an unsere Ohren klopfen würde!
  • Schnell: Ach, wie schön wäre die Wiederentdeckung einer betulichen Langsamkeit, in der sich Gedanken beim Sprechen formen!
  • Freiwillig: Ach, wie schön wäre es, sich mit jemandem in einem Diskurs zu finden, in dem wir tatsächlich, aus freien Stücken, ohne Zitate und das Blinzeln auf soziale Positionen, uns wechselseitig an etwas teilhaben lassen, was uns beschäftigt?

  • Sie sehen, lieber Leser und liebe Leserin, ich rede hier einer ‹Unmittelbarkeit› das Wort, welche sich von der derzeit tradierten erheblich und triftig unterscheidet. Und diese Unterscheidung kann ich vielleicht so ausdrücken: Eine mir gefallende ‹Unmittelbarkeit› hat etwas mit einer apperzipierten aktuellen Gegenwart, einer aufmerksamen Gegenwartskonstruktion, einem Gewahrwerden, einem Innewerden zu tun. Und diese ‹Unmittelbarkeit› des Erfassens und Reflektierens ist nur mit einer ausgeprägten Symbolisierungsfähigkeit zu haben. Was ist schon diese Welt, wenn wir sie nicht mit schönen Metaphern und Symbolen umschmeicheln?

    Jan Philipp Reemtsma wählt in unserem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einer Welt des Indikativs und einer des Konjunktivs. In der Welt des Indikativs ist alles ‹wirklich› da und zum Sofortverzehr geeignet. Das ist die gegenwärtige Welt der absoluten ‹Unmittelbarkeit›! In dieser Welt kann es keine Beobachtung zweiter Ordnung geben. Man tut und sagt, was man tut und sagt. Alles ist klar und eindeutig. Reflektionsschleifen erscheinen hier lächerlich.

    Eine ausgeprägte Symbolisierungsfähigkeit, die Liebe zum Wort und die Welt des ‹Konjunktivs› aber halten Möglichkeiten bereit, von denen die vielen vielen ‹unmittelbaren› ‹Ichs› nichts ahnen. Robert Musil sagt es in seinem Roman ‹Der Mann ohne Eigenschaften› so, und damit möchte ich meine Versuche über die postmoderne ‹Unmittelbarkeit› schließen:

    «Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, [...] dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. [...] Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten.» [12] Robert Musil (1981): Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt Verlag. Seite 16.



    Erstellt: 7. September 2006 - letzte Überarbeitung: 21. September 2006
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