BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ein postmoderner Fluch: ‹Sei, der du bist›!»
von Helmut Hansen
Als PDF-Datei laden

Intro

Lieber Leser, liebe Leserin, vermutlich haben Sie beim Lesen des Titels sogleich an einen vielzitierten Aphorismus von Peter Altenberg (1859-1919) – den Erfinder des modernen literarischen Impressionismus – gedacht, der einmal gesagt hat:

«Sei, der du bist, nicht mehr, nicht weniger, aber der sei!»

Und sofort danach haben Sie sich vermutlich gefragt, was denn dieser so eingängige und plausible Satz mit einem Fluch zu tun haben soll. Gemach! Da heute die Quelle allen Wissens im virtuellen Netz aller Netze liegt, verwundert es Sie und mich nicht, daß es ein ‹Sei, der du bist› bei Google auf etwa 15.000 Fundstellen bringt, und daß sich insbesondere selbsternannte Heilsbringer und Seelenklempner mit diesem Zitat schmücken. Offensichtlich trifft der zu Beginn des ganz großen Projektes der Moderne geprägte Satz auch einhundert Jahre später – auf dem Höhepunkt der Postmoderne – noch einen Nerv und zwar den Hauptnerv. Noch? Oh nein, wieder! Und jetzt erst recht! Doch noch einmal: Gemach!


Vom ‹Ich›

Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› hat in dem ganz und gar überzeugenden Arbeitspapier Nr. 11 die wesentlichen Unterschiede zwischen den Kulturepochen der Romantik, Moderne und Postmoderne herausgearbeitet und insbesondere die vielfältigen psychologischen Veränderungen beschrieben, die heute bei der Betrachtung unserer Mitmenschen ins Auge springen. Denn romantische, moderne und postmoderne Personen unterscheiden sich. Erheblich. Im Arbeitspapier Nr. 14 hat die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› diese Beobachtungen fortgesetzt und sich insbesondere mit dem Phänomen des postmodernen ‹Ichs› im finalen Kapitalismus beschäftigt. Auf Seite 23 der von der BOAG-Seite herunterladbaren PDF-Version des Arbeitspapier Nr. 14 heißt es:

«Das ‹Ich›, das kleine krumpelige Selbst, scheint heute die einzige Konstante zu sein, an die ein medienbewegter Kulturinsasse noch glauben kann. Und die Konsistenz des Subjekts speist sich gerade aus dem Verhältnis zur beschleunigten Umwelt. Denn im Abgleich mit der Veränderungsgeschwindigkeit der Umgebung atmet man auf, wenn das ‹Ich› als gleich bleibende, lauwarme Instanz erkannt wird. Das ‹Ich› wird heute ganz ohne Selbstironie verteidigt und mit Waren ausgeschmückt. […] ‹Ich› bleibt ‹Ich›. Das heißt aber: Das ‹Ich› als vermeintliche Institution bleibt in der Postmoderne unbehelligt, denn es wird noch gebraucht. Ganz ohne Ironie.»

Wie einfach es für die ‹Herren des Wörterbuchs› ist, die heutigen ‹Ichs› mit erwünschten Accessoires und Markenzeichen auszustatten und ihnen dabei gleichzeitig das ‹Ich› zu stehlen, haben die Autoren und Autorinnen des Skepsis-Reservates in zahlreichen Essays beschrieben. Im oben erwähnten Arbeitspapier Nr. 14 heißt es auf Seite 25 der PDF-Version:

«In der heutigen spektaklistischen Gesellschaft [sehen wir] viele Menschen, die sich gerne am geistig, moralisch und ästhetisch immer tiefer sinkenden Medientrash erfreuen und sich so bevölkern lassen von beliebig stammelnden oder krakeelenden Stimmen. Diese nehmen sie dann begierig in sich auf und übernehmen sie als Ich-Geschichte, bis sie schließlich einen Flickenteppich von Texten und Geschichten als ihr ‹eigenes Ich› präsentieren können und parat haben. Da es das Kapital darauf angelegt hat, Hochkultur langfristig überflüssig zu machen und mit Tiefkultur die Überflüssigen und Arbeitslosen von der Straße fern- und an der schlimmsten Lichtquelle der Welt festzuhalten, zeigen sich die meisten Menschen in der Postmoderne als adäquat angepaßte, farblose Masse im Kulturbrei aus Medien und Markt.»

Für Wirklichkeitsprüfer und Kulturphysiognomen ist es immer wieder überraschend, wie bereitwillig und hurtig sich diese oder jene Meinung in den ‹Ichs› etablieren oder wie sich diese oder jene ‹Überzeugung› impfen läßt. Dem postmodernen ‹Ich› fliegt alles zu, was ihm zufliegen soll, völlig überfüllt und bevölkert zeigt es eine bewußtlose Patchworkidentität und wird zu einem Kleidungs- und Meinungsständer, der täglich – als kleinster gemeinsamer Nenner – zu sich sagt: «Ich bin doch nicht blöd!»

«Ein überraschendes Detail findet sich allerdings: Die Kulturinsassen halten trotz dieser Fragmentarisierung der Person ganz modern bis romantisch an der Idee eines Wesenskerns fest und glauben so an ein wahres ‹Ich›. Und alle am Markt Beteiligten bestärken sie täglich in dieser Meinung.» (Arbeitspapier Nr. 14, Seite 25)

Der Aphorismus ‹Sei, der du bist› trifft heute also genau den Kern des fehlenden Wesenskerns und es ist gerade deswegen so wichtig, ihn permanent zu wiederholen. In einem Titelsong zu irgendeiner ‹Big-Brother›-Staffel hieß es zum Beispiel:

«Schau in den Spiegel, schau ganz tief in dich rein, wenn du dich noch erkennst, dann kannst du stolz auf dich sein, änder' dich nicht, nur damit du allen gefällst, unterschätz nicht deinen eigenen Wert, bleib immer nur du selbst.»

Genau dieses Niveau wird auch auf den tausenden Internetseiten der oben erwähnten Heilsbringer und Seelenklempner ganz mühelos erreicht. Welch' eine Übereinstimmung! Tja, so klingt eben heute die Ich-Literatur, die von allen soeben noch verstanden wird, weil sie unverständlich ist.


Ein postmoderner Fluch

Lieber Leser, liebe Leserin, merken Sie, wie wunderbar das in unsere Zeit paßt, den heutigen Patchwork-‹Ichs› ein eigenständiges Wesen anzudichten, welches über Konsum und Zeittotschlagen hinausgeht? Ihnen zu erklären, wie wichtig und wertvoll sie für unsere Gesellschaft seien und dabei den größten Teil von ihnen zu verarmen? Ein so bereitwillig geglaubtes ‹Sei, der du bist› oder ‹Bleib, der du bist› ist zu einem Fluch, einem Unheil, einem Verhängnis geworden. Hier werden Stagnation und Stillstand, ja, eine stuporeske Erlahmung propagiert, und die auf der Stelle tretenden und ins Stocken geratenen ‹Ichs› sind es auch noch zufrieden. Heute wird ja schon einem dreijährigen Kevin oder einer vierjährigen Jacqueline von den Bezugspersonen ein Wesenskern angedichtet, der in seiner auf die Nerven gehenden quäkenden Quengeligkeit unveränderbar sein soll. Und das dürfen wir hier auf keinen Fall vergessen: Selbst die derzeitige christliche Bildungspolitik ist völlig überzeugt davon, daß man schon im Alter von 10 Jahren die guten Kinder ins Töpfchen und die schlechten Kinder ins Abseits stellen muß. Allgemein scheint die Überzeugung zu sein, daß sich heute ein ‹Ich› bereits in der ‹konkret-operationalen› Entwicklungsphase fertig ausgebildet hat, um diese dann allerdings auch nie mehr zu verlassen.

Wie kommen wir aus diesem Fluch heraus? Sollten wir Friedrich Nietzsche fragen, der aus einem ‹Sei, der du bist› ein paradoxes ‹Werde, der du bist› [1] Zitiert nach: Rüdiger Safranski (1990): Wieviel Wahrheit braucht der Mensch. Über das Denkbare und das Lebbare. München: Carl Hanser. Seite 9. gemacht hat? Nein, bei aller Wertschätzung Nietzsches hilft uns das nicht, aus diesem schlimmen Fluch zu finden. Immer noch wird ein von Anfang an ‹fertiges› ‹Ich› hypostasiert, das dann irgendwann zum eigentlich so angelegten ‹wird›, ohne ein eigentliches ‹Werden›.

Vielleicht hilft es uns, wenn wir an Robert Musils Unterscheidung von Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn denken, die er zu Beginn des 4. Kapitels in seinem ‹Mann ohne Eigenschaften› trifft, und diese erweitern auf Wirklichkeits- und Möglichkeitsmenschen oder besser noch auf ein Wirklichkeits-‹Ich› und ein Möglichkeits-‹Ich›. Ganz ehrlich, lieber Leser, liebe Leserin, möchten Sie einem ‹Ich› begegnen, das so ist, wie es ist, und mit dieser ‹Wirklichkeit› auch noch ganz zufrieden ist? Nein.

Wir können einem der – psychologisch betrachtet – schlimmsten Flüche der Postmoderne nur entrinnen, wenn wir ein Möglichkeits-‹Ich› anstreben und das beliebte Zitat ‹Sei, der du bist› verändern zu einem:

«Entwickele dich zu dem, der du werden könntest.»



Kommentare:

Liebe ‹Arbeitsgruppe›,

nach meiner jüngsten Leserunde grüsse ich euch mit einem halbwegs problembewusst formulierten "Von mir aus könnt ihr so ungefähr bleiben, wie ihr seid - bisher hat's mir gut gefallen." (Und vielleicht dazu: Ich vertraue euch, dass auch eure Veränderungen Sinn machen werden.)

Ich weiss, es ist paradox - weil ich natürlich gerne weitere überraschend einleuchtende originelle Inhalte lese (was gleichzeitig Veränderung benötigt und eine Konstante wäre). Und an euch schätze, dass ihr nicht immer macht, was man euch sagt (wie z.B. "bleibt wie ihr seid" - aber so könnt ihr weitermachen.)

Man kann das alles so wundervoll ad absurdum führen.

Ich habe einen geliebten Menschen glaube ich erfreut, indem ich ihr gesagt habe, "ich möchte nicht, dass du irgendjemand andere bist, als du bist" - aber Helmut folgend sollte das auch meinen "ich vertraue dir, dass ich deine Veränderungen auch mögen werde".

Daher hat "sei wie du bist" für mich einen positiveren Klang, es ist akzeptierend. "Ich will dich nicht ändern." (Aber du selbst tu es, wie es dir richtig erscheint.)

Das wollte ich gerne ergänzen, auch wenn (oder weil) ich Helmuts Gedanken sehr einleuchtend fand.

Beste Grüsse,

Christian



Erstellt: 24. November 2007 – letzte Überarbeitung: 28. November 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.