Unerfreuliche Gespräche
In meinem kleinen Essay über
‹Unerfreuliche Gespräche› habe ich darüber nachgedacht, warum wir nach Gesprächen mit unseren Mitmenschen oft so traurig, unglücklich und verstimmt sind. Klar, dies können wir nur sein, wenn wir überhaupt bestimmte Erwartungen an Gespräche haben, wenn wir uns von ihnen also etwas erhoffen. Und klar, die meisten Menschen haben diese Erwartungen nicht und sind offensichtlich froh, wenn ein Gespräch zu einem Schwatzen geworden ist.
In dem oben genannten Essay habe ich vier Arten ‹unerfreulicher Gespräche› beschrieben
- Monologisieren
- Apodiktisch Urteilen
- Widersprechen und
- Keine Reversibilität zulassen,
auf die ich hier nicht weiter eingehe. Ich möchte nur darauf verweisen, daß diese unerfreulichen Gesprächsformen, denen wir so oft ausgesetzt sind, etwas mit den
‹Ich›-Mythen der Postmoderne zu tun haben. Nur wenn wir verstehen, warum derzeit ein ‹Ich› sich permanent in seinem ganz persönlichen ‹Ich›-Glanz sonnen muß, um ‹glücklich› zu sein, warum ein ‹Ich› sich – ganz persönlich jetzt – nur um seinen kleinen Oikos und nicht um die Pólis kümmern muß, um sozial akzeptiert und nicht mit dem Wort ‹Gutmensch› beschimpft zu werden, und warum ein postmodernes ‹Ich› eine
‹Haltung› nur zu sich selbst und nicht zu ethischen oder ‹höheren› Dingen haben darf, dann wird uns klar, daß unerfreuliche Gespräche ganz direkt und ganz konkret etwas mit der postmodernen ‹Ich›-Definition zu tun haben.
Ich möchte in diesem kleinen Traktat nun eine weitere Beobachtung skizzieren und analysieren, die ich in vielen, vielen ‹Gesprächen› gemacht habe. Doch um elegant auf den Höhepunkt dieses Traktates zusteuern zu können, muß ich erst einmal Gedanken von Jean Piaget skizieren, die schon längst zur Folklore geworden sind.
Vom Konkret-Operationalen
Die wirklich sehr schönen und klugen Untersuchungen Jean Piagets zur geistigen Entwicklung von Kindern sind vermutlich allen Psychologinnen, Pädagoginnen, Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen wohl bekannt. Ich fasse die vier Phasen ganz grob zusammen:
- Die Senso-Motorische Phase (0 bis etwa 2 Jahre)
- Die Prä-Operationale Phase (2 bis etwa 7 Jahre)
- Die Konkret-Operationale Phase (7 bis etwa 12 Jahre) und
- Die Formal-Operationale Phase (ab 12 Jahre).
Über diese Phasen müssen wir im Zusammenhang dieses Essays nur wissen, daß ein logisches Denken, eine Abstraktion von konkreten Ereignissen und damit eine Hypothesen- oder gar Theoriebildung erst ab etwa dem 11 - 12 Lebensjahr möglich erscheint.
Konkret-operationale unerfreuliche Gespräche
Nun kommen wir zum Argument dieses Traktätchens. Passend zu unseren Zeitläuften, in denen die Hauptaufgabe der Medien sich als eine Analphabetisierung und Erregung ihrer Kunden darstellt, und die Hauptaufgabe der Kunden in einer Anspruchsunverschämtheitspermanenz zu suchen und in einer ‹Ich bin doch nicht blöd!›-Sentenz zu finden ist, beobachte ich seit längerer Zeit eine bestimmte Form der Kommunikation, eine spezifische Art der Mittteilung in ‹persönlichen› Gesprächen. Ich möchte nur zwei Beispiele vorstellen, dann wird das Genericum überraschend schnell klar.
- Frage an einen jungen Menschen: Wie war es gestern bei Simon?
Antwort: «Also, Ich so: […] Er so: […] Ich so: […] etc.»
- Frage an einen nicht mehr jungen Menschen: Wie war es gestern bei Simon?
Antwort: «Also, stell Dir vor, ich kam ja ein paar Minuten zu spät, und da sagte er doch sofort an der Tür, du kommst ein paar Minuten zu spät, da sage ich zu ihm, und wer sagt mir das jetzt, denn das mußt gerade Du mir sagen, da sagt er, komm erst mal rein und ich sage, ich weiß nicht, ob ich da jetzt überhaupt Bock drauf habe etc. etc.»
Wichtig ist noch, zu erwähnen, daß die meisten Antworten oder ‹Gesprächsbeiträge› auch noch von einer Laien-Darstellung in Gestik, Mimik und Tonfall unterstützt werden. Die sich mitteilenden Personen spielen also das von ihnen Erlebte ganz konkret und Stück für Stück nach.
Lieber Leser, liebe Leserin, ich lade sie ein, diese faszinierende Beobachtung zu kreuzvalidieren. Hören Sie sich um, lassen Sie sich von Ihren Mitmenschen irgendwelche Ereignisse erzählen.
Fazit
Nachdem Sie Ihre persönlichen Kreuzvalidierungen vorgenommen haben und erstaunt sind, wie triftig meine oben nur kurz und beispielhaft geschilderten Beobachtungen waren und sind, sollten wir – Sie, lieber Leser und liebe Leserin, und ich – gemeinsam zu der Erkenntnis kommen, daß im Jahr des Herrn 2007 über 90 % aller Gesprächsteilnehmer ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, umfängliche Ereignisse wie ein Gespräch beim Arzt, eine Interaktion mit einem Bekannten oder einen Einkauf abstrakt zusammenzufassen, zu etikettieren und unter einem wohlgefälligen Begriff zu verpacken. 90 % der Erzählungen bestehen aus dem Aufzählen konkreter Ereignisse oder aus dem Berichten über konkrete Operationen, mit den dazugehörigen nachgespielten Intonationskonturen und paralinguistischen Merkmalen. 90 % unserer Mitmenschen schaffen es also nicht, sich bei ihrem Bericht von konkreten Ereignissen zu lösen. 90 % der Kulturinsassen sind in unserer
‹Gesellschaft des Spektakels› auf der von Piaget beschriebenen ‹konkret-operationalen Phase›, also im geistigen Alter von etwa 12 Jahren, stehen geblieben.
Wundert uns das? Nein. Der in dem – mit Henriette Orheim zusammen geschriebenen – Essay
‹Abschied von den Gefühlen› beschriebene ‹Iconic turn› ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Erinnerungen lassen sich in unserem postmodernen Gesprächsalltag kaum mehr abstrakt versprachlichen, sie können nicht mehr kodiert werden. Statt dessen müssen sie als eine nacherzählende und nachgespielte bildliche Aufführung dargebracht werden. Toll.
Erstellt: 26. November 2007 – letzte Überarbeitung: 26. November 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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