BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von den ‹Gefühlen›»
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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Einführung

Wir beginnen mit einem Seufzer: «Ach!» Was das soll, liebe Leser und Leserinnen? Noch einmal «Ach!» Denn gelegentlich fühlen wir uns ganz kraftlos und erschöpft angesichts der mannigfaltigen und schwierigen Aufgaben, die wir hier im Skepsis-Reservat der Bochumer Arbeitsgruppe zu erledigen haben. Alle Welt guckt fern oder denkt darüber nach, wo und wie irgendein sinnloses ‹Produkt› noch ‹billiger› zu kriegen sein könnte, aber wir, die Autoren und Autorinnen des Skepsis-Reservates, kümmern uns, gleichermaßen getrieben wie verführt von unserem Sachbearbeiter Artus P. Feldmann, um die wesentlichen, die eigentlichen, die großen Probleme unserer Kultur und unseres Zeitalters - um dann unsere Überlegungen und Analysen auch noch in anmutige Worte zu gießen. Tja, einfach ist dieses Leben nicht. Denn wir sind ja hier keine Textproduktionsmaschinen! Wir sind doch auch nur Menschen! Wir haben doch auch unsere ‹Gefühle›!

Damit sind wir schon beim Thema. Denn nach den vielen in dieser Rubrik der ‹Nachrufe› schon verhandelten bitteren Abschieden geht es dieses Mal um ein weiteres mögliches ‹Lebewohl›, welches es sorgfältig zu bedenken gilt: Den Abschied von den ‹Gefühlen›! Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, sich jetzt ganz evidenzbasiert fragen, wie wir von einem Abschied von den ‹Gefühlen› reden können, obwohl wir doch gerade oben behauptet haben, über ein ‹Gefühl› zu verfügen, so antworten wir Ihnen, indem wir Ihnen ankündigen, daß unsere Antwort etwas ausführlicher ausfallen wird.


Zur Sozialen Konstruktion von ‹Gefühlen›: Grundsätzliches

‹Gefühle› interessieren Soziale Konstruktivistinnen sehr. Denn zum einen gibt es bei der Betrachtung und der Beschäftigung mit diesem Thema unglaubliche Mißverständnisse und Dummheiten, und zum anderen zeigt sich gerade bei den so genannten ‹Gefühlen› der Einfluß des Sozialen, des Gesellschaftlichen, des Kulturellen, kurz, es offenbart sich die Wirksamkeit sozialer Räume.

Als Hinführung zu dem, was dann noch folgen wird, schauen wir uns zunächst einmal ein wenig im Skepsis-Reservat um, gibt es doch hier bereits verschiedene Diskurse, Erörterungen und Erwähnungen des Gefühlsproblems, auf die wir jetzt zurückgreifen können. Beginnen wir mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen über das Wesen der ‹Gefühle› und über den größten und folgenreichsten Irrtum beim Sprechen über ‹Gefühle›, der so weit verbreiteten Trennung zwischen ‹Kopf und Bauch›.
Christian Hennig schreibt dazu: «Was ich «Gefühl» nenne, nenne ich. Zum Beispiel nenne ich es «Angst» oder «Freude». Ich brauche Sprache dazu. Mag sein, dass ich ohne Sprache Gefühle haben kann (würde man diese dann nicht eher «Instinkte» nennen?), aber sie könnten nichts bedeuten. Denn niemand wäre da, um ihnen Bedeutung zu geben. Sprache findet im Kopf statt, und kein Gefühl kommt daran vorbei - zumindest kein kommuniziertes. Und ich muss mir ‹mein› Gefühl selber mitteilen, um es zu merken. Noch einmal: Ich behaupte nicht, ohne Sprache gäbe es keine Gefühle. Aber wir werden unsere Sprache nicht mehr los, und auch unsere Gefühle werden unsere Sprache nicht mehr los. [...] Denken und Körpergefühl kommen nicht voneinander los. [...] Wenn ich Sprache habe, kann ich sie nicht mehr daran hindern, sich mit meinen Körpervorgängen zu der untrennbaren Melange zu verbinden, die den Menschen ausmacht. Und es ist sichtbar, erfahrbar, wie die Sprache, das Denken, die innere Wechselwirkung, so auf das Gefühl einwirken, dass nicht zu entscheiden ist, was das Gefühl ohne dies wäre.» (Vgl. Christian Hennig: «Kopf vs. Bauch»)
Damit haben wir ein erstes wichtiges Argument eröffnet: Es scheint ein Irrtum zu sein, zu glauben, daß Gefühle einfach so - authentisch, biologisch, natürlich, körperhaft, ja ‹menschlich› - da sind. Was gelegentlich da ist, das sind Aufregungen, Erregungen, Aktivierungen. Die brauchen aber eine kognitive Komponente, das heißt, eine Bewertung, eine Beurteilung, eine Einschätzung, möglicherweise auch eine Zensierung, kurz, sie brauchen ein Sprachrohr, da muß jemand sein, der die aktuelle Aktivierung beim Namen nennt und genau damit aus einer vielleicht belanglosen und passageren Aktivierung ein ‹Gefühl› macht.

Gehen wir weiter und fragen uns, wie es nur sein kann, daß Krethi und Plethi nicht nur ununterbrochen davon überzeugt sind, eigene ‹Gefühle› zu ‹haben›, sondern sich auch jeweils ganz sicher darüber zu sein scheinen, welches Gefühl sie da gerade haben. Nun, dies ist ein epistemologisches Problem: Der gesunde Menschenverstand in Alltag und Wissenschaft neigt vehement zum ‹Naiven Realismus›.
Albertine Devilder sagt dazu: «Ich denke, daß eine wichtige Ursache für den weit verbreiteten Realismus ist, daß der gesunde Menschenverstand gelernt hat, die sprachliche Beschreibung seiner Wahrnehmungen und Gefühle völlig distanzlos als Wirklichkeit anzusehen. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir können uns nämlich einbilden, daß das, was wir gerade sehen und fühlen, wirklich und qualitativ spezifisch genauso existiert. Die Romantikerinnen hatten da oft ihre Zweifel, aber in der Moderne heißt es kühl, klar und unwiderlegbar: Ich sehe doch, was ich sehe, ich fühle doch, was ich fühle! [...] Der realistisch arbeitende gesunde Menschenverstand besteht also leider ausdrücklich darauf, daß seine Wahrnehmungen und Gefühle wirklich sind, weil er sie ja hat. Der gesunde Menschenverstand sagt also eigentlich: Mein Sinneseindruck ist mein Sinneseindruck! Ein alberner und schlichter Zirkel!» (Vgl. Albertine Devilder: «Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (2) 1. Hauptstück: Realismus - Die Epistemologie der Moderne»)

Zur Sozialen Konstruktion von ‹Gefühlen›: Soziale Räume

So viel zum Grundsätzlichen. Im folgenden geht es um die Wirksamkeit sozialer Räume. Wie wir oben gesehen haben, brauchen Aktivierungen einen Namen, um zu einem ‹Gefühl› zu werden. Nun, wenn es um Namen geht, um sprachliche Begriffe, um Signifikanten, die Signifikate ausdrücken sollen und wollen, dann dürfte unmittelbar einleuchten, daß die verschiedenen sozialen Räume und Lebensformen sich an der Schaffung und Formulierung von Wörtern für Gefühle beteiligen. Oder anders, Wörter für Gefühle müssen gelernt werden wie Fremdwörter. Das ist das eine. Das andere ist, daß ebenfalls gelernt werden muß, in welchen sozialen Kontexten und in welchen Situation welches Gefühlswort angesagt ist und welches nicht. Wir lernen also in unseren lokalen Räumen nicht nur Wörter für Gefühle sondern auch deren Anwendungsregeln. Ein kurzer Blick auf die ‹éducation sentimental› von Kindern zeigt das nur allzu deutlich.

Und ein weiterer Blick auf das Medium, das heute die ‹éducation sentimental› fast aller Menschen übernommen hat, zeigt, daß in unserer final-kapitalistischen Gesellschaft des Spektakels die so genannten ‹Gefühle› eine ganz große Rolle spielen. Gibt es doch eine Fülle von TV-Formaten, die einzig und allein dazu erfunden werden, naive und unbedachte Gesellschaftsinsassen in Situationen zu bringen, in denen sie - das war zu erwarten - sich ‹starker Gefühle› entäußern sollen (‹Wut›, ‹Ekel›, ‹Trauer›, ‹Verzweiflung› etc.). Und wenn ein angesagtes TV-Format nicht mehr trägt, wenn es nicht mehr im Stande ist, bei einer großen Zahl von Zusehern zwischen 14 und 49 Jahren Aufregungen zu erzeugen, dann muß eben die Dosis erhöht werden.
Helmut Hansen schreibt dazu folgendes: «In der Gesellschaft des Spektakels spielen «Gefühle» und «Meinungen» die Hauptrollen. [...] Absolut angesagt ist heute in jedem nur vorstellbaren Kontext der individuelle Bericht über «Gefühle». Wir können sagen, daß heute nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit verhandelt wird, sondern nur die Wirklichkeit der Gefühle. Zunächst veranlaßt, verursacht, injiziert die Gesellschaft des Spektakels ein Ereignis, ein Erlebnis, eine Aufregung. Ein «Gefühl» darf diese Aufregung aber erst dann genannt werden, wenn es eine Meinung über die Bedeutung dieser Aufregung gibt. Natürlich hat die Wortwahl dabei streng einem von der Gesellschaft des Spektakels genehmigten Zentralreden-Thesaurus zu folgen. Am beliebtesten sind Stammeleien, also Äußerungen, in denen die Bedeutung der Aufregung nicht benannt werden kann, in denen der Aufregung die Worte nicht folgen können: «Wahnsinn! Super! Toll! Einmalig! Ein Schock! Schlimm!» Dazu paßt auch sehr gut: «Also ich weiß noch gar nicht, was ich jetzt sagen soll!» Erlaubt ist auch: «Ich glaube, ich werde erst nächste Woche so richtig mitkriegen, was ich jetzt erlebt habe!» Schön und brav.

Wichtig in allen Kontexten der Gesellschaft des Spektakels ist es also, eine Meinung über eigene Gefühle zu haben und zu äußern, und nur das. Noch wichtiger ist es, den [...] Menschen einzureden, daß sie ganz persönlich, ganz individuell ihre ganz ihnen eigenen Gefühle haben, die ihnen niemand nehmen kann und will. Das angeblich individuelle Gefühlsurteil ist also für die spektakuläre Herrschaft so wichtig, da es als letzter Ankerpunkt einer Illusion des ‹Ichs› übrig bleiben soll. Und da die Menschen in dieser Gesellschaft diesen Spielball der Gefühle so gerne aufnehmen, lassen sie das Nachdenken über und das Besinnen auf Inhalte aller Art. Ist das nicht wirklich genial geregelt? Goethe sagte einmal: «Der Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern.» [...] Die Gesellschaft des Spektakels braucht ganz viele Dilettanten!»
Unsere Gesellschaft des Spektakels bietet nun über das Nullmedium TV die immer gleichen Standardsituationen, in denen mal ausnahmsweise keine Leistungen ‹abgerufen› werden, sondern ‹Gefühle›.
Henriette Orheim sagt in ihrer Analyse des Privatfernsehens dazu: «Es geht [...] um die authentische Vorführung von Gefühlen als privater Lebensäußerung. Natürlich müssen es gewöhnliche Gefühle sein, die jeder kennt. Gefühle in Standardsituationen also.»
‹Gewöhnliche› Gefühle heißt hier, daß es sich um Aufregungen in Situationen handeln muß, die für die Masse der TV-Seher nachvollziehbar sind. Nehmen wir nur ein Beispiel.
Wenn ein Fußballtrainer vor seiner Entlassung steht, wird in seinem mutmaßlich letzten von ihm zu betreuenden Spiel eine TV-Kamera ganz allein nur auf sein Gesicht gerichtet werden, in der Hoffnung, irgendwann eine solche Gesichtsverzerrung einfangen zu können, die dem erwartungsfreudigen TV-Zuschauer als ein Entsetzen, eine Fassungslosigkeit, eine Bestürzung, ja, als ein grauenhafter Schock erscheinen soll. Passend dazu fragt in der anschließenden Pressekonferenz ein bei einer Schmierlappenzeitung angestellter ‹Journalist: «Werden Sie heute noch entlassen?» Und der daraufhin gequält erscheinende Gesichtsausdruck des befragten Trainers wird zusammen mit seinen Gesichtern des Entsetzens während des Spiels in den Bericht über dieses Fußballspiel aufgenommen. Und diese Gesichter, die auf kommunal überdefinierte Gefühle verweisen sollen, werden den Hauptanteil des folgenden ‹TV-Berichtes› bilden. Um das Spiel selbst wird es kaum gehen Das ist die Logik der Gesellschaft des Spektakels. Alles klar?

Abschied von den Gefühlen: Der psychologische Blick

Sammeln wir unsere bisherigen Überlegungen sorgfältig ein. Begonnen haben wir mit dem ganz grundsätzlichen Gedanken, daß die von uns erlebten Aufregungen und Aktivierungen ein Sprachrohr brauchen, daß da also jemand sein muß, der die aktuelle Aktivierung beim Namen nennt. Denn wir müssen zwischen Aufregungen und ‹Gefühlen› unterscheiden lernen. Ein Gefühl hat immer eine kognitive, eine urteilende Komponente. Ein Gefühl ist eine beurteilte, bewertete Aufregung. Gefühle sind also das Ergebnis von Zuschreibungen. Gefühle sind momentane, kontextabhängige Wirklichkeitskonstruktionen, Gefühle sind subjektiv plausible (da kommunal plausible), unter Zeitdruck hergestellte Interpretationen und Bewertungen der Aktivierungs-Wirklichkeit.

Und: Um zu fühlen, muß man über Worte verfügen. Wer über viele verschiedene Gefühlsworte verfügt, fühlt in diesem Sinne also mehr, als jemand, dem seine Muttersprache nur unvollkommen gegeben ist. Und selbstverständlich meinen wir, den Namen für unsere Aufregung selbst gewählt und damit unser Gefühl selbst definiert zu haben. Denn der naiv-realistisch arbeitende gesunde Menschenverstand besteht leider ausdrücklich darauf, daß seine Wahrnehmungen und Gefühle wirklich sind, weil er sie ja hat.

Damit haben wir die erste psychologische Komponente unserer Argumentation noch einmal ausführlich skizziert. Es gibt aber noch einen zweiten psychologischen Aspekt: Gefühlsurteile und Gefühlsmeinungen, also Ansichten darüber, was wir soeben fühlen, leiden ganz besonders unter der ‹Tendenz zum erstbesten Urteil›. Dies ist einer von vielen klassischen Urteilsfehlern, der im Bereich der Gefühlserfindungen besonders delikat anzutreffen ist: Wir horchen, gleichgültig in welcher Situation, in uns hinein und entdecken, daß da immer irgendeine Aktivierung ist, es sei denn, wir sind tot. Da aber nun immer irgendeine Aktivierung da ist, besteht auch immer die Möglichkeit, diese mit einem kommunal definierten Gefühlswort zu belegen. Gefühle sind somit erstbeste Urteile, für die wir momentan zur Verfügung stehende Lieblingsworte heranziehen. Ein Gefühl ist nun mal nicht mehr als das, was uns gerade so einfällt.

Halten wir fest: ‹Abschied von den Gefühlen› heißt zum einen, daß wir in fast allen Fällen, in denen wir Gefühlsworte in soziale Kontexte hineinwerfen, nur von Aufregungen reden sollten. Denn um zu fühlen muß man wissen. Das gilt naturgemäß für das Sehen, Hören und Schmecken ebenso. Aber das ist eine andere Geschichte.


Abschied von den Gefühlen: Der kulturphysiognomische Blick

Gehen wir weiter. Den Namen, das Gefühlswort für unsere Aktivierung, wählen wir selbst, ohne Frage. Doch wir merken nicht, welch mächtige Helfer uns dabei den Mund führen. Und damit sind wir bei unserer nächsten Überlegung, wie intensiv sich die verschiedenen sozialen Räume und Lebensformen an der Schaffung und Formulierung der Gefühlsworte beteiligen, die wir dann anschließend ganz ungeniert verwenden. Dazu kommt, daß wir eben nicht nur die angesagten Wörter für die angesagten Gefühle lernen, sondern eben auch, in welchen sozialen Kontexten, in welchen Situation welche Gefühlswörter angesagt sind und welche nicht. Es mag hier Lebensformen geben, in denen uns das Spektrum von Gefühlsäußerungen äußerst eingeschränkt erscheinen mag (Voll krass? Ne, eher endgeil!). Es gibt aber in den meisten Lebensformen unserer Gesellschaft Standardsituationen (in der Politik, in der ‹Liebe›, in Diskursen aller Art), in denen beinahe zu hundert Prozent schon vorher fest steht, welches Gefühlswort gleich geäußert werden wird. Wie kann das sein?

Nun, die Kultur- oder Lebenswissenschaften unterscheiden derzeit zwei große unterscheidbare Paradigmen, die unser Leben in unserer jeweiligen Pólis in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg bestimmt und geformt haben sollen. Wir möchten noch ein drittes, ein neues Paradigma hinzufügen.
Der ‹linguistic turn›: In den 60er und 70er Jahren wurde von den Kulturwissenschaften ein ‹linguistic turn› proklamiert. Mit einem Mal wurde in angesagten universitären Seminaren und fortschrittlichen lebenswissenschaftlichen Zeitschriften der Gedanke verhandelt, daß unsere Wirklichkeit über Sprache hergestellt und in Sprache verhandelt werde, und daß im öffentlichen Leben einer Pólis nicht so wichtig sei, was geschieht, sondern wie darüber gesprochen werde. Und plötzlich interessierte man sich für diejenigen, die bestimmen, wie über bestimmte ‹kritische Ereignisse› gesprochen wird und werden soll. Schon vor mehr als dreißig Jahren nannten die ‹Situationisten› diejenigen, die aufgrund ihrer ‹Macht› bestimmen dürfen, welche Wörter welchen Ereignissen in der Pólis zuzuordnen sind, die ‹Herren des Wörterbuchs›. Und eben auch in dieser Zeit begannen diejenigen, denen die Bundesrepublik gehört, Pressesprecher und weitere Spezialisten für die ‹Öffentlichkeitsarbeit› einzustellen. (Vgl. dazu unser Arbeitspapier Nr. 14: Was von der Postmoderne übrig blieb. Zeitgemäße Betrachtungen. Seite 52 f.)

Der ‹iconic turn›: In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der Schauspieler Ronald Reagan zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. In den acht Jahren seiner Amtszeit (von 1981 bis 1989) entwickelte sich das, was heute im Nachhinein als ‹iconic turn› bezeichnet wird. Die Herren des Wörterbuchs stellten nämlich in vielen Untersuchungen über die öffentliche Wirksamkeit des Präsidenten fest, daß das, was er in TV-Sendungen sagte, kaum eine Rolle spielte für die Einschätzung seines Wirkens. Entscheidend waren dagegen die Bilder von seinen Auftritten. Folgerichtig wurde seine Performanz als Politiker immer häufiger von professionellen Regisseuren aus Hollywood inszeniert.
Äußerst interessant ist hier ein Detail aus dem Wahlkampf von 1984: Die ‹Demokraten› ließen als Werbung für ihren Wahlkampf im TV Filme von Auftritten Reagans zeigen, in denen verbal, also im Gesagten, deutlich wurde, daß Reagan allerlei Versprechungen nicht eingehalten hatte. Die ‹Republikaner› rieben sich derweil die Hände, da sie sich sicher waren, daß die Wähler auf die Vertrauen erweckende, charmierende Ausstrahlung, auf die professionelle Performanz reagieren würden, nicht aber auf das, was Reagan nun im einzelnen sagte. Die Republikaner behielten Recht. Reagan wurde wieder gewählt. Bilder hatten die Sprache besiegt. Aus den Herren des Wörterbuchs waren Herren des Bilderbuchs geworden.

Nur noch eine Randbemerkung dazu: Im letzten Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika unter dem Präsidenten George W. Bush gegen den Irak geführt haben, wurde der ‹iconic turn› ganz bewußt und sorgfältig vollzogen. Im TV durften nur Bilder von ‹eingebetteten› (embedded) Journalisten gezeigt werden. Und wer erinnert sich nicht an das wunderbare Filmgeschehen auf einem Flugzeugträger mit dem über George W. Bush plazierten Banner ‹Mission accomplished›? Diese zwei Worte waren lediglich das I-Tüpfelchen auf einer perfekten Bild-Inszenierung. Die Herren des Bilderbuchs brauchen kein Wörterbuch mehr.

Wie oben angekündigt möchten wir nun einen dritten ‹turn›, einen weiteren Paradigmenwechsel, erfinden, den wir etwa ab der Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu beobachten glauben und der ‹erheblich› auf dem ‹iconic turn› aufbaut, aber wesentlich weiter geht und in seinen Entwicklungen und Konsequenzen noch nicht abzuschätzen ist. Wir nennen ihn
Den ‹emotic turn›: Wenn wir der Logik der beiden vorhergehenden ‹turns› folgen, dann können wir sagen, daß es zu Beginn dieses Jahrtausends im öffentlichen Diskurs nicht mehr so sehr darauf ankommt, was von jemand gesagt wird (das können wir mittlerweile vergessen, das spielt keine Rolle mehr) oder welche Bilder von jemand gezeigt werden, sondern welche Gefühle mit den gezeigten Bildern bei den Zusehern erzielt werden. Das hat Konsequenzen für diejenigen, die Gefühle mit den von ihnen gezeigten Bildern erzeugen wollen, und für diejenigen, die sich das ansehen. Und eingeübt werden die Bilder, die Gefühle in Standardsituationen vermitteln oder erzeugen sollen, in den einschlägigen Formaten des TV. Hier schließt sich der Kreis.

Schluß

Zuerst wurde uns unsere Sprache genommen, indem sie uns gegeben wurde, dann wurden uns unsere Bilder genommen, indem sie uns gegeben wurden, heute werden uns unsere Gefühle genommen, indem sie uns gegeben werden. Den ganzen Tag über können wir in der schlimmsten Lichtquelle der Welt Gesichter in Standardsituationen sehen, die vorgefertigte Standardgesichtsausdrücke vorführen, um damit auf standardisierte ‹Gefühle› zu verweisen. Das ist natürlich Gefühls-Kino für den Alltag. Dieses Gefühls-Kino hat aber leider psychische Auswirkungen wie ein Porno-Kino. Und so sagen wir, daß der Tag längst gekommen ist, an dem sensible Mitmenschen angesichts der Gefühlsbilderflut es nicht mehr schätzen, persönliche oder gar sexuelle Kontakte einzugehen, in denen sie dann standardisierte, überdefinierte, kommunal zu erwartende ‹Gefühle› anzuzeigen und die damit zwingend erwartbar verbundenen Gesichter zu schneiden haben. Abschied von den ‹Gefühlen›? Könnte sein.

Wir hören es immer wieder, daß die so genannten ‹Gefühle› in einer scheußlichen und unübersichtlichen Welt das letzte sind, was den Menschen noch bleibe. Selbst in einer ganz und gar durchkapitalisierten Welt voller Katastrophen soll man wenigstens noch ‹seine Gefühle›, seine ‹ureigensten Gefühle› haben. Auch wenn Menschen überhaupt keine Bezüge mehr nach draußen haben, sondern sich in ihrem ‹Ich› mit Hilfe fremder Bilder und geborgter ‹Gefühle› verrammelt haben, sollen sie noch große ‹eigene Gefühle› haben. Haben sie aber nicht. Also versuchen einige ganz hilflos den Sensations-Lockungen der spektaklistischen Kultur nachzugeben und beteiligen sich am postmodernen ‹Sensation-Seeking› wie Bungee-Jumping, Extrem-Sport oder dem Besuch von Achterbahnen und Drehschwindel-Erzeugungs-Maschinen. Wozu? Um Gefühle zu erleben? Große Gefühle? Nein, nein, das waren dann nur Aufregungen.

Wir sollten das Wort «Gefühl» immer in Anführungszeichen setzen. Denn das, was die Menschen gemeinhin unter einem ureigensten ‹Gefühl› verstehen, ist ein Sich-Verlieren in der Leere zwischen Aufregungen und Wörtern. Den Menschen wird kaum mehr eine Gelegenheit gelassen, kaum mehr eine Möglichkeit eingeräumt, das Feld ihrer ‹Gefühle› selbst zu bestellen und die Maschen ihrer Gefühlsworte selbst zu stricken. Das TV als spektaklistische mediale Wunschmaschine definiert grobe Gefühlsworte und unaussprechliche Aufmerksamkeitsorte, und die Menschen hecheln hinterher von Wort zu Wort und Ort zu Ort. Natürlich stellen sie dabei nicht fest, daß es schon lange keine Worte und Orte mehr gibt, denen hinterher zu hecheln einen Sinn ergäbe, da sie sich im täglich neuen Akt des Hinterherhechelns verloren haben. Sie werden vom TV fest gehalten wie in einem Wasserfall.

Erst wenn wir uns aus der fremdbestimmten Aufregungs-, Bild- und Gefühlsbewirtschaftung lösen, und sei es nur für kurze Zeit, sei es nur für eine Stunde, könnten wir merken, wie wertvoll eben diese stille Stunde für uns werden kann. Naturgemäß ist diese Stille zunächst überhaupt nicht auszuhalten, es gibt kein Rabatt-Geschrei, kein Skandälchen, keine Beschimpfung des angeblichen politischen Gegners! Nichts davon. Nur Stille. Und in der Stille könnten wir uns aus dem uns völlig und gewalttätig einschließenden und mitreißenden Wasserfall des Nichts lösen, das Hecheln - hinter den Aufregungen des Tages her - aufgeben und zu unserem Atem finden. Pneuma und Psyche.

Auf diesem Weg könnte sich etwas Neues entwickeln, eine Ruhe, ja eine Achtsamkeit, mit der wir die Welt und uns selbst betrachten. Und in dieser Gelassenheit, in diesem Auf-Sich-Selbst-Bezogen-Sein, in dieser bewußten und intellektuellen Pflege der Autopoiese, könnte auch eine ganze Reihe von Ideen auftauchen, was es denn so zu fühlen gäbe. In der Stille erst könnten wir uns befreien aus der uns aufgezwungenen Gefühlsbewirtschaftung, in der Stille könnten wir lernen, Gefühle selbst zu erfinden, die kognitiven Bewertungen für erlebte Aufregungen selbst in Worte zu kleiden, ja, und wir könnten neue, anmutige, artige, auserlesene, uns und andere bestrickende und betörende Worte suchen, um altes, längst erlebtes, immer wieder neu zu erleben! Ach, so könnte es gehen.



Erstellt: 4. Februar 2005 - letzte Überarbeitung: 4. Februar 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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