BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«'Ich gehe davon aus!'»
von Henriette Orheim
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Stellen wir uns vor, wir fragen jemanden, der in dieser Welt ‹wichtig› ist und der etwas ‹bewegen› will, der also – ganz persönlich jetzt – eine «Herausforderung» an- und damit eine überaus wichtige Aufgabe übernommen hat, stellen wir uns also vor, wir fragen diesen Menschen, der sich naturgemäß nur als Mann vorstellen läßt, irgendein Detail, welches mit seiner «Herausforderung» zu tun hat, oder stellen wir ein schlichtes «Wird denn nun dies oder das geschehen?» in den Frageraum oder vielleicht auch ein unschuldiges «Stimmt das denn?», was wird dieser «herausgeforderte» Mann nun antworten? Wird er deutlich machen, daß er mit etwas rechnet, etwas weiß, vermutet, glaubt, denkt, erhofft, befürchtet, argwöhnt, erwartet, vorher sieht, annimmt, meint, behauptet, für wahrscheinlich hält, fühlt oder daß er sich gar um etwas sorgt? Nein, nein, lieber Leser und liebe Leserin, Sie wissen es längst, dies alles wird er nicht tun, sondern er wird nach unserer bescheidenen Frage – mit einem wichtigen Gesichtsausdruck – anheben und sagen: «Ich gehe davon aus, daß …» oder aber ganz final «Ich gehe davon aus!» Punkt. Nein, Ausrufezeichen. Schluß. Das war es schon. Ach!

Tja, und was wissen wir jetzt, was der Befragte weiß? Schwer zu sagen, denn die Floskel «Ich gehe davon aus!» verwischt in ganz einzigartiger Weise jede Grenze zwischen Wissen, Meinen und Vermuten. In diese Floskel können wir buchstäblich alles hineinlegen, was in diesem Zusammenhang denkbar ist, und genau dies macht sie so attraktiv für alle mächtig «Herausgeforderten». Prüfen wir mal die Möglichkeiten:

  • Mit einem «Ich gehe davon aus!» sagt jemand, daß er offensichtlich mehr weiß, als er verraten will. Er versucht wissend zu erscheinen, oder auch wissender, als er ist. Kurz, er versucht zu zeigen, daß da – außerhalb von ihm – etwas geschieht, über das er durchaus den Überblick hat.
  • Mit einem «Ich gehe davon aus!» sagt jemand aber auch, daß er das, was er gerade sagt, niemals persönlich behauptet hat, und daß das, wovon er gerade ‹ausgeht›, ganz und gar unverbindlich ist, ja mit ihm selbst eigentlich gar nichts zu tun hat.
  • Und mit einem «Ich gehe davon aus!» kann jemand auch sagen, daß da – außerhalb von ihm – etwas geschieht, das er nicht beeinflussen kann und für das er keinerlei Verantwortung trägt.

  • Und damit haben wir das ganze Geheimnis dieser Plastik-Floskel schon entschlüsselt: Die Phrase «Ich gehe davon aus!» verwischt die Grenze zwischen dem, was ein Wichtigkeitswichtel weiß, und dem, was er nicht weiß. Und nur darum geht es. Je nach der ‹Entwicklung der Lage› – ich komme auf diese wunderbare Formulierung ganz subito zurück – kann er so tun, als hätte er schon alles im voraus gewußt und erwartet, oder er kann so tun, als hätte er von allem nie etwas gewußt, rein gar nichts. Er ist aus dem Schneider, so oder so!

    Die überaus populäre Floskel «Ich gehe davon aus!» macht also deutlich, daß derjenige, der sie anwendet, keinerlei Verantwortung hat für irgendetwas, das außerhalb von ihm geschieht. Diese Floskel ist also ganz und gar unmoralisch. Toll! Das macht Spaß! Und deswegen ist diese Phrase auch schon seit mehreren Jahren abgesackt in den Sprachgebrauch vieler postmoderner Zeitenbeweger. Verantwortung? Nein danke.

    Dabei war ein ‹Von-etwas-Ausgehen› mal ein sinnvoller Anfang in der Welt der Argumentation. So konnte eine Philosophin oder Mathematikerin mit Hilfe dieser Formulierung zeigen, welches der Ausgangspunkt ihrer Argumentation war, von welchen Axiomen aus eine schrittweise ‹Ableitung› erfolgte, was also als Ausgang gesetzt war, auf den in einer geistigen Folgerichtigkeit aufgebaut werden sollte. So war das mal gedacht. Aber was ist daraus nur geworden? Hören wir noch einmal hin, zum letzten Mal:

    «Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß die Entwicklung der arbeitsmarktpolitischen Lage am Standort Deutschland für alle Parteien, die guten Willens sind, eine Herausforderung darstellt. Ich kann dazu im Namen der Bundesregierung nur sagen: Wir nehmen diese Herausforderung sehr ernst.» (Beifall) «Und dies wird mit Sicherheit dazu führen, daß Parteirat und Bundesvorstand schon in den nächsten Wochen klare Vorschläge machen werden, die die gezielte und kraftvolle Lösung der Probleme aktiv angehen. Wir machen Deutschland zukunftsfähig.» (Beifall)

    Tja, was sagen Sie dazu, lieber Leser und liebe Leserin. Ist das grausam? Ja, es ist grausam. «Die Welt ist taub vom Tonfall», sagte einmal Karl Kraus. Doch wir lassen heute Johann Wolfgang von Goethe – in den dem jungen «Werther» zugeschriebenen «Briefen aus der Schweiz» – aussprechen, was wir auf dem Herzen haben:

    «Denn was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte Gehörige der Gegenwart schnell lebhaft und eigentümlich ergreift und mit Leichtigkeit ausdrückt, als daß jene, gerade wie wir es in einer fremden Sprache tun, sich mit schon gestempelten hergebrachten Phrasen bei jeder Gelegenheit behelfen müssen.» [1] Johann Wolfgang von Goethe (1924): Werke. Herausgegeben von Richard Müller-Freienfels. Berlin: Volksverband der Bücherfreunde. Wegweiser-Verlag. Band 23/24, S. 185.

    Lieber Leser und liebe Leserin, setzen wir die Floskel «Ich gehe davon aus!» zusammen mit dem Schreckenswort «Herausforderung» auf die endgültige schwarze Liste des Sagbaren! Versprechen wir uns gegenseitig und hoch und heilig, diese Phrasen nie und niemals mehr auszusprechen! Danke!



    Erstellt: 1. März 2002 – letzte Überarbeitung: 1. März 2002
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