BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Welt als Wille und Herausforderung» [1] Lieber Leser, liebe Leserin, natürlich wissen Sie, daß der Titel dieses Essays eine Anspielung auf Arthur Schopenhauers Werk «Die Welt als Wille und Vorstellung» ist. Könnten Sie mal lesen. Zum Beispiel in der von Ludger Lütkehaus so überaus sorgfältig edierten Ausgabe im Haffmans Verlag Zürich. Die liegt noch in vielen modernen Antiquariaten herum. Stöbern Sie mal ein bißchen. Und dann lesen Sie's. Denn das wäre im Moment die einzige H., die ich Ihnen durchgehen ließe.
von Henriette Orheim
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Ich kann das Wort nicht mehr hören. Es bewirkt bei mir nur noch Übelkeit. Es macht mich krank, ja, ich könnte wahnsinnig werden. Gerade eben habe ich es wieder im Radio gehört. Von – natürlich, kreatürlich – einem Mann, einem Popanz, einem dröhnenden Nichts, einem Wichtigtuer, einem Anforderungsprofilerfüller, einem Wichtel, der am Tropf des Zeitgeistes hängt. Und was habe ich gerade gehört? Das Wort «Herausforderung!» Ahhhrrrrrrg!

Es ist leider so, daß heute jeder beliebige Kulturinsasse, jeder Fuzzy, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt, in jedem Genre und in jedem beliebigen Medium (sogar beim Abendessen mit der eigenen Freundin!) von einer ‹Herausforderung› sprechen kann. Was ist da los? Ganz einfach, aus dem Himmel über der «Gesellschaft des Spektakels» fällt ein kleiner Lichtstrahl auf eine auserwählte Person und stellt diese vor irgendetwas, das für sie – natürlich ganz persönlich jetzt – eine Herausforderung darstellt. Was ist damit gemeint?

Nun, zunächst einmal spricht hier ein Wichtel nur davon, daß er irgendeine ‹Aufgabe› übernehmen will und daß er sich – diese Floskel kommt mit einer 100 prozentigen Übergangswahrscheinlichkeit – auf eben gerade diese tolle Aufgabe als Herausforderung ganz toll freue. Uhhhh! Das schauen wir uns mal näher an, falls Sie das aushalten, lieber Leser und liebe Leserin.

Was ist eine Herausforderung? Der Konnotationshof um dieses scheußliche Wort herum sagt eigentlich alles: Jemanden herauszufordern bedeutet, ihm den Fehdehandschuh hinzuwerfen, ihn zum (persönlichen) Duell zu fordern, ihm den Kampf anzusagen, ihm den Krieg zu erklären. Und wer ist der Gegner unseres herausgeforderten Wichtels? Tja, mit ein wenig Nachdenken kommen wir zu dem deprimierenden Schluß, daß es sich um die ganze Welt handelt, denn kleiner machen es die Wichtigkeitswichtel in der Postmoderne nicht! Da ist also ein herausgefordertes ‹Ich›, das der ganzen Welt gegenübersteht. Es der ganzen Welt zeigen will. Was? Daß es den ganz persönlichen Willen ‹zeigt›, eine Aufgabe auch zu erfüllen? Nein, nein, nur daß es – natürlich nur ganz persönlich jetzt – eine Herausforderung annehmen will. Als ‹Ich›. Als von allem und allen anderen deutlich abgegrenztes Individuum. Toll. Soviel ‹Ich› war nie!

Und jetzt stellen wir uns mal ganz dumm und fragen:

  • Was erfahren wir über das Wissen und Können des Herausgeforderten, welches zur Bewältigung dieser Herausforderung nötig sein könnte?
  • Was erfahren wir über die in der Herausforderung verborgenen Inhalte und Qualitäten, die der Herausgeforderte zu bearbeiten hat?
  • Was erfahren wir über die Methoden, mit denen der Herausgeforderte an seine Herausforderung heranzugehen beabsichtigt?
  • Was erfahren wir über die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Herausforderung, vor die sich der Herausgeforderte – ganz persönlich – gestellt sieht?
  • Was erfahren wir über die Voraussetzungen und die näheren Begleitumstände, die bei der Bewältigung dieser Herausforderung vom Herausgeforderten – ganz persönlich – zu beachten sind?
  • Und was erfahren wir darüber, ob ein Herausgeforderter seine Herausforderung auch erfolgreich bewältigt? Nichts? Könnte sein, denn der Herausgeforderte ist ja bereits auf dem Weg zur nächsten großen Herausforderung, über die er sich wieder einmal sehr freut. Und auf dem Sprung von Herausforderung zu Herausforderung hören wir die Wichtel singen: «Dieser Tag war ein Erlebnis, Rauch und Trümmer das Ergebnis!» Sollte ich im Moment etwas wütend sein? Hm.

  • Es scheint wirklich so zu sein: Im Jahr 2002 ist es völlig egal, welche Herausforderungen von irgendjemandem angenommen werden. Hauptsache ist, daß ein Einzelner (eine Einzelne ist es nur ganz selten) sich herausgefordert fühlt und als solcher von den Medien hofiert wird. Ein herausgefordertes ‹Ich› steht gegen den Rest der Welt. Inhalte? Fehlanzeige. Über Inhalte kann in einer Gesellschaft des Spektakels ernsthaft nicht mehr geredet werden. Da bleibt nur spektaklistischer Lärm. Ob einer sich um den Schuldenabbau bei Bund und Ländern kümmern will, ob einer zu einem anderen Fußballverein wechseln möchte, ob einer Fliegen mit dem Mund fangen oder tagelang auf einem Pfahl sitzen will: Herausforderungen allüberall. Dilettanten allüberall. Denn nur Pfuscher, Laien, Amateure, Stümper, Nichtskönner und Nichtswisser stehen vor Herausforderungen! Die anderen stehen vor – Inhalten.

    Und, noch einmal, es sind ‹persönliche› Herausforderungen, die nur mit dem einen Herausgeforderten zu tun haben und die in keiner Weise in Zeitläufte oder soziale Räume eingebunden sind. Einen Blick auf größere Zusammenhänge oder gar auf den Sinn von Unternehmungen gibt es nicht. Wozu sollte das auch gut sein? Die Welt ist die Welt in Bezug auf mich. Es gibt keine anderen Kriterien, außer dem, daß da eine ‹individuelle› Herausforderung wartet. Einzelwesen, die in einer Gesellschaft von Einzelwesen leben, nehmen einzelne Herausforderungen an, ganz für sich. Das muß jeder selbst entscheiden. Wenn er das doch will. Oder nicht will. Bitte! Da gibt es keine übergeordneten Maßstäbe. Gucken wir auf irgendeine beliebige Sendung im TV: Herausgeforderte Einzelkämpfer unter sich. Die Welt als Wille und Herausforderung. So ist es!

    Nur: Wozu soll das gut sein, daß irgendjemand irgendeine Herausforderung annimmt, außer, daß der, der gerade eine Herausforderung angenommen hat, sagen kann, er hätte gerade eine Herausforderung angenommen?

    Und: Wie sieht eine Welt aus, in der Wichtigkeitswichtel permanent und immer wieder Herausforderungen annehmen? Tja, diese Antwort fällt allerdings leicht, denn es ist leider so, daß die Welt als Wille und Herausforderung für den folgenlos ist, dessen Wille herausgefordert wurde. Der Herausgeforderte schafft mit seinem Willen (und nur mit diesem) die Bewältigung der Herausforderung, oder er schafft sie eben nicht. Das Leben geht weiter. Wenn er es nicht schafft, oder einfach plötzlich keine Lust mehr hat, es zu schaffen, ist das allein seine Sache. Das hat nur mit ihm zu tun. Das geht – einzig und allein – nur ihn etwas an. Eine Verbindlichkeit gegenüber einer Sache, einer Utopie, einer sozialen Gruppe, einem ethischen Anspruch, ja einem Wert? So ein 68er Geseier.

    Lieber Leser, lieber Leserin, können sie das Wort H. auch nicht mehr hören? Geht es Ihnen von Stund an nur noch auf den Zeiger? Wunderbar! War meine Absicht. Also: Schluß mit dem Gequatsche von der H. Ich fordere die sofortige Aufnahme dieses Ekel-Wortes in jede nur denkbare schwarze Liste! Und konkret: Sobald wir das nächste Mal das Wort H. hören, werden wir ganz laut lachen. Lange. Das hilft. Uns.



    Erstellt: 6. Februar 2002 – letzte Überarbeitung: 6. Februar 2002
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