BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Grausamkeit» von Holger Wyrwa
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Im an sich ‹unbedeutenden› kleinen alltäglichen Ereignis, in Momentaufnahmen seines sozialen Umgangs, spiegelt sich wider, was der Kleinbürger ist. In einer - uns eher unbedacht erscheinenden und für ihn aber völlig natürlichen und authentischen - Bemerkung während einer Kleinbürgergeselligkeit, in einer Vertraulichkeit und Distanzlosigkeit, in einer Art zu scherzen, in den Themen, die er anspricht, in den Meinungen, die er aufsagt, in den Bosheiten, die er von sich gibt, entblättert sich in Sekundenschnelle sein Sein. Der Kleinbürger ist und bleibt sich ähnlich. Pars pro toto. Immer. Ein Augenblick enthüllt das, was er ist - und immer bleiben wird. Jede Äußerung, die er von sich gibt, ist Ausdruck einer geistigen Mechanik, deren letzte Ölung nie stattfinden wird. So wie er sich verhält, so ist er.

So schwärmt und träumt ein Kleinbürger von Gemütlichkeit, aber sobald er einen sozialen Raum betritt, in dem es «gemütlich» werden könnte, zeigt er «ein überindividuelles Muster von Gemeinsamkeit, Gemütlichkeit und Geborgenheit zerstörenden Verhaltensweisen [...]. Wo immer mehr als einer anwesend ist, da ist die Hölle mitten unter ihnen und kein Kleinbürger kann ihr entrinnen.» (Vgl. das Ende des Traktates zur «Gemütlichkeit») Wie kann das sein? Warum zerstört der Kleinbürger das, wonach er sich sehnt? Warum ist er nicht achtsam, vorsichtig, zurückhaltend? Weil er nicht merkt, nicht spürt, was er tut. Und was tut er? Er tut das, was in vielen Landstrichen und Regionen unseres Landes unter Kleinbürgern als «rauh aber herzlich» oder gar als «direkt, klar und wahr» gilt: Er verhält sich ‹grausam›!

Und gerade im geselligen Kreis zeigt der Kleinbürger seine Grausamkeit. Gerade im geselligen Gemütlichkeitsrausch wird der Mangel an Einfühlungsvermögen, Höflichkeit und Distanz immer deutlich. Die Gemütlichkeitsmaske des Kleinbürgers fällt. Er will lustig sein, Spaß haben und wenn er gleichzeitig dabei ein paar «Aggressionen loswerden» kann, ist es ihm nur recht. Auch die anderen Kleinbürger hat er beim richtig plazierten Joke oder der nicht weniger richtig plazierten bösen Bemerkung immer auf seiner Seite, egal, was es dem vom Joke Betroffenen kostet.

Wenn der Kleinbürger in - natürlich geselliger - Runde jemanden aufzieht, einen Spaß macht, so ist dies eben keine harmlose Bemerkung. Sie ist roh und plump. Aber treffsicher. Darüber hinaus ist sie eine Grausamkeit, die der Kleinbürger als eine beiläufige Bemerkung tarnt. Denn die Bemerkung beinhaltet eine Botschaft, die alles andere als lustig und freundlich-scherzend gemeint war. Denn das Gemeinte hinter dem Gesagten, der Text zwischen den Zeilen, sollte den Angesprochenen verletzen. Würde man den Kleinbürger auf die Wunde ansprechen, die der einem anderen mit einer ach so harmlosen Bemerkung geschlagen hat, so wäre er zutiefst verwundert. Denn in fast allen Fällen ist ihm nicht bewußt, was er getan hat. Das macht im übrigen seine Gefährlichkeit aus. Weil er sich selbst so perfekt verleugnen kann, eine solche Unkenntnis über seine Motive und sein Tun hat, kann er sich immer harmlos geben und entrüstet sagen, daß doch alles nur ein Scherz gewesen sei und man sich nicht so anstellen solle. Auf etwas anderes läßt er sich nicht ein. Eine Einsicht in sein Tun ist ihm versperrt.

Der angesprochene, der grausam behandelte Kleinbürger, nimmt aufgrund des gefeierten Gemütlichkeitskontextes das Gemeinte in der Regel nicht bewußt wahr, aber er fühlt für einen winzigen Augenblick eine Erschütterung. Und dieser kleine Augenblick reicht aus, um ihn zu verletzen - was ja auch das unerklärte Ziel des Sprechers war. Wir werden nur ein einziges Beispiel von tausenden uns geläufigen heranziehen, pars pro toto: «Was? Du willst jetzt schon nach Hause? Darfst Du nicht länger wegbleiben?» Die ganze Runde brüllt vor Lachen, aber der Spaß ist ernst. Denn für den geübten Hörer ist deutlich, daß dem so Angesprochenen eine Abhängigkeit unterschoben wird, die ihn in den Augen anderer lächerlich erscheinen läßt. Er wird zum Popanz, gleichsam zum dummen August, der nicht frei in seinen Entscheidungen ist. Gleichzeitig äußert der Sprecher in dem von ihm Gemeinten, daß er selbst natürlich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt sei und ‹ausbleiben› könne, solange er wolle. Und der Angeschuldigte wird nun - und dies ist das Charakteristische für einen Kleinbürger - ‹klein› beigeben und tatsächlich zeigen, daß er nicht frei in seinen Entscheidungen ist: Er wird gegen seine ursprüngliche Absicht, gegen seinen empfundenen Wunsch nach Hause zu gehen, bleiben: «Ein Kleinbürger ist ein Mensch, der klein denkt, klein fühlt und kleinlich handelt.» (Vgl. die «Einführung» zu dieser fortgesetzten Polemik) Oder anders: Der Kleinbürger bewegt sich nicht, er wird bewegt. Ein ‹Großbürger› geht nach Hause, wenn und wann er das möchte.

Natürlich zeigt der von rauhen und herzlichen Grausamkeiten dieser oder ähnlicher Art Betroffene nicht seine Betroffenheit, er will ja schließlich in seiner Kleinbürgergemeinschaft kein Spielverderber sein. Denn das genau ist der Kleinbürger nie. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz im Leben eines Kleinbürgers: Halte beizeiten - also immer - den Mund! Also hält er in dieser Situation den Mund, aber er ‹ballt die Faust in der Tasche› und lauert, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit bietet, eine passende Retourkutsche zu plazieren. Er hofft auf seine Chance, denn ihn treibt die Rache. Er könnte sich großmütig zeigen, Gleiches nicht mit Gleichem vergelten, oder zumindest gleichgültig sein. Doch dafür hat der Kleinbürger nicht das nötige Format. Die Rache, so klein sie auch sein mag, ist ihm ein notwendiges Bedürfnis. Und diese Rache, diese Revanche, diese geschickt plazierte retournierte Grausamkeit, ist so sicher, wie das ‹Amen in der Kirche›.

Der Kleinbürger ist die Imitation eines Menschen , der sich in allem, was er tut, nur im Kreise dreht. Er zuckt zwar in den ‹richtigen› Augenblicken, aber sein Leben wird nicht von ihm gelebt. Ahnt er das? Neigt er deswegen zur Grausamkeit in der Gemütlichkeit?



Erstellt: 29. Oktober 2003 - letzte Überarbeitung: 29. Oktober 2003
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