BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wie kränklich ist die Wirklichkeit? - Die Rhetorik der Psychopathologie»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2014)
von der ‹Taskforce Psychopathomythologie› der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung›, unter Mitarbeit von Tabitha Schwartzkopf
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«Rhetoric is the form that discourse takes when it goes public […];
that is, when it has been geared to an audience,
readied for an occasion, adapted to its ends.»
(Herbert Simons)

Liebe Freundinnen und Freunde der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›,

wir prüfen für Sie die Wirklichkeit. Dieser Text beschäftigt sich mit dem Diskurs über psychischen Krankheiten. Der neue Katalog psychischer Störungen, das DSM-5, ist soeben erschienen. In verschiedenen Medien gibt es eine überraschend kontroverse Debatte zu den dort zu findenden Klassifikationen. In den Vereinigten Staaten wurde das DSM-5 von der Nationalen Behörde für Geistige Gesundheit (NIMH) inzwischen als unbrauchbar zurückgewiesen. Der Grund: mangelnde Validität. Im eigenen Feldversuch zeigte sich den DSM-Initiatoren zudem eine ausgesprochen niedrige Reliabilität ihrer psychopathologischen Kategorien. Die Vertreter der psychopathologischen Störungen sehen sich auch deshalb mit Kritik konfrontiert, weil sogar der frühere DSM-Chefautor Allen Frances eine Ausweitung psychischer Störungskategorien auf normales Empfinden und eine Psychiatrisierung der Gesellschaft durch das DSM-5 fürchtet.

Die Autoren des DSM und seine Verteidiger haben auf diese Vorwürfe reagiert. Sie tun dies in Interviews, auf Podiumsdiskussionen, mit Leserbriefen und in Zeitschriftenartikeln. Wir haben ihnen dabei mit den Mitteln der Wirklichkeitsprüfung genau zugehört und sind auf eine recht überschaubare Anzahl von Skripten und Mythen gestoßen, die zur Verteidigung des ‹Psychopathologischen Wörterbuches› genutzt werden.

Wir wollten wissen: Wie wird die ‹Wirklichkeit› psychischer Störungen gegen die Kritik, die ihr entgegenschlägt, verteidigt? Im folgenden finden Sie, lieber Leser und liebe Leserin, eine vorläufige Zusammenstellung dieser Skripte, die den ‹Herren des Psychopathologischen Wörterbuchs› (vgl. ‹Die Herren des Wörterbuchs›) dazu dienen, ihre Wirklichkeit abzusichern.

In der ersten der nun folgenden Skriptsammlungen setzen sich die ‹Herren des Psychopathologischen Wörterbuchs› nicht mit der Kritik, sondern mit den Kritikern auseinander. Diese laufen ‹in die Irre› (IVX) [1] Wir haben alle Zitate der Verteidiger des psychopathologischen Wörterbuchs mit eindeutigen Kürzeln versehen, die nicht ihre echten Initialen sind. Im Rahmen der Wirklichkeitsprüfung ist das Individuum lediglich Träger des Diskurses, es kann also davon abgesehen werden, die wahre Identität der Sprecher zu veröffentlichen. In Einzelfällen wird auf die soziale Rolle des Sprechers hingewiesen. Vgl. Karl Kraus: «Objekt (unserer Kritik) ist nie der Gegner, sondern der Umstand, daß es ihn gibt.» (Die Fackel Nr. 251/52, S. 37, vom 28.4.1908). Die Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und den Kritikern wird durch Verwendung dieser Skripte so strukturiert, dass die Kritiker nicht einfach anderer Meinung sind, sondern als unverantwortlich dastehen sollen.


Skriptsammlung 1: «Und schuld bist Du!» Bei den vorstehenden Skripten handelt es sich zunächst um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, einem Streit zwischen, so soll es aussehen, verantwortungsvollen und verantwortungslosen Kollegen. Eine perfide Wendung nehmen die ‹Und schuld bist Du!›-Skripte dann, wenn sie nicht mehr wissenschaftsintern gebraucht werden, sondern sich gegen die vermeintlich Betroffenen richten. Denn diese laden persönliche Schuld auf sich, wenn sie nicht auf die Erkenntnisse des DSM-5 hören wollen. Diese diabolische Variante nennen wir als

Subkategorie: Das Fegefeuer-Argument. Mittels des Fegefeuer-Arguments wird Angst erzeugt. Wer sich nicht entsprechend der Erkenntnisse der ‹Herren des Psychopathologischen Wörterbuchs› verhält, versündigt sich an sich selbst, seinen Angehörigen und der Gesellschaft. Tun die ‹Betroffenen› dies dann aber doch, klebt die Verantwortung dafür an ihnen wie schwarzes Pech. Denn nicht die DSM-5-Vertreter wollen die von Ihnen postulierten Störungen behandelt sehen, sondern, wie wir gleich sehen werden, die Menschen selbst.


Skriptsammlung 2: «Die Leute wollen das doch!»

Wenn es um echte Konsequenzen geht, wie Psychotherapie, Pharmakotherapie, evtl. Hospitalisierung, dann sind es nicht diejenigen, die Diagnosen verteilen, die die Verantwortung dafür übernehmen, sondern diejenigen, die sie bekommen! Diese entscheiden nämlich selbst, ob die vom Experten gestellte Diagnose behandlungsbedürftig ist. Jedenfalls sieht das die Leiterin einer großen psychiatrischen Abteilung so. Wir erinnern uns: wer nicht selbst rechtzeitig bei den ersten Anzeichen, die als pathologisch klassifiziert wurden, therapeutisch einschreitet oder einschreiten lässt, der verschuldet eigenes und fremdes Leid. Ob er dieses Unheil zulässt oder nicht, liegt aber ganz bei ihm. Die Verantwortung für die Konsequenzen trägt er also allein.

Es wird ein autonomes Subjektmodell vertreten. Jeder Mensch entscheidet für sich selbst. Es ist das Bild des Homo Oeconomicus, der auf Grundlage optimaler Information die rational beste Entscheidung für sich trifft. Also genau das Modell, das in der Finanzkrise gerade aufs Anschaulichste versagt hat. Ein rationales Subjekt, das sich z.B. von Werbung nicht beeinflussen lässt. Einer, der es als Betroffener und Behandler wissen muss, der Psychotherapeut Gary Greenberg [2] Greenberg, G. (2010). Manufacturing Depression. The Secret History of a Modern Disease. London: Bloomsbury. Seite 280., sieht das freilich etwas anders: Die am häufigsten gebrauchten Skripte zur Verteidigung der Wissenschaft vom geistig Abnormalen werden ausgerechnet mit einem besonders wissenschaftsfernen Gestus vorgetragen, dem der Wahrsage. Alternative Erklärungen treffen nicht das Eigentliche, das Bestehen der Störung wird einfach vorausgesetzt. Unter der Überschrift ‹Die Wirklichkeit ist wirklich krank› findet sich die simpelste aller Argumentationsformen, deren Hauptaussage ist: Es ist einfach so.


Skriptsammlung 3: «Die Wirklichkeit ist wirklich krank!»

Mittels der wiederholten Behauptung der Existenz psychopathologischer Wirklichkeiten lassen sich auf einfachste Weise Argumente für das Psychopathologische Wörterbuch erzeugen. Diese haben wir in der Kategorie ‹Die Wirklichkeit ist wirklich krank› gesammelt. Ihre Aussage: die Wirklichkeit ist wirklich krank, selbst dann, wenn sie normal ist. (Im Folgenden haben wir die durch die behauptete wirkliche Existenz der Psychopathologie scheinbar desavouierten Kritikpunkte hervorgehoben.) Viele Vertreter des Psychopathologischen Wörterbuchs fühlen sich dabei noch an die Konsensgemeinschaft der DSM-Autoren gebunden. Freilich muss man sich aber nicht notwendig zum Sklaven der internationalen Forschergemeinschaft machen. Man sieht doch, was man sieht, schließlich ist das alles längst bekannt: Die Wirklichkeit ist wirklich krank! Wenn im folgenden ein Doktor der Medizin keinerlei Rücksicht mehr auf ‹die Datenlage› nehmen will, geht er nur konsequent auf dem Weg weiter, den die Verteidiger der state-of-the-art-Diagnostik mit den hier gesammelten Argumenten eingeschlagen haben. Man setzt die Existenz dessen, was man finden will voraus, und siehe da! - es findet sich.

Subkategorie I: «Ich weiß doch und es reicht doch, was ich sehe!» Subkategorie II: Der Geist leidet in Wirklichkeit am Körper

Es soll so aussehen, dass psychische Krankheiten in etwa den Status von Diabetes haben, also den einer weiteren chronischen körperlichen Krankheit. Dafür müssen natürlich äußere Faktoren ausgeschlossen sein, wie es z.B. bei einem aktuell populären, stark an beruflichen, also von außen kommenden, Stress gebundenen Begriff ist: Daran zeigt sich auch, dass die DSM-Kategorien keineswegs so theoriefrei sind, wie die DSM-Autoren dies behaupten. Dadurch, dass man etwa schon früh das Wort ‹Reaktion› (wie in ‹reaktive Depression›) wegen seines theoretischen Ballasts aus den Klassifikationen gestrichen hat, hat man implizit eine viel weitreichendere Theorie aufgestellt: Da das Leiden anlasslos ist, muss es von innen kommen, vom Körper. Anschließend stellt man sich zusammen mit einem DSM-Mitautor nur noch rhetorisch die Frage: Die Skripte der folgenden Kategorie fanden wir nur selten. Sie waren meist eingebettet in vielfache Bezüge zur ‹wirklichen Natur› psychischer Störungen. Wir nennen diese Kategorie deshalb


Skriptsammlung 4: Das konstruktivistische Feigenblatt Diese Skripte werden ungern geäußert, meist nur dann, wenn die Verteidiger des DSM auf den konsensualen Abstimmungsprozess, der hinter ihren Kategorien steht, direkt angesprochen werden. Um diese etwas merkwürdige Form des Mehrheitsentscheids über die Existenz geistiger Störungen möglichst rational klingen zu lassen, erfindet man für die Öffentlichkeit schon mal ein paar Zusatzkriterien, die besonders plausibel klingen: Das ‹Kriterium der Klinischen Signifikanz›, auf das IX hier anspielt, ist allerdings durch die starke Betonung von Früherkennung und Prävention sowie die Senkung diagnostischer Schwellen im DSM-V beinahe obsolet geworden.

Mit dieser letzten Äußerung kommen wir noch zu einem Zusatzbefund unserer Wirklichkeitsprüfung, in der wir Argumente sammeln wollten, aber auch immer wieder folgendes fanden:


Skriptsammlung 5: Die glatte Lüge Alles was die Direktorin einer bekannten deutschen psychiatrischen Einrichtung hier leugnet, ist nachweislich wahr. JI lügt einfach. Recherchieren Sie es nach, liebe Leserin, lieber Leser (und starten Sie bei Ihrer Recherche z.B. mit den Namen Cosgrove und Krimski). Oder lassen Sie sich die letzte Aussage gleich von einem der DSM-Autoren, der ebenfalls mit diskutierte, widerlegen: Geht es nach den ‹Herren des psychopathologischen Wörterbuchs›, gibt es für uns kein Entkommen. Wir alle werden, ja wir sind ständig körperlich und psychisch krank: Wollen Sie, liebe Freundinnen und Freunde der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, an diesem Punkt den Skripten folgen? Oder halten Sie es mit uns, der Taskforce ‹Psychopathomythologie›, und schließen sich den Worten des wunderbaren Gary Greenberg (2010, S. 367) an?

«Nenn Deine Sorgen eine Plage oder anderes. Nimm Deine Medikamente oder lass es. Geh zum Therapeuten oder geh nicht hin. Aber was immer Du tust, wenn Dich das Leben auf die Knie zwingt – was es sicher tun wird, vielleicht weil es genau das tun soll – lass Dir auf keinen Fall erzählen, Dein Gehirn sei krank. Vergiss nicht, dass das nur eine Geschichte ist. Du kannst Deine eigene Geschichte über Deine Leiden erzählen. Und ich vermute, es wird eine bessere Geschichte sein, als diejenige, die die Erfinder der Depression für Dich geschrieben haben.»

Wir sind gespannt.



Ins Netz gestellt am 18. März 2014.
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