Die Natur hat doch keine andere Sprache,
als die der Mensch ihr leiht,
sie kann also auch nicht ohne ein Medium
wiedergegeben werden.
(Bjørnstjerne Bjørnson, 1832-1910)
Einführung
In Diskursen über das epistemologische Modell des ‹Sozialen Konstruktivismus› gab und gibt es immer wieder einen Satz, ein Argument, das in allen möglichen Begründungszusammenhängen zu hören ist. Sympathisanten des ‹Sozialen Konstruktivismus› bringen dies Argument gerne als ein sich selbstverständlich aus den wenigen theoretischen Sätzen des ‹Sozialen Konstruktivismus› ergebendes Korollarium ein, Kritiker benutzen es, um das, was sie für die ‹Welt der Tatsachen› halten, vor einem sozial-konstruktivistischen Zugriff zu schützen. Die Überschrift zu diesem kleinen Traktat zeigt, wohin die Reise in dieser zweiten Marginalie gehen wird: «Das erkenntnistheoretische Modell des ‹Sozialen Konstruktivismus› soll, wenn überhaupt, nur in bestimmten ‹Bereichen› der ‹wirklichen Welt› gelten». Deutlicher ausgedrückt: Es sei eben nicht ‹alles› sozial konstruiert, d.h., sprachlich geformt.
Und welche Bereiche könnten und sollten das sein, in denen dem ‹Sozialen Konstruktivismus› eine ‹Gültigkeit› zugesprochen wird oder auch nicht? Nun, sowohl Sympathisanten als auch Kritiker sind hier wenig mundfaul und zaubern die so genannten ‹weichen› Areale unserer Lebenswelt herbei, in denen der Diskurs über ‹Soziale Konstruktionen› einen Sinn machen könne: Soziale Beziehungen, ‹Macht›, ‹Liebe›, kurz, soziologische, psychologische und vielleicht auch noch pädagogische Dimensionen. Außerhalb dieser Bereiche, wenn es also um die ‹harte Wirklichkeit› gehe mit ihren ‹Gegenständen›, ‹Tatsachen› und ‹Biologismen›, sei es wenig sinnvoll, sozial-konstruktivistisch zu argumentieren. Nun, ich bin hier ganz anderer Ansicht.
Durchführung
Wenn wir uns das ‹Gültigkeitsbereich-Argument› näher ansehen, wird schnell klar, daß hier gerne triviale Gegenstände aus dem Alltag herangezogen werden wie Tassen, Türen, Treppen, Wände, Kugelschreiber und Kraftfahrzeuge. Ich habe mir in meiner langen Zeit als Lehrende an verschiedenen Universitäten zigmal anhören müssen, wie ein Student - oder auch ein Professor der Medizin (sic!) - nach den ersten wenigen Erläuterungen zum ‹Sozialen Konstruktivismus› in einer plötzlichen Eingebung eine Tasse oder etwas ähnliches hoch hält und triumphierend, ja, beglückt die Frage stellt: «Sie behaupten also, daß diese Tasse in Wirklichkeit gar nicht da ist?» Und schon ist man oder frau zu einem Solipsisten geworden, der Anlaß zu allerlei kunterbunten Belustigungen bietet. Nun ja. Interessanterweise meinen aber selbst ‹Hard-Core-Realisten›, daß es schon ‹Bereiche› gebe, in denen nicht entscheidend sei, wie eine Tatsache beschaffen sei, sondern wie über diese gesprochen werde.
Lieber Leser, liebe Leserin, da haben wir also die klassische ‹Gültigkeitsbereich-Argumentation›: Es gibt da draußen in der Welt ‹harte› und ‹weiche› Daten und Fakten, und welches epistemologische Modell für welche Daten und Fakten zuständig sein soll, erscheint völlig klar. Dazu einige Marginalien:
- Beginnen müssen wir wohl wieder einmal mit der begrifflichen Trennung zwischen einem ‹ontologischen› und einem ‹epistemologischen› Solipsismus. So ein Scherz wie «Gleich werden Sie behaupten, daß dieser Kugelschreiber hier gar nicht existiert, nicht?» soll ja nur die Albernheit des wirschen Freundes epistemologischer Fragen bekunden. Und was wirkt alberner als eine solipsistische Position? Der Witz ist, daß wir alle ‹epistemologische› Solipsisten sind, sein müssen, denn die Gegenstände da draußen in der Welt müssen von uns erkannt und benannt werden, und diese Benennung, dieses ‹Begreifen› folgt strikten sozialen Regeln, die wir assimiliert, selten akkommodiert haben. Die Benennung von ‹Teilen› der Wirklichkeit als Tassen, Türen, Wände und Kugelschreiber entsteht also im Rahmen sozialer Prozesse, und der darauf folgende Umgang mit diesen Phänomenen folgt sozialen Regeln.
- Die über verschiedene Kulturen hinweg übereinstimmende Benennung von ‹Teilen› der Wirklichkeit als Tassen, Türen, Wände und Kugelschreiber (in der jeweiligen Sprache) bedeutet nun nicht, daß es ein festes, universales Verhältnis gäbe zwischen Gegenstand und Namen. Gegenstände senden keine global gültigen Affordanzen, keine epistemologisch nahe liegenden kognitiven Erschwinglichkeiten aus, die so ohne weiteres in vielen (allen) Kulturen zu einer kognitiven Passung, einer ‹Erkenntnis› führen. Eine Tür ist nicht in vielen (allen) Kulturen eine Tür. Oder anders: Die Wirklichkeit, die Tatsachenwelt, die Realität drängt sich nicht von sich aus sinnhaft in unser Gehirn, nein, bestenfalls werden wir ‹gestört›, und in diesem Fall müssen wir erfinden, was uns da stört, und das heißt, dem Störenden einen Namen zu geben, es zu benennen.
- Noch einmal zu den Universalien: Ein naiv-realistisches ‹Jokerargument› ist ja die Behauptung, allüberall auf der Welt würden die Menschen dies oder das in gleicher Weise sehen und erkennen. Nun, daß man in den meisten Kulturen nicht vor Wände läuft, sondern diese umgeht, hat nicht viel mit diesen Wänden zu tun, sondern mit sozialen Regeln, die in der Ontogenese verinnerlicht wurden. Daß etwas auf der ganzen Welt gilt, zeigt bestenfalls den Gültigkeitsbereich von sozialen Konstruktionen, nicht ihre Grenzen. Genau genommen läßt sich aus beinahe universal verbreiteten Erkenntnis-Regeln ja nur schließen, daß ziemlich viele Menschen in eben diesem einen Bereich (des Umgehens von einem den Weg versperrenden Wänden) sehr ähnliche oder gut vergleichbare bzw. übersetzbare Texte zu eben diesem Thema produzieren: «Paß auf! Lauf nicht vor die Wand!» Die globale Unhintergehbarkeit bestimmter sozialer Konstruktionen ist kein Beleg für deren Abbildungs-Wirklichkeit, sondern für ein Sich-Einrichten in der Welt mit Hilfe der Sprache.
- Nur nebenbei: Ein statistisches Phänomen (sagen wir mal: Diese eine Kaffeetasse wird in fast allen Kulturen als Kaffeetasse ‹erkannt›) gibt keine Auskunft über ontologische Strukturen. Daß eine Kognition, ein soziales Ritual sehr häufig vorkommt, bedeutet nicht, daß es unabhängig von unserer Erkenntnis sich so oder so direkt und unmittelbar aus der Wirklichkeit ergeben hätte.
- Eigentlich spricht das ‹Universalien-Argument› so eher für den ‹Sozialen Konstruktivismus. Denn wenn (fast) überall auf der Welt Gegenstände in ähnlicher Weise perzipiert und apperzipiert, d.h., als Ausgangspunkt für ähnliche Handlungen verwendet werden sollten, spricht dies ebenso sehr dafür, daß alles konstruiert ist, wie, daß nichts konstruiert ist und alle Weisen von Kognition und Verhalten eben nur der Wirklichkeit der Tatsachen folgen. Oder anders: Es gibt sozusagen keine ‹Kontrollgruppe›, anhand derer sich auf das eine oder andere sicher schließen ließe.
- Noch einmal zu den Wänden, vor die Konstruktivisten zu laufen pflegen. [1] Oder zu den Eisenbahnzügen, vor die sich Konstruktivisten zu setzen pflegen: Ein veritabler Professor für Psychologie pflegte ‹tatsächlich› und regelmäßig in seiner Vorlesung - unter großem Jubel der studentischen Jeunesse dorée - zu berichten, daß Konstruktivisten bald aussterben würden, setzten diese sich doch mit Vorliebe auf Bahngleise und riefen bei einem heran nahenden Zug freudig: «Ich konstruiere mir meine Wirklichkeit. Und jetzt konstruiere ich mir, daß dies gar kein Zug ist!» Nun ja. Wände, herannahende Züge, Türen, Kaffeetassen und andere Aspekte körperlich explorierbarer weltlicher Widerständigkeit sagen nichts über die grundsätzliche Erkennbarkeit der Welt aus, sondern eben nur etwas über ihre von uns niemals bezweifelte Widerständigkeit. Naive Realisten, wie der hier in einer Fußnote verewigte veritable Professor für Psychologie, sehen naive körperliche Erfahrungen in einem Gegensatz zu Erfahrungen, für die wir die Sprache benötigen. Dies ist leider ziemlicher Unsinn, denn auch körperliche Erfahrungen, ja, unser Körper selbst, folgt ja einer gemeinschaftlich konstruierten Grammatik, ist ohne Texte gar nicht denk- und fühlbar! Was sind denn Gefühle anderes als geringfügige physiologische Aktivierungen, denen ein sprachliches Etikett aufgeklebt wird?
- Noch etwas zum Diskurs über die Gegenstände oder Universalien, die angeblich ‹nicht› sozial konstruiert sind: Streitereien über Treppen, Tassen, Wände und andere scheinbar unantastbare, unhintergehbare, kontext- und konstruktionsfrei ‹erfahrbare› Realien sind für uns keine sozial praktizierbaren Sprachspiele, weil es nämlich keine Regeln gibt, nach denen Konstruktivisten sie spielen könnten. Ja, es ist in solchen Diskurs-Spielen nicht möglich, die aufgeworfenen Fragen einigermaßen sinnvoll zu beantworten! Die Frage «Ist diese Kaffee-Tasse, die ich jetzt hier hoch halte, ontologisch existent, also wirklich da, und, wenn ja, ist sie auch in Wirklichkeit so beschaffen, wie es scheint?» kann, wie alle Letztbegründungsfragen, nicht beantwortet werden, denn die dazugehörigen Sprachspiele sind weitgehend regellos und damit für Konstruktivisten uninteressant. Konstruktivisten geht es auch gar nicht um die Antwort auf die Frage, ob diese alberne Kaffeetasse nun existiert oder nicht, ihnen geht es statt dessen um die unterschiedlichen Konsequenzen und die Praxen, die aus den jeweiligen Antworten folgen.
- Das nun schon mehrfach zitierte Argument, es gäbe Gegenstände von so allgemein gültiger Art, daß diese sich dem ‹Konstruktivistischen Zugriff› entzögen, isoliert Objekte der Wirklichkeitswelt, die es so isoliert, so ohne soziale Praxis eben nicht gibt! Einen Kugelschreiber in die Hand zu nehmen und zu sagen, der sei doch wohl zweifellos real, ist eine argumentative Praxis, die einzelne Objekte zunächst aus ihren Kontexten der Bewandtnis heraus reißt, um sie dann als Zubehör für erkenntnistheoretische Spielereien zu mißbrauchen. Kugelschreiber sind eigentlich zum Schreiben da, und Wände begrenzen Räume; Wände sind also nicht dazu da, sich an ihnen den Kopf einzurennen. Mit George Spencer-Brown - «If the weakness of present-day science is that it centres round existence, the weakness of present-day logic is that it centres round truth» - ließe sich nach der indefiniten Seite der Unterscheidung ‹Kugelschreiber-Umwelt› fragen. Dann würde schnell klar, daß da zwar etwas ist, ohne Frage, daß aber ein unterscheidendes, trennendes Erkennen immer eine Frage der Unterscheidungspraxis ist, und die ist immer eine begriffliche, also eine soziale. Daß der ‹Kugelschreiber› da ist, ist unbestritten. Daß er aber gemäß seiner ontologischen Realität von anderen Objekten unterscheidbar ist, daß er also wirklich das ist, was er scheint, läßt sich füglich nicht sagen. Wie etwas wirklich ist, wissen wir nur durch Hörensagen und Lauschen in unserem sozialen Umgang, das Ding an sich sagt uns nichts über sich.
- Im Laufe der Entwicklung von Kindern läßt sich sehr schön beobachten, wie eine Vielzahl von körperlich oder sinnlich erfahrbaren und nicht erfahrbaren ‹Wahrnehmungen› eingeübt wird. Anders gesagt: Die im späteren Leben so nachlässig vollzogenen, aber allgemein zugelassenen Unterscheidungen werden in spezifischen sozialen Räumen eingeübt. Das nennt man Erziehung. Oder Sozialisation. Und die sozial genehmen Unterscheidungen, die Kinder zu treffen lernen, haben selbstredend nichts mit der wirklichen Wirklichkeit zu tun, nein, es sind lokal und kommunal definierte Wirklichkeitskonstruktionen. In den ersten Jahren der Ontogenese mag das Einüben immer neuer Wirklichkeitskonstruktionen sehr anregend sein, doch irgendwann, meist viel zu früh, verlieren die so ‹Entwickelten› das Interesse an weiteren, neuen, aufregenden Weisen der Welterzeugung, sie erklären ihre Lehrzeit für beendet - und haken die Welt ab. Alles, was den ‹Entwickelten› von nun an als Phänomen begegnen mag, wird fraglos als Konstante der wirklichen Welt erfahren, begriffen und behandelt - «Fakten, Fakten, Fakten». Daß die Wirklichkeit den ‹Entwickelten› und den ‹Erwachsenen› konstruktionsfrei, also tatsächlich zu sein scheint, liegt aber nur daran, daß sie im Laufe der Ontogenese bis zum Anschein der Konstruktionsfreiheit gestockt, geronnen und versintert ist. Nach einem kurzen Blick auf die Welt sieht der ‹Entwickelte› nur Gewohntes, die Welt wird zu einer fraglos verfestigten Form der Anschauung, zu einer Angewohnheit. Erziehung und Sozialisation offenbaren sich aus konstruktivistischer Sicht so als mehr oder minder geheime Schleifmaschinen, die an unseren frisch erworbenen Wirklichkeitskonstruktionen solange alles Überstehende und Bewegliche, alles Schlupfende, Schlackernde und Schillernde abfeilen, bis da endlich eine Ruhe ist, bis Wahrnehmungen als Wirklichkeitskonstruktionen mühe- und reibungslos geworden sind.
Schluß
Lassen wir uns auf die Gültigkeitsbereiche-Argumentation ein, so verkleinern wir die Ansprüche des ‹Sozialen Konstruktivismus› auf bestimmte Zuständigkeiten, Bezirke und Kompetenzen. So entzögen sich uns der Newtonsche Apfel, die ‹Geschlechtszugehörigkeit›, die Aktionspotentiale im Frontallappen und was es an vermeintlich ‹harten› Tatsachen und Tatsächlichkeiten sonst noch so geben soll. Mit der Gültigkeitsbereiche-Argumentation reproduzierten wir dann wieder einmal den ‹Körper versus Geist›-Dualismus, die ‹Welt versus Wort›-Dichotomie, den ‹Was versus Wie›-Unterschied und nicht zuletzt den Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
Daß wir auf der ganzen Welt im allgemeinen nicht gegen Wände laufen und uns auch nicht vor herannahende Züge setzen, heißt eben, daß es soziale Konstruktionen gibt, die gut ‹passen›. Daß sie passen, heißt jedoch nicht, daß uns so etwas wie Wände in ihrem ontologischen Sein zugänglich sind; es zeigt sich bestenfalls, daß bestimmte soziale Konstruktionen einfach allzu gut eingeübt und damit nicht (mehr) hintergehbar sind. Genau das aber nennen wir die
‹Textualität des Seins›.
Erstellt: 2. Juni 2005 - letzte Überarbeitung: 2. Juni 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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