BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skeptische Bemerkungen zu einigen beliebten Modellen der Verhaltenserklärung (3): ‹Psychodynamismus›» von Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

1 Einführung

Im ersten Text zu dieser kleinen Reihe habe ich mich auf den Gedanken gestützt, daß alles, was wir sagen, theoriegeladen ist und daß es doch sehr schön wäre, wenn wir wüßten, was wir sagen, wenn wir reden. Des weiteren habe ich noch das Bild vom Palimpsest herbei gezaubert, um deutlich zu machen, wie eine psychologische oder psychologisierende Rede in Alltag und Wissenschaft fast immer über das, was bei einer Person zu sehen oder zu hören ist, hinausgeht und etwas Wesentliches, Eigentliches, Substanzielles hinter dem, was zu sehen und zu hören ist oder war, vermutet, erfindet oder behauptet. Das beobachtbare ‹Verhalten› ist mehr oder weniger uninteressant, spannend seien - so der Hauptduktus der Psychologie in Alltag und Wissenschaft - die ‹Ursachen› des ‹Verhaltens›.

Im zweiten Text habe ich dann eine Art und Weise über Menschen zu sprechen vorgestellt, die romantisch orientiert ist und die auch heute noch in vielen psychologischen und pädagogischen Modellen eine große Rolle spielt: Das ‹humanistische› Modell der Verhaltenserklärung. Begriffe zur Struktur und Dynamik dieses Modells kreisen um das Wort ‹Selbst› und versprechen uns, daß wir alle es wert sind, etwas aus uns zu machen. Selbstverständlich lehnen humanistische Modelle einen Determinismus jeglicher Couleur ab. Genau so wenig kann diese Textgattung etwas mit irgendwelchen mechanischen Vorstellungen anfangen. Das Credo ist: Da Menschen ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten in sich bergen lassen sich nicht auf einen bestimmten Status festlegen. Punkt. Soviel zur Romantik. Auftritt der Moderne.


2 Wien um 1900

In den Jahren von 1900 bis 1920 war Wien der geistige Mittelpunkt Europas: Literatur, Theater, Architektur, Malerei, bildende Kunst und Musik wurden neu erfunden. Aber auch Philosophie, Sprachkritik und Psychologie. Und der Psychodynamismus [1] Der beste Blick auf diese aufregende Zeit ergibt sich aus der Lektüre der kompletten ‹Fackel›, die Karl Kraus von 1899 bis 1936 herausgab. Wunderbar ist auch das Buch von Allan Janik und Stephen Toulmin (1984): Wittgensteins Wien. München: Carl Hanser. Hervorragend ist der 1981 von Gotthart Wunberg herausgegebene Sammelband ‹Die Wiener Moderne›. Stuttgart: Philipp Reclam jun.. Das, was heute gemeinhin als ‹Psychoanalyse› bezeichnet wird, wurde in intellektuellen Zirkeln Wiens diskurriert und auf den Weg gebracht. Und natürlich stand damals Sigmund Freud im Mittelpunkt. Schauen wir uns das an!


3 Grundgedanken

Da ‹psychoanalytische› Thesen heutzutage tief in den ‹Gesunden Menschenverstand› hinein gesackt sind und sich buchstäblich alle Lehrbücher der Psychologie ausführlich um dieses Modell der Verhaltenserklärung kümmern, kurz, da ‹psychoanalytische› Bruchstücke zur Folklore geworden sind, kann ich gleich mitten in den Diskurs springen. Der ‹Psychodynamismus›, wie ich ihn gerne nennen möchte, ist als durch und durch modernes Modell der Verhaltenserklärung eine sehr interessante und populäre Variante des Modells der Biomaschine, welche ich im folgenden mit einigen Gedanken umkreisen und umspinnen möchte. Wir werden im weiteren Verlauf dieser kleinen Reihe noch andere Spielarten des Modell der Biomaschine kennen lernen.


3.1 Die Tiefe des Raumes

Ich erinnere an das Bild vom Palimpsest. In einer psychodynamistischen Rede über eine Person ergibt sich die Oberfläche, das Sichtbare, das Verhalten, das zu Erklärende aus einer Tiefenstruktur, wobei in der Tiefe des menschlichen Raumes verschiedene kausale Elemente zusammenwirken sollen. Ganz wichtig ist die psychodynamistische Überzeugung, daß ein Verhalten einer Person nicht einfach zufällig daher kommt. Nein, Verhalten ist nicht zufällig, sondern ‹biologisch› oder psychodynamistisch determiniert. Es gibt ein altes Diktum unter Psychoanalytikern: ‹Zufall ist das, was fällig ist›. Das ist genau so gemeint.


3.2 Die Logik des Indirekten

Im Psychodynamismus gilt das offene Verhalten immer als ‹Symptom› für etwas angeblich dahinterliegend Eigentliches. Das aktuelle Verhalten soll nur ein Zeichen für etwas anderes sein, das aktuelle Verhalten verweise immer auf psychische Vorgänge, so die dynamistische Rede. Nur, Obacht, dieser Zusammenhang zwischen dem aktuellen Verhalten und den eigentlichen psychodynamischen Ursachen soll zum einen ‹indirekt› und zum anderen ‹unbewußt› sein. Indirekt soll heißen: Ein Verhalten weist nie einfach und linear auf seine Ursachen hin, sondern immer nur verschlungen, verwickelt, verhüllt und versteckt. Und unbewußt soll heißen: Jemand, der sich gerade so und so verhält, weiß selbst nie, warum er etwas getan oder gelassen hat. Ist das nicht ein geniales Modell?


3.3 Annahmen zur Struktur

Die Rede über die vermuteten dynamistischen Strukturen - ‹Ich›, ‹Es› und ‹Über-Ich› - ist so profanisiert und trivialisiert worden, daß wir sie uns ohne weiteres als Teil einer Predigt im Kindergottesdienst vorstellen können: Im ‹Es›, das völlig unbewußt sei, lauere unser Instinkt-Erbe, lauerten die biologistischen Triebe. Das impulsive ‹Es› folge rein dem Lustprinzip und verlange kategorisch, sofort und unmittelbar nach Entladungen und Befriedigungen aller Art, unabhängig von den Konsequenzen. Das ‹Über-Ich› berge die von den Eltern und Großeltern in jahrhundertelanger Kulturentwicklung geprägten moralischen Vorschriften und Normen, die von uns im Rahmen von Identifikationsprozessen übernommen und internalisiert würden. Und das ‹Rest-Ich› folge dem Realitätsprinzip und versuche ständig zwischen den brutalen Anforderungen des Es und den kategorischen Mahnungen des Über-Ich zu vermitteln. Tja, die Lage zwischen Szylla und Charybdis scheint nicht sehr erfreulich. Im Gegensatz zu humanistischen Modellen der Verhaltenserklärung erscheint das psychodynamistische ‹Ich› ganz klein und schwach. Welch ein weiter Weg fort von den romantischen Modellen des Humanismus!


3.4 Annahmen zur Dynamik

Mit dem ‹Es› und dem ‹Über-Ich› als Strukturparameter ergibt sich in den psychodynamistischen Modellen eine hochinteressante innerpsychische Dynamik, die ganze Kohorten von Literaten und Schriftstellern angeregt hat, bis heute. Stellen wir uns nur ganz bildhaft vor, was in der Tiefe des psychischen Raumes alles geschehen kann! Hier nur ein Beispiel: Das ‹Ich› arbeitet gerade an einem Traktätchen, das ‹Es› drängelt sich mit dem Wunsch nach einem Cognac hinein, das Über-Ich grollt ex cathedra ein ‹Auf keinen Fall!› dazu und fordert strikte Beherrschung, das ‹Ich› verzweifelt, ach, welch eine Gemengelage! Und aus der ‹Logik des Indirekten› ergibt sich zwangsläufig, daß das arme schwache ‹Ich› seine Bedrängung nicht benennen und aus dieser nur eine ‹Verdrängung› machen kann. Dazu gleich noch mehr.

Zusätzlich zu dem aktuellen innerpsychischen Gedränge haben psychodynamistische Modelle noch angeblich biologisch fundierte ‹Triebe› erfunden, die allen psychischen Äußerungen zugrunde liegen sollen und die das ‹Ich› jederzeit zusätzlich bedrängen und belästigen können. Hier müssen wir uns eine Art Trieb-Dampfkessel vorstellen, in dem beinahe ständig Überdruck herrscht. Und dieser Druck soll erzeugt werden vom ‹Destruktionstrieb›, dem ‹Todestrieb›, und der ‹Libido›, einem auf sexuelle Befriedigung gerichteten Trieb. Wir sehen, da ist ‹innerpsychisch› ganz schön was los. Das Wort ‹Psychodynamismus› als Sammelbegriff für Verhaltenserklärungsmodelle dieser Art scheint nicht übertrieben.

Eigentlich reichen die Vorstellungen zu diesem innerpsychischen Dynamismus völlig aus, um beinahe alles Menschenmögliche erklären zu können. Doch es geht noch weiter. Eine ganz wichtige zusätzliche Energiequelle ergibt sich aus durch Traumata hervorgerufenen psychischen ‹Fixierungen› an oder auf psychosexuelle Entwicklungsphasen. Der Psychodynamismus interessiert sich sehr für entwicklungspsychologische Phänomene, allerdings schränkt er seine Texte auf vermutete frühkindliche Entwicklungsstufen der Sexualität ein. So wird hier von einer ‹oralen›, ‹analen› und ‹phallischen› Phase gesprochen. Und nach Abschluß dieser frühkindlichen Triebentwicklung soll dann - nach einer Latenzphase - eine ‹genitale› Phase folgen. Diese sogenannten ‹Fixierungen› sollen bei der Entstehung und Entwicklung einer Verhaltensstörung eine gewichtige Rolle spielen, wie wir noch sehen werden.


3.5 Zur Logik von Verhaltensproblemen

Da haben wir also ein ‹Ich›, das buchstäblich von allen Seiten bedrängt und dazu noch von allen möglichen Ereignissen in der frühen Kindheit in bestimmten frühkindlichen Entwicklungsstufen festgezurrt wird. Stellen wir uns als Beispiel nur einmal vor, daß in der ‹analen› Phase eines Kindes durch zu strenge oder zu nachlässige ‹Reinlichkeitserziehung› ein Malheur passiert und dieses Kind auf die anale Phase hin ‹fixiert› wird. Diese ‹Fixierung› dräut in die Zukunft hinein, sie hat eine progrediente Wirkung, sie sendet gleichsam Gummibänder in das spätere Leben, die den dann Erwachsenen zurück zerren können. Sollte nun im Alter von 20 Jahren plötzlich ein sogenannter ‹pathogener› Konflikt auftreten, eine psychische Belastung, ein Problem, so werde diese ‹Fixierung› auf eine frühkindliche Entwicklungsphase ihre Kräfte spüren lassen, denn die Gummibänder werden straff gespannt sein. Die Psychologik des Psychodynamismus sieht nun genau zwei Möglichkeiten zur Lösung dieses ‹pathogenen› Konfliktes: Die Neurose ist das Negativ der Perversion, sagte Freud. Das sollten wir festhalten, wenn wir über die Frage nachdenken, ob es im Psychodynamismus auch ‹normale› psychische Entwicklungen geben kann.


3.6 Abwehrmechanismen

Wenn das kleine und ziemlich dumme ‹Ich› gar nicht mehr weiter weiß, wohin mit dem ganzen Druck in der Tiefe des psychischen Raumes, soll es Symptome oder ‹Abwehrmechanismen› entwickeln. Diese sollen es dem ‹Ich› ermöglichen, Anforderungen des ‹Es› und anderer Triebe auf der einen Seite zwar zu ‹verdrängen›, ihnen aber auf der anderen Seite dennoch in verhüllter und versteckter Form - sozusagen klammheimlich - nachzukommen. Dies ist in den psychodynamistischen Modellen sehr bedeutsam, da regelmäßig Dampf aus dem biologistisch konzipierten Triebdampfkessel abgelassen werden muß, damit dieser nicht ‹platzt› und die Psyche nicht beschädigt wird. Nett ist, daß das ‹Ich› neurotische Symptome und nette Abwehrmechanismen zuläßt, da es ja gar nicht weiß, um was es geht und was diese ‹wirklich› bedeuten. Einige Beispiele:
3.7 Forschungsmethoden

Nun, es genügt ein Blick, um zu sehen, daß im ‹Psychodynamismus› interpretierende, hermeneutische und deutende Verfahren im Mittelpunkt stehen. Und aus der oben beschriebenen ‹Logik des Indirekten› ergibt sich sogleich, daß Untersuchungsverfahren und Forschungsmethoden gefunden werden müssen, die den allgegenwärtigen Zugriff des ‹Über-Ich› lockern und ihm gleichsam ein Schnippchen schlagen können. Deswegen ist die weit verbreitete Aufforderung zur ‹freien Assoziation› eine konsequente und logische Folgerung aus den dynamistischen Grundannahmen. Dieser Königsweg zur Entdeckung psychischer Probleme kann nur übertroffen werden von Berichten über Träume. Aber auch ‹Versprecher› sollen auf zugrundeliegende psychische Problematiken hinweisen. Halten wir diese Überlegung fest: Das ‹Eigentliche› im psychischen Geschehen kann nur auftauchen, kann nur entdeckt werden, wenn die Fesseln und Zurechtweisungen des ‹Über-Ich› gelockert sind und werden.


3.8 Zum Verhältnis von Untersuchenden und Untersuchten

Nun, auch hier genügt ein Blick, um klar zu sehen, denn der Sinn, der hinter den freien Assoziationen, den berichteten Träumen, den Versprechern zum Vorschein kommt, kann nur vom Fachmann gesehen werden. Nur er kann die bizarren und wirren Texte der Klienten ordnen und Zusammenhänge sehen. Wir haben also auf der einen Seite einen allwissenden, mächtigen Untersucher, Forscher oder Therapeuten, der komplexe Bedeutungen hinter einem schlicht Gesagten ‹entdeckt›, und auf der anderen Seite einen buchstäblich ohnmächtigen, ahnungslosen Untersuchten, Klienten oder Patienten, dem gesagt werden muß, was das alles ‹eigentlich› bedeutet, was er da erzählt oder träumt.


4 Konsequenzen

Nicht nur die Phantasie von der Allmacht desjenigen, der das Verhalten anderer Menschen entschlüsseln und erklären kann, hat dazu geführt, daß psychodynamistische Diskurse über Jahrzehnte hinweg in intellektuellen Zirkeln überaus beliebt waren - und sind. Es ist ja auch eine sehr angenehme Vorstellung, sich anmaßen zu dürfen, in der Psyche eines anderen Bescheid zu wissen. So gab es im Wien der Moderne etliche eifrige und psychisch nicht gerade gefestigte Schüler der ‹Psychoanalyse›, die glaubten, sich durch die ‹Analyse› der angeblichen Motive des moralischen Monolithen Karl Kraus Meriten erwerben zu können. Doch auch die schiere Vorstellung von einem ganz kleinen, schwachen ‹Ich›, welches irgendwelchen mysteriösen, finsteren, inneren Kräften ausgeliefert ist, die diesem weder bekannt, noch von ihm beherrschbar sind, scheint faszinierend. Und, man stelle sich das nur vor, dazu kommen ja noch die Bedrängungen durch tradierte soziale Regeln und Normen, die Fixierungen auf frühkindliche Phasen sexueller Entwicklung, die Abwehrmechanismen etc. etc.

So ist es verständlich, daß psychodynamistische Gedanken immer wieder theoretisch aufgegriffen und in neue Denkräume gestellt wurden. Selbst der postmoderne ‹Poststrukturalismus› hat seine psychodynamistischen Varianten [2] Ich empfehle das Kapitel «Psychoanalyse (Alfred Lorenzer, Jacques Lacan, Gilles Deleuze, Félix Guattari)» aus dem sehr schönen Buch von Jochen Hörisch (2004): Theorie Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. ‹Die Andere Bibliothek: Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger›. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. Seite 223 bis bis 240..

Schauen wir uns nun die ‹praktischen› Konsequenzen an: Wozu führt die psychodynamistische Sichtweise? Welche Einwirkungsmöglichkeiten ergeben sich? Ist Veränderung möglich? Wie wird auf Abweichungen reagiert?

Zunächst einmal stützt die psychodynamistische Sichtweise mit ihrer ‹Logik des Indirekten› das so genannte ‹medizinische Krankheitsmodell›. Dies Modell ist in der Moderne überaus populär geworden und seine Auswirkungen sind täglich spürbar, nicht nur in Medizin und Psychologie, sondern auch im kulturellen und politischen Alltag. Das ‹medizinische Krankheitsmodell› oder - besser und kürzer - das ‹medizinische Modell› besagt etwas ganz einfaches - sonst wäre es ja auch nicht eines der einflußreichsten Modelle des ‹gesunden Menschenverstands› geworden: Es gibt Symptome, und Ursachen für diese Symptome. Und an irgendwelchen Symptomen herum zu kurieren bringt nichts, da ist sich der Volksmund ganz sicher: Man müsse im Rahmen einer Therapie immer versuchen, auf die Ursachen zu zielen. Nun ja, von Systemen und rekursiven Zusammenhängen will der ‹gesunde› Menschenverstand nichts wissen. Ist zu kompliziert. Das Niveau dieses Ursache-Symptom-Denkens wurde am lieblichsten von Helmut Kohl, dem Kanzler schlechthin, für alle Zeiten festgelegt: «Erst planen wir, dann handeln wir!»

Noch eine Bemerkung: Nett ist zum einen, daß psychodynamistische ‹Ursachen› - freundlich ausgedrückt - sich nur festhalten lassen wie ein nasses Stück Seife, und daß zum anderen weite Bereiche der Wissenschaft, die dem ‹medizinischen Krankheitsmodell› seinen Namen gegeben haben, rein symptomatische Therapien pflegt. Tja, schon seltsam.

Welche Einwirkungsmöglichkeiten ergeben sich? Nun, aus der Logik des Indirekten ergibt sich sogleich, daß wir nur mit Hilfe eines Fachmannes oder einer Fachfrau zu einem Wissen über uns selbst gelangen können. Nur ein Fachmann kann uns erklären, was sich in der Tiefe unseres psychodynamistischen Raumes alles so abspielt und warum wir schließlich das tun, was wir tun. Da die wesentlichen Anteile unseres Verhaltens unbewußt sind, können wir kaum selber etwas für uns. Das ist schade. Sehr unromantisch!

Ist Veränderung möglich? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, da sogenannte ‹Therapieerfolge› uns grundsätzlich nicht zeigen, warum gerade diese Therapie erfolgreich war und eine andere nicht. Auf jeden Fall ist eine psychoanalytische Behandlung langwierig und von dem her, was in der Therapie tatsächlich geschieht, nur schwer zu begreifen. Erstaunlich ist allerdings, daß psychoanalytisch orientierte Therapeuten vom Gesetzgeber bevorteilt werden, indem man von ihnen erwartet, daß sie wesentlich mehr Therapiestunden benötigen als Angehörige anderer Therapieschulen, um Klienten zu ‹heilen›.

Und wie wird auf Abweichungen reagiert? Nun, leider zeigt sich hier eine Konsequenz, die auch von anderen biologistischen Modellen nahe gelegt wird: ‹Normales› Verhalten hat ‹normale› Ursachen und verweist somit auf ‹normale› innere Prozesse, ‹anormales› Verhalten hat ‹anormale› Ursachen und verweist auf ‹anormale› Prozesse. Oder auf dem Niveau einer Schmierlappenzeitung: Tut einer was Gutes, so hat er gute Eigenschaften, Gene, Motive, Triebe etc. Tut einer etwas Schändliches, so hat er schlechte Eigenschaften, Gene, Motive, Triebe etc. Normales und nicht normales Verhalten entstehen also nach unterschiedlichen Regeln, nicht nach ähnlichen oder gar gleichen! Die außerordentlich negativen und schädlichen Konsequenzen dieser Denkweise sind kaum zu überschätzen, denn sie führt uns fort von der Betrachtung sozialer Räume, in denen ja alles Verhalten erzeugt und aufrechterhalten wird. Wir werden das in einem der folgenden Traktate näher beleuchten.


5 Erwägungen

Es ist sehr leicht, sich über einzelne psychodynamistische Bestimmungsstücke lustig zu machen. Mit welcher Vehemenz und mit welchem argumentativen Aufwand ein ‹Psychoanalytiker› beispielsweise zu verteidigen bereit ist, daß sowohl das Auftreten wie auch das Ausbleiben eines bestimmten Verhaltens oder Symptoms in gleicher Weise als Hinweis auf eine zugrunde liegende Dynamik dienen darf, das ist schon - nun ja, lustig. Da gibt es oft eine theoretische Verbissenheit, die sich schon fast einer fundamentalistisch-religiösen Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Denkmodells nähert.

Wir müssen dem Psychodynamismus als durchaus biologistischem Ansatz in einem Punkt allerdings auch Gerechtigkeit widerfahren lassen: Es ist sehr angenehm zu sehen, wie in diesen Modellen auch das biographisches Gewordensein eine Rolle spielt, wie der Gedanke gepflegt wird, daß psychische Störungen aus vermuteten Traumata erwachsen können. Das ist eigentlich ganz unbiologistisch und somit wunderbar - nur, leider, schaut man bei der ‹Erfindung› solcher Traumata eben nicht auf die sozialen Räume, die die Traumata vermutlich erzeugten, und auch nicht auf die konkreten aktuellen Geschehnisse, die heute ein ‹Symptom› umranken und gestalten, sondern man fummelt an irgendwelchen angeblichen Bedrängungen in der frühen Kindheit herum.

Wenn wir uns Therapieschulen ansehen, die heute als modern und angesagt gelten, dann fällt auf, wie wenig diese mit einer klassischen psychoanalytischen ‹Talking-Cure› zu tun haben. Mein Gott, wie weit sich diese Schulen vom Psychodynamismus entfernt haben! Das sollte uns zu denken geben.

Unangenehm ist es, wenn Anhänger einer psychodynamistischen Lehre meinen, Kritiker ihres Modells der Verhaltenserklärung mit psychodynamistischen Argumenten bekämpfen zu müssen. Wer das einmal selbst erlebt hat, der weiß, wie peinlich das ist, nicht für den Kritisierten, sondern für den Kritiker. Mit welcher Freude kann man ein Modell verteidigen, daß sich im Moment der Verteidigung als immun, als geschlossen, als resistent gegen jeglichen Einwand darstellt?


6 Schluß

Psychodynamistische Modelle der Verhaltenserklärung sind für Intellektuelle überaus anregend. Man kann ganze Abende mit inspirierenden und mitreißenden Gesprächen verbringen, in denen die ‹Analyse› anderer Personen im Mittelpunkt steht. Wir sollten den Psychodynamismus so als Bereicherung der Diskurskultur sehen, nicht als Modell, das auf irgendwelche Wahrheiten verweist. Leider folgt der Psychodynamismus auf vielfältige Weise biologistischen Grundüberzeugungen und erfindet triebhafte Drängeleien aller Art. Und für Romantiker ist es schon sehr enttäuschend, immer wieder lesen zu müssen, wie wenig hier dem Subjekt zugetraut wird.

Kurz: Der Psychodynamismus folgt dem ‹medizinischen Krankheitsmodell› der Moderne und ist - trotz der Beachtung und Analyse frühkindlicher Entwicklungen - mit seiner deterministisch-mechanistischen Begrifflichkeit nicht an dem ‹wirklichen› Leben von Klienten interessiert. Es wird einfach nicht darauf geguckt, was Menschen so tun, sondern warum sie es tun. Nun, und da läßt sich wohl immer eine Ursache finden, die am ‹wirklichen› Leben vorbei geht.



Erstellt: 10. Januar 2006 - letzte Überarbeitung: 10. Januar 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.