BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zur Psychologie einer Finanzkrise (2): Ein Blick von ‹unten›»
von Albertine Devilder & Helmut Hansen
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«Ich kehrte jedesmal mit dem Gefühl einer dumpfen Gereiztheit,
bedrückt und erniedrigt, vom Markt zurück.
Erniedrigt durch dieses Schauspiel der schamlosen Habsucht,
des hilflosen Elends, der Verhöhnung menschlicher Würde,
der tierischen Rohheit und des Betruges.»
(Konstantin Georgiewitsch Paustowskij)

Einführung

Liebe Freunde und Freundinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, Sie haben Recht. Wir haben in unserem Essay zur «Zur Psychologie einer Finanzkrise» überwiegend auf die Mitmenschen in ihren sozialen Räumen geschaut, die sich Banker oder Finanzfachleute nennen. Und Sie vermissen nun, so schreiben Sie uns, den ‹Blick von unten›, von den ‹Verbrauchern›, den Kunden, den ‹Anlegern› her. Die hätten doch aufgrund ihrer ‹Gier› auch irgendwie eine ‹Schuld› am Zusammenklappen grandioser (Landes)Banken. O.k., schauen wir uns das an.


Verbraucherräume

Die Philosophie des ‹Sozialen Konstruktivismus› hilft uns, in sozialen Räumen zu denken. Wir können auch sagen, alles was ist, ist. Aber was es bedeutet, wie über es gesprochen, welche ‹Wirklichkeit› ihm zugebilligt, welche Aufmerksamkeit ihm eingeräumt wird, das wird in sozialen Räumen entschieden und festgelegt, wobei die ‹Herren des Wörterbuchs› die Interpretationsräume geschickt ‹eng machen›.

Wir lernen also in eben unserem Makroraum, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen. Und da wir im finalen Kapitalismus leben – genauer, in einer finalen Merkatokratie – laufen die allgemeinen Spiel- und Lebensregeln, die ‹vernünftigen› Sichtweisen, die Essentials angesagter Lebenspraxis darauf hinaus, ununterbrochen finanzielle Berechnungen vornehmen zu müssen, um nicht – sich selbst oder anderen gegenüber – als ‹blöd› zu erscheinen. Wir müssen das wirklich betonen: Es kann heute nur jemandem ein ‹gesunder› Menschenverstand zugebilligt werden, wenn er sich Fakten-affin und Finanz-affin verhält.

Wir haben das im 6. Kapitel (‹Zur Kulturphysiognomik der Merkatokratie›) unseres ‹Arbeitspapiers Nr. 14› schön beschrieben und unter dem Begriff ‹Tiefpreiskultur› zusammengefaßt. Zu dieser spezifischen Kultur, deren Erscheinungsform in Lebensäußerungen von Mitmenschen heute pausenlos zu ertragen ist, gehört der unbedingte Wille, so wenig wie möglich für irgendetwas zu bezahlen, bei eigenen Verkäufen oder Unternehmungen aber das Höchste herauszuschlagen, und diese befriedigende Gesamtlage immer wieder wohlig auf das eigene Können, die eigene Leistungsfähigkeit, ja, auf die eigene Schlitzohrigkeit zu attribuieren. Nur ein Beispiel:

Wir waren vor einer Stunde in unserem Lieblingscafé und beobachteten dies: Eine junge Frau kommt herein, erkennt eine Bekannte, setzt sich zu ihr, zieht nacheinander verschiedene Waren aus einer Tasche und fragt jeweils: «Na, was glaubst Du, hab ich dafür bezahlt?» Natürlich waren die Preisangaben der Bekannten immer deutlich über dem angeblich tatsächlichen bezahlten Preis. Und das Vergnügen, die Laune, das Bewußtsein der jungen Frau, nicht ‹blöd› zu sein, und einen finalen Lebenssinn gefunden zu haben, stieg von Produkt zu Produkt. Was ruft Helmut Hansen am Schluß seines Essays ‹Preis. Wert. Preiswert.›?

«Ach, es ist so ‹ermüdend›, Gespräche über ‹Preise› und ‹Schnäppchen› anhören und die damit verbundenen Ich-Blähungen erleben zu müssen. Wer rettet mich?»

Bevor wir Ihnen, liebe Freunde und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe sagen, wie sie sich in einer Merkatokratie vor derselben retten können, möchten wir die obige Beobachtung zusammenfassen. Auf S. 37 unseres Arbeitspapiers Nr. 14 sagen wir:

«Heute kann man die Angehörigen seines sozialen Raumes mit ausgehandelten Mega-Rabatten beeindrucken, ja Feilschen und ‹Smart Shopping› sind angesagt. Um eine Kaufentscheidung zu treffen, genügt es dem Kunden also heute kaum noch, einen Artikel einfach nur zu benötigen oder schön zu finden. Zusätzlich muß der Kunde beim Kauf das Gefühl haben, die Ware besonders schlau zu einem besonders günstigen Preis eingekauft zu haben. Da gibt es eine überbordende Sprachästhetik des Sparens und des Geizes, etwa «Wir können nur billig!» Das nimmt zu. Das ist kaum mehr auszuhalten.»

Die ideologischen Räume für ‹Verbraucher› sind derzeit sehr eng. Es entspricht nun ganz und gar nicht dem ‹gesunden› Menschenverstand, sich zu überlegen, ob die Produzenten der Waren, die man bei Lidl oder Aldi kaufen kann, von den Erlösen, die sie für ihre Waren bekommen, überhaupt leben können. Und es entspricht nun auch ganz und gar nicht dem ‹gesunden› Menschenverstand, sich zu überlegen, ob die Beschäftigten bei Lidl oder Aldi von dem Lohn, den sie erhalten, leben können. Und damit meinen wir, so angenehm leben können, daß sie etwa die Zeit und die Kraft finden, ihren Kindern deren Weg in ihr Leben zeigen zu können. Und es entspricht nun ganz und gar nicht dem ‹gesunden› Menschenverstand, sich zu überlegen, ob die Waren, die man bei Lidl oder Aldi kaufen kann, irgendwelchen nachhaltigen ökologischen Kriterien genügen. All diese Erwägungen gelten in unserer Makrokultur der Merkatokratie als ‹blöd› und überflüssig. Mögliche Kriterien der Warenwahl sind bei allen Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand eingedampft bis auf eines: den Preis.


Finanzräume

Wenn wir jetzt noch einmal zurück auf die Banker und Finanzfachleute schauen, die wir in unserem Essay zur Finanzkrise analysiert haben, dann wird uns schnell klar, daß jeder Banker ja nicht nur ebenfalls im oben skizzierten Makroraum, sondern auch als ‹Verbraucher› sozialisiert wurde. Im Grunde weiß ein Banker alles über die Regeln einer Merkatokratie, bevor er Banker wird. Während seiner Ausbildung zur ‹Fachkraft› lernt er nur noch einige zusätzliche Marginalien, aber niemals dürfte er auf einen Gedanken gestoßen werden, der über das eingeschränkte Gesichtsfeld eines Bankers hinaus gehen oder der etwa den grundsätzlichen Weg des finalen Kapitalismus bezweifeln würde:

«Mit anderen Worten, sie werden, bis sie sich etwa ‹Finanzbetriebswirt› nennen dürfen, gedrillt, die Welt nur noch auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu sehen, hier etwa, wie sich aus Geld Geld machen läßt – unter der Voraussetzung, daß ‹man nicht blöd ist› und ‹Chancen beim Schopf ergreift›.»


Synthesis

Wenn wir jetzt die sozialen Räume der Banker und der Verbraucher zusammenführen, dann sehen wir, daß wir wieder einmal auf naiv-psychologische Eigenschafts- oder Motiv-Begriffe wie ‹Gier› oder ‹Schuld› verzichten können. Nein, eigentlich leben beide Gruppen eine beinahe identische Weltsicht aus. Wenn ein Banker oder ein ‹Verbraucher› Geld anlegt (oder ein Mobilphon, eine Bratwurst oder ein Brötchen kauft), dann natürlich nicht irgendwo, sondern da, wo es besonders ‹günstig› ist. Ganz besonders lustig ist es nun, wenn Banker oder ‹Verbraucher›, die ja alle keineswegs ‹blöd› sind, und zum Beispiel ihr Geld ‹vernünftigerweise› bei einer Bank angelegt haben, die besonders hohe Zinsen zahlt, plötzlich erfahren, daß die Bank diese Zinsen gar nicht bezahlen kann. Ja, da wallt bei den Bankern und ‹Verbrauchern› aber eine Empörung auf, leider nur, eine falsche. Und der Ruf nach dem Staat, der die ‹Verbraucher› (und die leidenden Banken) nun zu unterstützen habe, ist szenisch gelungenes Theater des Absurden.

Dieses unbedingte Ineinandergreifen der Ideologien von Bankern und deren Kunden, diese ganz umfassende postmoderne Weltsicht wird am besten ausgedrückt von diesem Werbespruch einer Bank:

‹Unterm Strich zähl ich›


Wobei in diesem Slogan auf finale Art und Weise die Hauptprobleme unserer Kultur zusammengeführt werden: Die feste Überzeugung, nicht nur ein ‹Ich› zu haben, sondern es auch noch als Anspruchsunverschämtheit vorwölben zu dürfen, und zum anderen, die Wertigkeit des eigenen ‹Ichs› ganz überwiegend und unter Applaus über geschickte Ein- und Verkäufe herstellen zu können. ‹Unterm Strich zähl ich›, und wichtig ist, was hinten rauskommt. So ist es.


Ausweg

Was also tun, liebe Freunde und Freundinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, wenn der Kapitalismus-Blues Sie und uns wieder einmal mit Macht überfällt und lähmt, wenn wir davon träumen, daß es doch eine Welt jenseits des Faktenkerkers und der unzähligen Zählereien geben müsse, eine Welt, in der tatsächlich unter dem Strich eben nicht irgendein ‹Ich› zählt, sondern etwas anderes, umfassenderes, wichtigeres?

Ach, ganz einfach, liebe Freunde und Freundinnen, die Antwort kennen Sie selbst. Falls nicht, kann Ihnen dieser Aphorismus von Arthur Schopenhauer weiter helfen:

«Was uns fast unumgänglich zu lächerlichen Personen macht, ist der Ernst mit dem wir die jedesmalige Gegenwart behandeln, die einen nothwendigen Schein von Wichtigkeit an sich trägt. Wohl nur wenige große Geister sind darüber hinweggekommen, und aus lächerlichen zu lachenden Personen geworden.»

Laßt uns ‹große Geister› sein!



Erstellt: 7. Dezember 2008 – letzte Überarbeitung: 8. Dezember 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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