BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das Sagbare, ‹selbstredend› ...»
von Albertine Devilder
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«Am unverständlichsten reden die Leute daher,
denen die Sprache zu nichts weiter dient
als sich verständlich zu machen.»
(Karl Kraus)

Prolog in der ‹Aubergine›

Das schöne Wort ‹selbstredend› wurde mir von einem mittelalten Paar in meinem Lieblingsrestaurant vorgeführt. Ich blickte in einem vagen Augenblick meditierend, unorientiert und essensbeschäftigt von meinem Vorspeisenteller auf und hörte ungewollt dies:
Sie so: ‹Und das hast Du wirklich gesagt?› Er so: ‹Selbstredend!›
Zunächst achtete ich nicht so sehr auf dieses Wort, es schlüpfte in meine Ohren und gleich wieder hinaus, doch dann blickte ich den sehr netten Mann an, mit dem ich zum Essen verabredet war: Er schmunzelte, er hatte das Wort also auch gehört. Und er wußte, daß es mir sehr gefallen hatte, es zu hören.

Und nun war ich hellwach, orientiert, und dennoch weiter mit meinem Essen und dem Rotwein beschäftigt. Natürlich sprachen wir noch ganz viel über das selbstredende Sagbare. Ach: Es wurde ein schöner Abend.


Das Sagbare

Das Sagbare hat die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› gerade wegen seiner Belanglosigkeit schon immer interessiert. Wir sehen das Sagbare in sozialen Räumen als Zitat, mit dem die Selbstverständlichkeit des Gesagten mit Hilfe ‹ratternder Konversationsmaschinen› (Berger & Luckmann) bekräftigt werden soll. Oswald Wiener hat uns in seiner ‹Verbesserung von Mitteleuropa› von 1969 auf diese Spur gebracht:
«populationen leben den stil der zitate derer sie mächtig sind.»
Wow! Das hat uns sehr gefallen. Denn die steile Aussage ist diese: Die Besiedler sozialer Räume leben nicht einmal ihre Zitate, das ihnen bekannte und vertraute Sagbare, nein, sie leben den Stil der Zitate, die sie beherrschen. Wow! Deutlicher geht es nicht! Und jeder Blick auf Raum-spezifisch Sagbares bestätigt Wieners These. Man muß nur mal einem Regierungssprecher oder einem Fußballtrainer zuhören, falls man das schafft.

Relativ früh nach Gründung der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› haben wir begonnen, Sagbarkeiten in Standardsituationen zu sammeln, um beispielhaft zu zeigen, was unter dem Begriff ‹Wirklichkeitsprüfung› im Rahmen einer zukünftigen sozial-konstruktivistischen Psychologie zu verstehen sein könnte. Indem wir die in unserer Kultur vermutlich populärsten und am häufigsten vorkommenden Skripte dokumentieren, versuchen wir zu zeigen, wie dümmliche, oberflächliche und fadenscheinige Skripte als Argumente ausgegeben werden und von fast allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen unseres kommunalen Makrosystems auch als Argument ‹verstanden› und mit Beifall bedacht werden. Uns geht es also um den grundsätzlichen, abstrakten Prozeß des automatisierten Sprechens je nach Kontext, weniger um die Inhalte. Denn die kann sich ein jeder überall anhören. Selbstverständlich müßten die Skriptsammlungen alle paar Dekaden angepaßt werden, denn das Sagbare verändert sich.

So haben wir in unserem Arbeitspapier Nr. 5


Diskussions-Skripte

zusammen gestellt, um die in sogenannten ‹Diskussionen› zu hörende Sprache der Macht, die Leerlaufsprache der Politik und die ideologielastige Sprache der ‹Wirtschaft› vorzuführen. Michel de Montaigne sagt:
«Wir lernen disputieren - leider nur, um zu widersprechen.»
So ist es. Leider. Montaigne sagt kurz und knapp:
«Diskussion vernichtet die Wahrheit.»
Und jetzt verstehen wir, warum es öffentlich-rechtlich so dringlich ist, in als ‹Talkshows› getarnten ‹Diskussionen› immer und immer wieder von Beauftragten der ‹Herren des Wörterbuchs› das selbstredend ‹Sagbare› zementieren zu lassen.

Montaigne hat Recht: Diskussionen sind ja nie ein Gespräch, sondern Zersetzung.

In unserem Arbeitspapier Nr. 8


Beziehungs-Skripte

sind wir der Frage nach gegangen, was geschieht, wenn zwei kommunal definierte Personen mit kommunal definierten ‹Ich›-Vorstellungen und kommunal definierten Beziehungs-Vorstellungen aufeinander treffen und eine Beziehung eingehen, um sich in derselben als authentische Einzigartigkeiten zu erleben. Und vor allem interessierte uns, welche standardisierten Interaktions- und Kommunikationsmuster es dabei gibt.

Klar, im Bereich der Beziehungsmodelle hat sich im Laufe der Spätmoderne am meisten geändert. Die Beziehungen sind kürzer, der Ton rauer geworden. Die Dauer-Optimierung des Einzelnen für die Anforderungen des Kapitals ist so allumfassend geworden, daß für Beziehungen wenig Raum bleibt.

Auch die Sammlung der Beziehungs-Skripte müßte über die Dekaden hinweg angepaßt werden. Den eine solch flinke Antwort, wie die folgende, war vor 25 Jahren noch nicht sagbar:
Sie und Er zusammen. Er geht in einen anderen Raum, in dem Moment kommt mit einem Pling eine SMS auf seinem Mobilphone an, das neben ihr liegt. Sie schaut unabsichtlich darauf: ‹Hey, ich habe nächste Woche Urlaub. Wann sehen wir uns? Ich freu mich auf Dich! Sabine› Er kommt zurück, sie weist mit dem Kopf auf sein Mobilphone, er liest die SMS und sagt: ‹Setz mich nicht unter Druck!
Tja, da sind selbst alte Beziehungshäsinnen verblüfft. Eine Analyse dieser Äußerung führt jedoch hier zu weit. Aber wir ahnen, was in Beziehungen noch zu erwarten sein wird.


Das Wort

Nach dieser allgemeinen soziologischen, diskursanalytischen und poststrukturalistischen Einbettung ins Große und Ganze schauen wir uns nun das Wörtchen ‹selbstredend› an. Verräterisch ist es ja: Selbstredend. Ein Selbst redet von selbst, hehe. Wer redet da von selbst? Gute Frage.

Schauen wir uns zunächst einmal verwandte Synonyme, den Konnotationshof an:
Aber gewiss, allerdings, sowieso, auf jeden Fall, auf alle Fälle, bestimmt, doch, durchaus, fraglos, ohne Frage, in der Tat, kein Zweifel, unzweifelhaft, zweifellos, garantiert, klar, natürlich, freilich, allemal, logisch, mit Sicherheit, sicherlich, unbedingt, unter allen Umständen, versteht sich von selbst, selbstverständlich.
Das ist sehr schön, hier einmal die Phrasen aufgelistet zu sehen, mit denen wir im Alltag unsere Wirklichkeit festzuklopfen versuchen. Und es ist so rührend, zu sehen, wie viele Wörter es gibt, um das, was ein jeder soeben gesagt hat, als selbstredende Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen. Und sofort schließen wir daraus, daß ein jeder vielleicht doch nicht so sicher ist bei den Wirklichkeitsbehauptungen, die er aufstellt.

Selbstredend! Welch schönes Wort. Wer redet? Nun, gemäß unserer Ideologie ist diese Frage leicht zu beantworten: Die vermeintlichen ‹Ich›-Besitzer, die soeben ‹selbstredend› gesagt haben, sind ja nur Puppen eines ‹Bauchredners›. Und wer ist der Bauchredner, der Ventriloquist, wer legt uns die Wörter in den Mund? Nun, gemäß unserer Ideologie ist auch diese Frage leicht zu beantworten: Die Stimmen unseres sozialen Raumes liefern uns den lokalen Stil der Zitate, den wir zu beherrschen lernen. Ja, und wenn wir jetzt ‹selbstredend› sagen, haben wir das im Grunde gar nicht selbst gesagt? Ja, so ungefähr.

Wir könnten jetzt ein soziologisches Spiel starten und einmal prüfen, in welchen sozialen Räumen welche Gewißheitsphrasen am häufigsten zu hören sind. Und sofort fällt uns auf, daß ein ‹mit Sicherheit› besonders bei schlichten Gemütern verbreitet sein wird. Mächtige Menschen würden nie ‹mit Sicherheit› sagen, sie ahnen, daß sie darauf festgelegt werden könnten, statt dessen sagen sie etwa ‹Ich gehe davon aus!›. Doch dieser sehr interessanten psychologischen Frage hier nachzugehen führt zu weit. Welch ein Raum für spannende Untersuchungen öffnet sich hier!


Finale

In dem Essay ‹Welterkenntnis durch Sprache? Eine Hommage in Aphorismen› zitieren Helmut Hansen und Henriette Orheim den tschechischen Schriftsteller Richard Weiner. Ich erlaube mir, dieses Zitat, diesen Gedanken noch einmal hier aufzuschreiben:
«Wir sind Gefangene des Wörterbuchs; des Wörterbuches und konventioneller Konzepte, wir sind uns seiner grenzenlosen Verstümmelung und Grobheit bewußt, aber in unserem solidarischen Elend, in unserem Elend einander gleich, kein anderes Mittel der Verständigung zu haben, verständigen wir uns mit ihm ... um uns ständig weiter und weiter voneinander zu entfernen.» [1] Richard Weiner (1991): Der Bader. Eine Poetik. Berlin: Friedenauer Presse. Seite 41.
Finis.



Ins Netz gestellt am 31. Oktober 2013
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