BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«William Alexander Gerhardie: Vergeblichkeit»
von Henriette Orheim
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«Und dann kam mir der Gedanke,
daß es für mich nur eins gäbe:
alles in einem Buch unterzubringen.
Es ist die klassische Methode,
mit dem Leben umzugehen.»

Mit den beiden Sätzen aus dem obigen Motto beginnt dieser kleine, wunderbare Roman. Hatten wir nicht bei Saul Bellow einen Mann kennengelernt, der schreibt und schreibt, um mit dem Leben zurecht zu kommen? Ja, aufmerksame Leser und Leserinnen unserer Rubrik ‹Buchgeschichten› freuen sich schon seit einiger Zeit, wie wir hier immer wieder eine Ästhetik des Scheiterns, eine Kunst des Wartens, eine Schule der Vergeblichkeit skizzieren. Also wird auch Andrej Andrejewitsch, der Held des hier vorgestellten Buches, scheitern. Er wird seine geliebte Nina nicht bekommen. Aber wir werden am Ende nicht traurig darüber sein. Denn der Stil, die Eleganz und die Leichtigkeit, mit der Gerhardie diese Geschichte erzählt, nimmt uns ganz unmittelbar für diesen Roman ein. Ja, vieles ist traurig und tragisch, aber Gerhardie schildert dies mit einem solchen Humor, mit einer so feinen Ironie, daß wir immer wieder schmunzeln müssen.

Eigentlich geht es in diesem Buch auch gar nicht um unseren Helden Andrej Andrejewitsch, sondern um die russische ‹Volksseele›. Immer wenn Menschen zusammen sitzen und gut essen und trinken, taucht über kurz oder lang ein Thema auf, dem sich alle mit Freude widmen: Ethnie. Begeistert spricht man dann über den ‹Deutschen an sich›, den ‹Griechen an sich›, den ‹Amerikaner an sich›, und, ja, über ‹die Russen›. Stereotype, Vorurteile, ‹Ich kannte mal einen›-Geschichten und haltlose Meinungen schwirren dann so lustig durcheinander, daß es eine Art ist. Bei Gerhardie ist das aber nun etwas anders, denn er kennt sich aus. Er wurde als Sohn englischer Eltern in St. Petersburg geboren und erlebte dort – als Militärattaché der Britischen Botschaft – den Ersten Weltkrieg. Später begleitete er eine Alliierte Interventionsarmee nach Sibirien, die dort die Russische Revolution aufhalten sollte, was – naturgemäß – scheiterte. Gerhardie weiß also, wovon er spricht, wenn er auf seine Art und Weise das große russische Thema der ‹Vergeblichkeit› erforscht.

Aus Rußland zurückgekehrt studierte William Alexander Gerhardie (1895 - 1977) in Oxford. Dort vollendete er auch im Jahr 1922 sein bereits in Sibirien begonnenes Erstlingswerk ‹Vergeblichkeit – Ein Roman über russische Themen› (Futility: A Novel on Russian Themes). Evelyn Waugh, Katherine Mansfield und Edith Wharton schätzten sein literarisches Talent so sehr, daß sie ihm bei der Suche nach einem Verleger halfen. Bereits im nächsten Jahr folgte eine biographische Studie über Anton Pawlowitsch Tschechow (Cechov). Wir sehen: Hier ist jemand, der die russische Literatur liebt und der einen tiefen Einblick in die russische ‹Volksseele› hat.

Gerhardies Roman ‹Vergeblichkeit› schildert das Leben der Familie Bursanow. Um das Oberhaupt dieser Familie, Nikolaj Wasiljewitsch, kreisen eine Fülle von Haupt- und Nebenfiguren, von Frauen, Geliebten und Töchtern, die alle nur das Ziel haben, am sagenhaften Reichtum des Nikolaj Wasiljewitsch, der ihn aufgrund einer ihm gehörenden Goldmine in Sibirien ganz sicher eines Tages ereilen wird, teilzuhaben. Natürlich hat diese Goldmine noch nie einen Gewinn abgeworfen, aber man kann ja warten. Einige schwarmintelligente Literaturkritiker meinen gar, Gerhardie habe – etwa dreißig Jahre vor Samuel Beckets ‹Warten auf Godot› – das Thema des vergeblichen Wartens in die Literatur eingeführt. Aber die haben keine Ahnung, wie anmutig und paßgenau die Begriffe ‹russische Volksseele› und ‹Vergeblichkeit› daher kommen.

Wie im Laufe des Romans nun die Zahl der Nikolaj Wasiljewitsch umschwirrenden Schmarotzer-Satelliten wächst, wie sich unser Held Andrej Andrejewitsch in die Tochter Nina verliebt, wie die komplizierten Verhältnisse immer komplizierter und unübersichtlicher werden, wie unser Held eines Tages versucht, auf einem großen Bogen Papier das ganze Familiensystem aufzuzeichnen, zu analysieren und Vorschläge zur Entknotung und Entflechtung zu machen, und wie vor allem die Familie Bursanow, einschließlich der geliebten Nina, auf diese Ratschläge reagieren wird, das müssen Sie, lieber Leser und liebe Leserin schon selbst herausfinden. Nach Ihrer Lektüre dieses Romans wird eines feststehen: In Zukunft werden Sie sich weder vergeblich an Diskussionen über die ‹russische Volksseele› beteiligen noch in diesen scheitern.



Erstellt: 25. März 2008 – letzte Überarbeitung: 26. März 2008
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