BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Erik Fosnes Hansen: Choral am Ende der Reise»
von Henriette Orheim
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‹Jetzt konnten sie den Sternenhimmel sehen.
Er war ungewöhnlich klar.›

Da sind sieben Musiker, sie spielen Violine, Bratsche, Cello, Bass und Klavier. Sie kommen aus aller Herren Länder und werden das Orchester bilden auf einem Schiff, einem großen Passagierdampfer. An Hand der Musik-Instrumente ahnen wir schon, daß der Roman im 19. Jahrhundert spielen wird. Wir erfahren auch einiges über das Schiff, auf dem sie reisen werden, doch vor allem lernen wir die Lebensgeschichten der Musiker kennen, ihre Nöte, ihre Verletzungen, ihre Hoffnungen, wir lernen zu ahnen, welche Niederlagen sie erleiden mußten, um sich als Musiker auf eben diesem Schiff zu treffen.

In meiner Buchgeschichte über den wunderschönen Roman ‹Vergeblichkeit› von William Alexander Gerhardie schrieb ich: «Aufmerksame Leser und Leserinnen unserer Rubrik ‹Buchgeschichten› freuen sich schon seit einiger Zeit, wie wir hier immer wieder eine Ästhetik des Scheiterns, eine Kunst des Wartens, eine Schule der Vergeblichkeit skizzieren.»

Ja, auch dieses großartige Buch entwirft eine eigene Schule der Vergeblichkeit. Deswegen berühren uns die biographischen Einschübe über die einzelnen Musiker nicht nur, nein, sie treffen uns. Und wie reich sind diese Schilderungen verschiedener sozialer Räume, die eben diese sieben Musiker entstehen ließen, wie genau sind die Beobachtungen, wie treffsicher sind die umfangreichen historischen Recherchen! Aber eben durch diese stupende Genauigkeit fühlen wir uns den Musikern sehr nahe, die sich alle ein anderes Leben erträumten und erhofften, und die nun unfreiwillig und mehr oder minder zufällig in einem Orchester vereint sind, welches für die ganz reichen Passagiere auf dem besten und feinsten Deck aufzuspielen hat.

‹Choral am Ende der Reise› (Salme ved reisens slutt) von Erik Fosnes Hansen (geb. 1965) erschien 1990 in Oslo und erhielt sogleich einen sehr bedeutenden norwegischen Literaturpreis, den ‹Riksmalsprisen›. Beeindruckend in diesem Roman sind nicht nur die – oben schon erwähnten – überaus genauen kulturellen Dekonstruktionen, mit wenigen Sätzen etwa entwirft Fosnes Hansen das Grundgerüst, das psychische System einer Familie, sondern auch diese so überzeugende Genauigkeit in der Schilderung libidinöser Verstrickungen. Ja, es gibt tragische Szenen in diesem Roman, die wir nie vergessen werden. Eine Liebe kann untergehen; Pläne und Herzenswünsche können scheitern; in dem, was wir tun, können wir das Gegenteil von dem herbei zerren, was wir erstrebten; in dem, was wir aufbauen wollen, keimt schon dessen Destruktion; in unserer Sehnsucht nach Schönheit folgen wir mitunter dem Häßlichen; und am Ende unserer Reise erklingt ein Choral. Wie passend ist es doch, wenn wir diesen auch noch selbst spielen.

Ich weiß bis heute nicht, wie jemand mit 25 Jahren ein solch grandios komponiertes Buch schreiben kann, einen Roman, der immer wieder Kontrapunkte setzt und uns bis zum Schlußakkord mit lyrischen, sozialen und psychologischen Themen in Atem hält.



Erstellt: 14. Juni 2008 – letzte Überarbeitung: 17. Juni 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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