BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Karl Kraus - und Jonathan Franzen»
von Artus P. Feldmann
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«Kraus has more to say to us
in our media-saturated, technology-crazed,
apocalypse-haunted historical moment
than his more accessible contemporaries now do.»
(Jonathan Franzen)

Prolog

Geht das? Kann man eine ‹Buchgeschichte› über Karl Kraus schreiben? Nein. Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, unsere ‹Buchgeschichten› lesen und schätzen, dann wissen Sie, daß wir viele herausragende Autoren und Autorinnen vorgestellt haben, aber die Idee, Karl Kraus, unseren Gott, unsere Sonne, unseren Meister des Universums, angesichts seines monumentalen Werkes in eine Buchgeschichte zu pressen und dabei ständig an das denken zu müssen, was wir nicht erwähnt haben und wo wir ihm nicht gerecht geworden sind? Nein, das geht nicht.

Aber wenn nun ein anderer Autor, den wir schätzen, also etwa Jonathan Franzen, keine ‹Buchgeschichte› über Karl Kraus schreibt, sondern fünf exemplarische Texte von Karl Kraus hervorsucht, diese übersetzt und mit Annotationen versieht, und dem Ganzen noch einen angemessenen literaturhistorischen Rahmen gibt, was ist dann? Geht das? Ja.


Karl Kraus kennen

Vor wenigen Jahren stand ich einmal auf einer Fete im Kreise einiger junger Filmemacher, alle ambitioniert und alle schon mit verschiedenen ‹Erfolgen› als Autor, Regisseur, Kameramann etc. Es fiel plötzlich das Stichwort ‹Lieblingsregisseur› und alle hatten einen Namen parat. Als ich gefragt wurde, sagte ich ‹Howard Hawks›. Die jungen Filmemacher schauten mich ratlos an, und einer sagte: ‹Howard Hawks? Wer ist das denn?›

Diese Erfahrung können wir auch ganz leicht in ein Experiment mit dem Namen Karl Kraus verwandeln. In beinahe jeder sozialen Agglomeration, außer im Milieu der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, werden wir hören: ‹Karl Kraus? Wer ist das denn?›

Karl Kraus kennen ist also das eine. Und so gibt es kaum jemanden, mit dem man sich über ihn austauschen könnte.


Karl Kraus verehren

Das andere ist, ihn nur kennen reicht nicht. Karl Kraus kann man nur verehren. Und so gibt es einen schönen Lackmustest, eine Art Prüfung, ob Menschen Karl Kraus verehren, so sie ihn denn kennen. Und es ist angesichts des Werkes und der Haltung von Karl Kraus gänzlich ausgeschlossen, ihn zu kritisieren oder gar schlecht zu machen. Das kann nur auf die Schlechtmachenden zurück fallen, wie es uns einige Beispiele in der Literaturgeschichte zeigen. Ein in Deutschland berühmter ‹Literaturkritiker› (de mortuis nihil nisi bene) erschien mir von dem Moment an zutiefst unglaubwürdig und unehrenhaft, als ich vor vielen Jahren einen Text fand, in dem er sich ‹gegen› Karl Kraus aussprach. Ja, hatte er denn Karl Kraus überhaupt gelesen? Und verstanden?

Wer sich an Karl Kraus reiben möchte, kann dies nur tun, wenn ihm Tugenden wie Anständigkeit, Aufrichtigkeit, Demut, Ehrfurcht, Ehrenhaftigkeit, Integrität, Lauterkeit, Redlichkeit, Sorgfalt und Wahrhaftigkeit [1] Dies sind einige der Tugenden, die Henriette Orheim in den Werken der Brontë-Schwestern gefunden hat. gleichgültig sind.


Karl Kraus lesen

Und wenn wir schon Karl Kraus kennen und verehren, dann sollten wir auch so viel wie möglich von ihm lesen. Angenommen, Howard Hawks sei mein Lieblingsregisseur, dann versuche ich doch möglichst viele Filme von ihm zu sehen, um seine ‹Handschrift›, seinen ‹Stil›, seine wiederkehrenden Themen zu entdecken.


Das Hauptwerk von Karl Kraus (1874-1936) nun ist die ‹Fackel›. Diese ‹Zeitschrift› – im hier wahrsten Sinne des Wortes – erschien von 1899 bis kurz vor Kraus’ Tod 1936. Vermutlich haben nur wenige Menschen diese abertausend Seiten gelesen. Der Verfasser dieser kleinen Buchgeschichte erinnert sich gerne daran, wie er etwa gegen Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts den soeben erschienenen Reprint der kompletten ‹Fackel› bei ‹Zweitausendeins› erwarb, las - und mehrere Monate absorbiert war. Ohne die ‹Fackel› wäre das Leben des Verfassers anders verlaufen. Neben den Essais von Michel de Montaigne war das Werk von Karl Kraus die entscheidende geistige Begegnung.

Mit der zu Beginn dieses Jahrtausends einsetzenden umfassenden Digitalisierung aller Lebensbereiche ist nun auch die ‹Fackel› komplett im Internet zu lesen. Das ist sehr erfreulich. Lieber Leser, liebe Leserin, geben Sie probeweise in der ‹Suche› mal Wörter ihrer Präferenz ein, und schon erfahren Sie, was Karl Kraus an diesen auszusetzen hatte.

Aus der ‹Fackel› nahm Karl Kraus immer wieder verschiedene Texte und Themen heraus, überarbeitete diese und faßte sie in diversen Büchern zusammen. Der Verfasser dieser kleinen ‹Buchgeschichte› hat jahrelang in Antiquariaten nach diesen verstreuten Werken geforscht, bis endlich Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Christian Wagenknecht die monumentale Aufgabe übernahm, das Verstreute einzusammeln, zu ordnen und in 20 hervorragend editierten Bänden bei Suhrkamp herauszugeben. Welch ein Glück!


Karl Kraus verstehen

Nun kommt Jonathan Franzen ins Spiel. Soeben erschien von ihm das Buch ‹The Kraus Project› [2] The Kraus Project. Essays by Karl Kraus. Translated and annotated by Jonathan Franzen with Assistance and additional Notes from Paul Reitter and Daniel Kehlmann. A Bilingual Edition. London: Fourth Estate. 2013., in dem er fünf Texte von Karl Kraus vorstellt, übersetzt und mit Anmerkungen versieht. Ich sage es gleich: Dieses Buch ist eine reine Freude. Zum einen, weil wir zusehen dürfen, wie Jonathan Franzen um sein eigenes Verstehen der Texte von Karl Kraus ringt und wie Daniel Kehlmann [3] Seit ich erfahren habe, daß Daniel Kehlmann Karl Kraus schätzt und ein großer Kenner seiner Werke ist, verzeihe ich ihm ‹Die Vermessung der Welt›. Da fällt mir ein: Vielleicht sollte ich diesen Weltbestseller mit diesem Wissen noch einmal lesen? Hm. und Paul Reitter ihm dabei helfen. Zum anderen werden wir hinein getragen in die Sprache und die Themen von Karl Kraus. Wie es das obige Motto schon ankündigt, ist Jonathan Franzen überzeugt davon, daß Karl Kraus uns gerade heute nicht nur bezüglich der entfesselten Medien viel zu sagen hat, nein, auch bei anderen essentiellen Themen scheint Karl Kraus der aktuelle Diagnostiker zu sein. So sagt Karl Kraus in ‹Heine und die Folgen› etwa zur sogenannten ‹Individualität›, die heute jeder für sich behauptet, der in den sozialen Medien Fotos von sich ausstellen kann, schlicht dies:
«Glaubt mir, ihr Farbenfrohen, in Kulturen, in denen jeder Trottel Individualität besitzt, vertrotteln die Individualitäten.» [4] ‹Heine und die Folgen› erschien zuerst in der Fackel Nr. 329/330 vom 31. August 1911. Das obige Zitat steht auf Seite 6.
Jonathan Franzen hat die Werke von Karl Kraus Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts während seiner Studien in Deutschland entdeckt. Und seine sorgfältigen Übersetzungen lagen buchstäblich dreißig Jahre herum, bis sie nun endlich erschienen sind. Es gibt einen Film, der zeigt, wie Franzen, Kehlmann und Reitter ihr Projekt im Deutschen Haus an der New York University vorstellen. Sehenswert!

Genug der Worte. Es ist verrückt: Wir schreiben das Jahr des Herrn 2013, das Jahr, in dem es um nichts mehr geht, außer um eilfertige Empörung, die Befriedigung der eigenen Oikos-Ansprüche und um den Raubbau an allen nur erdenklichen Ressourcen, und da erleben wir eine Renaissance der Werke von Michel de Montaigne und Karl Kraus. Muß man Psychologe oder Philosoph sein, um hier bei einigen Zeitgenossen ein ‹Unbehagen in der Kultur› zu vermuten?



Ins Netz gestellt am 10. Dezember 2013
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