BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Als ‹Ich› in der Fremde»
von Lisa Blausonne
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Reisen als Experiment

Durch die Sprache seine Unabhängigkeit zu gewinnen ist eine alte Idee; und daraus ein Experiment zu machen der Grund, warum ich nach Asien gefahren bin. Was ich wollte: Schauen, wie sich mir meine Wirklichkeit erschließt an Orten, in denen ich mit unvertrauten Zeigern (vgl. «Ein Zeigermodell») konfrontiert werde, sowie einen Kontext finden, der für mich noch nicht kulturell überdefiniert ist. Und was wäre Unabhängigkeit? Da ich mir diesen Zustand jenseits der Sprache nicht vorstellen kann, hatte ich kaum Erwartungen. Sensu Wittgensteins «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt» (vgl. «Konstruktivismus: Die Epistemologie der Postmoderne») versuchte ich bis dato, Sprache zu verfeinern. Was passiert aber mit meiner Identitätskonstruktion, wenn ich verstumme?!


Fremdheit in Japan

Menschen schauen nicht. Sie sind sehr bei sich und mit ihren Mobilphonen beschäftigt. Nach zwei Wochen vermisse ich den europäischen Blickkontakt in den Cafés, den Parks, der Öffentlichkeit. Dieses Nicht-Sich-Ansehen isoliert bisweilen.

Schrift tritt mir als Kunst entgegen; als Symbole, zu denen es einen mir unbekannten Schlüssel gibt, Symbole, die mich dazu verführen, mir eigene Geschichten zu beinahe jedem Schild, jeder Tafel auszudenken. Das macht den Alltag sehr bunt.

Hier sind selten soziale Vergleiche möglich, mir fehlt das Bezugssystem, da Gesten unverständlich sind, die Regeln der Zeichen erkenne ich nur langsam. Selbst banale Gesten – sie zeigen auf die Nase, wenn sie von sich sprechen – irritieren, weil sie mich in der Schwebe lassen. Ich genieße diesen Zustand des Unhaltbaren.

Das soziale Miteinander bleibt eine Oberfläche, die zum Projizieren einlädt. Die Position einer Beobachterin erlebe ich hier viel intensiver, da ich mich nicht mitteile und also meine Beobachtungen ungeteilt bleiben. Ich bin eine Fahne im sozialen Wind, weniger planend, mehr betrachtend und mitgerissen. Lasse mich treiben von den Menschenmassen, von den U-Bahnen, den Rolltreppen und den Wegweisern, die für mich keine Funktion erfüllen.

Stehe auf einer Plattform im 39. Stockwerk eines Hochhauses und schaue auf Tokyo, von hier wirkt die Stadt beinah blaß und nebelig. Hinter mir durch die Fensterscheiben sehe ich das Internetcafé, in dem geraucht wird – eine Seltenheit – und bunte Comics in Massen in Regalen stehen und andächtig gelesen werden – fester Bestandteil des Alltags.

Ich sehe mich in den Scheiben und bin verwundert über die Wahrnehmung meiner eigenen Oberfläche. Jetzt fällt meine Bewertung durch den fremdartigen sozialen Vergleich anders aus: Neben kleineren Menschen, die schwarze Haare und dunkle Augen haben, nutze ich gröbere Kategorien, um mich selbst im Spiegel zu erkennen.


Fremdheit in Taiwan

Ich besuche alte, von asiatischen Touristen überquellende Tempelstädte, kann in Großfamilien in Vorstädten leben, bin Gast eines Klosters und reise zu den Stränden der Insel. Kontextswitchen.

Ich habe mich entfernt aus meiner Sozialisationskuhle und meine Ich-Hersteller und -Aufrechterhalter sind weit und breit nicht zu sehen. Und dennoch trage ich sie mit mir. Ich bekomme ein Ahnung, wie lange es dauert, die vertrauten, signifikanten Stimmen ruhig zu bekommen.

Und: Hier warten andere Konstrukteure auf mich. Plötzlich bin ich mal eine Abenteurerin, mal eine Buddhistin, dann eine Schwedin, eine Marmorstatue oder manchmal einfach ein Fisch im Wasser. Auch mein Name ändert sich, da ihn jeder anders ausspricht. Diese Identitäten existieren nebeneinander. Das erfahre ich in den zwei Monaten: Das ‹Ich› ist unrettbar. Hier verstehe ich besser, was Ernst Mach [1] Ernst Mach (1885): Antimetaphysische Bemerkungen. In: Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Seite 137–145. meint, wenn er dies schreibt. Reden wir von einer Beständigkeit, so nur, weil manche Änderung langsamer geschieht. Das ‹Ich› in seiner Kontinuität ist denkökonomisch – und evtl. praktisch – relevant. Mich interessiert weniger die Praxis als vielmehr Erkenntnis. Die Vernichtung der Beständigkeit, die die meisten Menschen so sehr fürchten, tritt reichlich ein. Es gibt für den Menschen als Beobachter kein Ding an sich (vgl. «Konstruktivismus: Die Epistemologie der Postmoderne»), wie sollte es dann ein ‹Ich an sich› geben?

Habe ich wirklich geglaubt, ich könnte Kontexte finden, die nicht überdefiniert sind? Die Strandparties und Bootsfahrten sind trotz der fernen Fremde vordefiniert. Sie lassen sich auch später am leichtesten beschreiben, da wir bereits Bilder im Kopf haben, die dazu passen. Ich sitze mit Chinesen und Amerikanern am Strand, sehe die Sonne untergehen – und komme mir vor wie in einer Bacardi-Werbung, so daß ich mich wundere, wie ich dennoch glauben kann, diese Situationen selbst zu erleben: «Wir machen keine neuen Erfahrungen. Aber es sind immer neue Menschen, die alte Erfahrungen machen.» (Rahel Varnhagen) Ich stehe an der Spitze eines Segelbootes und genieße die Sicht auf die Weite des Ozeans bis plötzlich jemand hinter mir steht und sagt: «Du siehst aus wie die im Titanic-Film!» Eine Geste, die um die Welt ging, die nur noch stellvertretend erlebbar ist, sobald ich mir bewußt werde, daß hier der Kulturimperialismus zugeschlagen hat. Sind Spaß-machen-sollende-Situationen per se kulturell überdefiniert (vgl. «Im Auge des Spektakels»)?

In manchen Momenten stelle ich mich gerne bewußt unter den Einflußbereich eines kommunalen Systems, weil ich mich entschließe, die eben damit verbundenen Situationen erleben zu wollen. Zurück bleibt dennoch ein schaler Beigeschmack: Denn diese Situation ist erlebbar gemacht worden; ‹meine› Geschichte wurde zum Text. Und was suche ich? Scheinbar die Illusion der Unabhängigkeit; ‹reine› sinnliche Erfahrung oder zumindest Situationen, in den ich das Gefühl habe, dies sei meine ‹eigene› private Erfahrung, unabhängig von den Bildern und Geschichten, die es bereits dazu gibt und die ich als Folie benutzen kann.

Gibt es Situationen, in denen ich sinnliche Erfahrungen mache, ohne Folien zu benutzen? Mir fallen spontan zwei ein: Ein stiller Garten in Japan, in dem ich sitze, ein norwegisches Buch lese und den Krähen zuschaue, wie sie bemüht sind, gefälligst ruhig zu sein; dies erlaubt die Atmosphäre in den grünen Oasen nicht, in denen die Japaner mit Schirmen spazieren gehen. Ich erinnere auch Abende als privat erlebt zu haben, in denen ich auf einem Spielplatz schaukele, meine letzten Zigaretten rauche, die Lichter eines Spielkasinos durch die Bäume leuchten sehe und die Nachbarskinder mich begleiten wollen, da sie noch nie eine Europäerin gesehen haben. Aber diese Situationen sind – vielleicht weil privat – langweiliger Natur, wenig spektaklistisch, daher wenig mitteilbar. Und sie bleiben so bei mir. Werde ich diese Situationen fortan als private Folie benutzen?


Fazit

Das Unvertraute – fremde Zeiger und Bezugssysteme – eröffnet mir neue Räume für meine Identitätskonstruktion. Durch die Verschiebung oder durch den Austausch der Koordinaten, mit denen ich mich selbst beschreibe, stelle ich mich in einen anderen Rahmen. Ja ich erlange dadurch eine Art ‹Unabhängigkeit›, da mir die Stärke der sozialen Identitätskonstruktion bewußter wird. Dies resultiert nicht aus einer Sprachlosigkeit, sondern eher aus dem Gegenteil; einer Offenheit dem Kontext und seinen Details gegenüber. Unabhängig heißt hier: Bewußt sich unter einen sozialen Einflußbereich zu stellen und dadurch zu wissen, daß ‹ich› selbst diesen Bereich gewählt habe und ihn daher auch wieder verlassen kann.

Die gleiche Art der Unabhängigkeit erfahre ich nun in den vertrauten – weil vordefinierten – Kontexten: Ich trenne nicht mehr zwischen ‹eigenen›, privaten und textuellen, überdefinierten Erlebnissen. Schließlich oszilliere ich permanent, weil ich mich bewußt aktiv in Situationen hineinbegebe oder eben nicht.

So glaube ich nun nicht mehr an die Suche nach Unabhängigkeit durch das Verstummen. Aber ich glaube an die Herstellung anderer Identitäten durch neue, kontextuelle Kodifizierungen. Ich erlebe sie als Bereicherung. Wenn schon Postmoderne, dann Postmoderne als Chance.



Kommentare:

26. Oktober 2001
Hallo Lisa,
da Du mit ‹spektaklistisch› eines der Schlagwörter benutzt, die derzeit im Reservat flottieren, möchte ich einen kurzen, aber tiefen Blick aus den erloschenen Augen Guy Debords auf Dein Reiseexperiment werfen. Er könnte, glaube ich, viel in Deinem Text sehen, und Dein schöner Essay wäre vermutlich ein weiterer Grund für die Verzweiflung gewesen, die ihn letztlich in den Freitod geführt hat. Das liest sich ein wenig bitterer, als es eigentlich klingen soll. Mein Anliegen ist es im Gegenteil gerade, einen kleinen Seitenpfad als Alternative zu Deiner Hingabe an die Postmoderne zu weisen. Es gibt zwar in diesen unseren Zeiten kein außerhalb der vorgefertigten Beliebigkeit, aber es kann innerhalb der ewig wiederkehrenden Postmoderne Räume geben, in denen eine klarere Luft uns zumindest ab und zu noch einmal frei durchatmen läßt.
Wie Du vielleicht weißt, hat Guy Debord einige sehr bemerkenswerte Filme gemacht, die sich auch und vor allem mit der hegemonischen Funktion des Films befaßt haben. Ganz im Sinne der Arbeitsgruppe hat er den Film als ein Medium betrachtet, daß die menschlichen Erlebensmöglichkeiten dadurch bestimmt, daß im Film soziale Rollen, Verhaltensskripte und Lebensstile vorgeführt, ich würde sagen, implantiert werden, die den ‹authentischen› sozialen Raum, ‹echtes› Verhalten und unsere ‹wirkliche› Art zu leben definieren und eingrenzen. Dein ‹Titanic›-Erlebnis zeigt eben das, es gibt auf den ersten Blick anscheinend keine Situation mehr, die wir unabhängig von solchen Klischees erleben können. Und, wenn wir Debord folgen, ist dies offenbar tatsächlich so, es gibt mit fortschreitender Besetzung der sozialen Räume durch die vom Kapital beherrschten Medien keinen Raum mehr für ein persönliches befreites Erleben, für ein persönliches befreites Erkennen. Meiner Meinung nach am deutlichsten eingefangen hat er dies in seinem letzten Film, in dem schon der Titel Programm ist: «In girum imus nocte et consumimur igni». «Nichts», ich zitiere Debords Stimme, «nichts aber drückte diese ausweglose, ruhelose Gegenwart mehr aus als der alte Satz, der vollständig auf sich selbst zurückführt und der, Buchstabe für Buchstabe, wie ein Labyrinth gebaut ist, aus dem man nicht herausfindet, so daß er perfekt Form und Inhalt des Untergangs vereinigt: In girum imus nocte et consumimur igni. Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt.»
Ich denke, ich psychologisiere nicht zu sehr, wenn ich annehme, daß Debords Freitod in eben diesem Labyrinth stattgefunden hat. Und ich teile seine Ansicht uneingeschränkt, daß uns kein Ariadnefaden den Weg aus diesem Labyrinth weisen kann. Aber anders als Debord versuche ich zu glauben, daß es innerhalb des Labyrinths Orte gibt, wo wir immer wieder Zuflucht vor dem Minotaurus der postmodernen Überdetermination finden können. Verzeih' mein Pathos an dieser Stelle, aber ich halte es für besonders wichtig, solche Zufluchtsorte denken zu können. Sonst werden wir vom Strom der Postmoderne mitgerissen. «Wenn schon Postmoderne, dann richtig», kann nicht der Weisheit letzter Schluß sein. Sich die Mechanismen der Postmoderne nutzbar zu machen, ist eine viable und dringend notwendige Überlebensstrategie, aber es muß eine Strategie bleiben, nicht eine Lebensform.
Wenn ich Dich richtig verstehe, war Deine Asienreise, ein Versuch, einen Ort zu finden, der nicht vollgestopft ist mit vertrauten Signifikaten, die Dein Leben und Erkennen bezeichnen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, beruht aber auf der etwas passiven Annahme, daß es einen solchen Ort unabhängig von Dir irgendwo auf der Welt geben kann. Du bist immer da, egal wo du Dich befindest, und damit trägst Du auch Deine Lesarten in neue Zeichensysteme. Die Offenheit gegenüber neuen Zeichensystemen, gegenüber unbekannten Orten, ist ein mutiger Anfang. Auch weil solche Orte in unserer Zeit fast nicht mehr zu finden sind, ist es in meinen Augen aber die vielversprechendere Kunst, das, was uns zur Verfügung steht, zu nutzen, um solche Orte selbst zu schaffen. Ich habe diesen Gedanken schon in Helmuts «Im Auge des Spektakels» vermißt, und ich würde auch Dich bitten, darüber nachzudenken: Liegt es nicht an uns, in diesem ausweglosen Gewirbel, in dem wir uns zu verlieren drohen, Orte zu schaffen, die frei sind von dem Spuk der Hollywoodklischees und der Drehbücher, die uns vorschreiben, wie wir zu leben haben?
Interessanterweise, und damit der Schwenk zurück zu Debord, war es ja ein Anliegen gerade der Situationisten, solche neuen Orte zu schaffen, um die herrschenden Realitäten dann mit alternativen Situationskonstruktionen aus den Angeln zu heben. Auf einer globalen, gesellschaftlichen Ebene sind sie damit gescheitert, deswegen hat sich der besessene Marxist Debord ja auch umgebracht. Aber wir, die wir mittlerweile vielleicht weniger an gesellschaftlichen Umwälzungen als an kleinen Erkenntnisfragmenten und Orten, an denen es sich zu leben lohnt, interessiert sind, könnten uns die Wissenschaft der Herstellung von Situationen nach wie vor nutzbar machen. Durch ‹die bewußte Schaffung von Situationen› können wir unsere Zufluchtsorte selbst herstellen, und ‹bewußt› impliziert hier nicht nur die Suche, sondern auch die aktive Herstellung solcher Orte. Um Helmuts Metapher aufzugreifen, das Auge des Spektakels ist kein Zufluchtsort, dem wir wie der Esel hinter der Möhre reaktiv hinterherrennen sollten, um ihn am Ende doch nie zu erreichen. Diese Metapher treibt uns in die Verzweiflung. Wir sollten statt dessen zumindest versuchen zu denken, daß wir es selbst in der Hand haben, eben diese Orte aus dem, was wir haben, herzustellen. Die Wissenschaft der Herstellung von Situationen gibt uns dafür, wenn wir ihr so weit folgen wollen, ja auch das Rüstzeug zur Hand: Nimm Dir, was Dir gefällt, und verfremde es mit Deinem Geschmack. Manchmal bedarf es vielleicht nur ganz kleiner Bedeutungsverschiebungen, nicht gleich der Reise in ferne Bedeutungswelten, um sich an unbekannten Orten wiederzufinden.
Auch Dir frohes Schaffen,
Edna

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6. November 2001
Liebe Edna,
vielen Dank für deinen Leserbrief! Ich freue mich sehr über den Austausch von Gedanken und Ideen, und ich möchte dir antworten, weil ich glaube, dass du mich missverstanden hast.
Ich versuche in meinem «Reisebericht» eben gerade keine ‹Hingabe an die Postmoderne› zu skizzieren. Ich sehe statt dessen die ‹Postmoderne als Chance›: Innerhalb des wirbelnden postmodernen Pluralismus entdecke ich neben unerwünschten Haupt- auch erwünschte Nebenwirkungen. Gerade die, die ich auch bei dir lese.
Da wir ‹Wirklichkeit› als hergestellt betrachten, können wir uns Situationen, die wir als Klischee ‹entlarven›, stellen oder sie umkonstruieren. Und wir können der Präsenz der Postmoderne den Rücken kehren, indem wir Zufluchtsräume schaffen. In meinem kleinen Lebensraum kann ich meinen Garten der Stille ab und zu finden in Enklaven, die mir gemeinsam mit lieben Menschen eine Herstellung einer Welt erlauben, die jenseits dessen ist, was in den Medien flimmert. Etwa wenn ich mit Artus bei einem Milchkaffee in der Sonne diskurriere. Oder im Literarischen Salon.
Nein, ich bin nicht losgezogen, um ebenbürtige Orte zu finden (dann noch unabhängig von mir – wie sollte das gehen?). Du rätst mir in deiner bestimmt gutgemeinten, leider mütterlichen Art, ich solle statt dessen selbst Räume herstellen. Schreibe ich das nicht? Ach, die verrückte Sprache – mein Denkapparat kann es nicht besser beschreiben. Nur wer die Idee eines «Auges im Spektakel» in sich trägt, stellt diesen Raum auch selbst her, finde ich. So verstehe ich auch Helmut. Glaubst du tatsächlich, gerade Helmut verstrickt sich in albernen Möhrenmetaphern? In der Ferne habe ich diese Räume bisweilen herstellen können, das ist z.B. mit den beiden letzt beschriebenen Situationen gemeint.
Debords lyrisches Sprachspiel drückt in meinen Ohren eine Verzweiflung aus, die manchen in den Tod treibt, andere in den Wahnsinn, und mich – glaubst du – in ferne Länder. Mh, für mich ist Verzweiflung nicht die Lösung, dann schon eher Neugierde und Offenheit. An alle Orte – wem, liebe Edna ist dies nicht klar? – nimmt man sich immer mit, meine Autopoiese klebt an mir, wie das Stimmengemurmel meiner Biographiemithersteller. Eine Chance, meine Subjektivität zu erschüttern, ist Irritation. Diese suche ich gerne weiter. Und manchmal tut es gut, dafür seinen kleinen Lebensraum zu verlassen.
Herzlichst,
Lisa Blausonne

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12. November 2001
Liebe Lisa,
da ich nie in den Genuß einer sorgenden Mutter gekommen bin, freut es mich ganz besonders, trotzdem wie eine klingen zu können. Müttern und Leserbriefen ist ja auch gemeinsam, daß sie sich häufig in Angelegenheiten einmischen, die sie meistens eher wenig angehen.
Meine Sorge gründet sich vor allem auf den heroischen Tonfall, der in Deiner Antwort noch stärker als in dem Essay durchscheint. Versuche zu entlarven, und dann noch mit einer gewissen Wucht vorgetragen, klingen in meinen Ohren wie eine Don Quichotterie. Ein Klischee ist ein Klischee, da gibt es vermutlich nicht viel ‹zu entlarven›. Die gute alte Kulturzwiebel besteht aus wenig anderem, hinter den Sprachschichten ist eher selten ein Kern. Wenn Menschen sich trotzdem an der Kulturzwiebel abarbeiten, finde ich es meistens besonders gelungen, wenn sie das mit einer gewissen Leichtigkeit schaffen. In Deinem Essay wittert mein Mutterinstinkt Schwermut, und die ist nur eine von vielen möglichen Reaktionen auf den Verlust von Wahrheiten. Meine Idee ist und war es, dieses Fehlen letzter Wahrheiten auch und vor allem als eine große Einladung zur Unbeschwertheit zu betrachten, und weniger als einen Grund für Melancholie.
Du wirst an dieser Stelle vermutlich den Sprachjoker ziehen, aber laß mich noch auf eine Bemerkung in Deiner Antwort eingehen: Deine Autopoiese ‹klebt› nicht an Dir, Du bist diese Autopoiese. Woran soll sie kleben? Hier schimmert erneut die Unterscheidung zwischen Dir und Deiner Lebenswelt durch, die mich schon in meinem ersten Kommentar veranlaßt hat, darauf hinzuweisen, daß ich es besser finde, freiheitliche Räume als Teil von uns, und nicht außerhalb von uns zu denken. Auch wenn ich Dich nicht bekehren muß und will, in einem ihrer letzten Reservate wollen die Feinheiten der Sprache besonders beachtet werden.
Liebe Grüße, Edna
PS: Übrigens halte ich Helmut für den Meister aller Möhrenmetaphern.



Erstellt: 8. Oktober 2001 – letzte Überarbeitung: 12. November 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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