BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Sisyphos heute: «Atempausen»
von Henriette Orheim
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Wenn ich im Sommer in Fjærland arbeite - einem sehr kleinen Ort an einem fernen Ausläufer des Sognefjords - und mir wieder einmal alles zuviel wird, weil die Besucher im Gletschermuseum über die Eintrittspreise maulen, Postkarten klauen oder versuchen, sich an der Kasse vorbeizustehlen, oder weil ich mit den Untersuchungen an der Wetterstation nicht weiter komme, da mich die endlosen Statistiken über Niederschlagsmengen, Gletscherbewegungen und -wachstum am Jostedalsbreen schlicht niederdrücken, wenn also der ‹konkrete› Alltag mir schier über den Kopf zu wachsen und mir keinen Raum mehr zu lassen scheint für Eigenes, dann, ja dann suche ich mir immer einen besonders sonnigen Tag aus und klettere ganz früh morgens hinauf zur Flatbrehytta und dann weiter zur Tyskarnipa. Warum ich ausgerechnet diesen Weg wähle? Zwei Beweggründe leiten mich. Hier ist der eine:

Vor vielen Jahren entdeckte ich auf dem Friedhof in Mundal einen fast drei Meter hohen Grabstein, auf dem auf der einen Seite in großen Buchstaben einst dies eingemeißelt wurde: «Was frei und groß auf Erden, hat dieses Herz gekannt.» Auf der anderen Seite des Steins steht ein schlichter deutscher Name und bei einer näherer Untersuchung des ziemlich verwitterten Grabsteines zeigt sich, daß der hier Ruhende wohl sehr jung gestorben ist. Natürlich habe ich damals in Mundal herumgefragt und sehr bald im naheliegenden Hotel erfahren, daß hier ein sehr junger Schiffsoffizier am Anfang des vorigen Jahrhunderts einen Ausflug in die Berge von Fjærland unternahm und hoch oben - in einem plötzlichen Impuls einem gerade um eine Felsenecke lugenden Polarfuchs folgend - abstürzte und zu Tode kam. So die Legende. Aber die Legende wurde Wirklichkeit, und der Berg, an dem er sein Leben ließ, trägt heute - frei übersetzt - den Namen «Der Berg des Deutschen». Und wenn ich oben auf der Tyskarnipa stehe und weit hinunter auf das ferne Tal, den Fjord und den Friedhof von Mundal blicke, dann atme ich tief ein und bin für Augenblicke aus der Fron des Sisyphos, dem Geschirr des Alltags, dem Druck der Kelter entlassen: Atempause.

Hier nun der andere Beweggrund: Um auf die Tyskarnipa hinauf zu gelangen, fahre ich mit dem Fahrrad zum Øygarden Hof. Auf dem kleinen Parkplatz kurz hinter dem Hof lasse ich das Rad stehen und gehe links das Tverrdalen hinauf. Beim Abzweig hinter der kleinen Flußüberquerung wähle ich mit Bedacht den rechten und nicht den linken Weg zur Flatbrehytta. Denn auf diesem kann ich noch fast eine Stunde im Schatten des vetle Supphellenipa hinauf steigen, und da der Weg ziemlich stark ansteigt, bin ich über jede Erleichterung dankbar. Doch dann, nach etwa 1 1/2 bis zwei Stunden, klettere ich über eine steil hinauf führende, mit Gras, Kräutern und Wacholderbüschen bewachsene und im vollen Sonnenlicht duftende Passage empor und stehe ganz unvermittelt direkt vor dem Gletscherfall des ‹Supphellebreen›. Ein kalter Wind bläst mir ins Gesicht. Um den Unterschied zu spüren, gehe ich noch einmal wenige Schritte zurück: Hitze, Sommer, Fliegengesumme, der Geruch von warmem Gras; dann klettere ich wieder hinauf, bis ich den Gletscherfall sehen kann: Sofortige Kälte, blaues Eis, schrundige Gletscherspalten. Ich drehe mich um, und mit dem Eiseshauch im Rücken schaue ich hinab ins Tal. Ich atme tief ein und für Augenblicke nur bin ich aus der Fron des Sisyphos, dem Geschirr des Alltags, dem Druck der Kelter entlassen: Atempause.

Helmut Hansen hat in seinen beiden Essays über den «Sisyphos des Konkreten» und den «Sisyphos des Großen und Ganzen» einen großartigen Bogen aufgespannt und damit einen Raum eröffnet, in dem wir uns in unserem Leben bewegen: Die eine Grenze dieses Raumes läßt sich beschreiben durch das nie beendete Aufreiben und Sich-Verlieren auf der Wirklichkeitsschräge des Konkreten, verbunden mit den Qualen des ewig sich Wiederholenden; und die andere durch das nie beendete Sich-Niederdrücken-lassen von der Last des Großen und Ganzen, verbunden mit den Qualen des ewig nicht zu Beantwortenden. Und Helmut Hansen legt uns nahe, uns mit den beiden Polen, den beiden Extremen vertraut und uns damit klar zu machen: Eine Existenz ohne Qualen gibt es nicht. Sisyphos.

Ist das wirklich so? Ist das Äußerste, was wir erreichen können, ein Leben «ohne Hoffnung und ohne Verzweiflung»? Bleibt in einer von Menschen zugerichteten Welt als einzige Verhaltensmöglichkeit nur die so anstrengende Revolte gegen die Absurdität des Existierens, gegen das Hinausgeworfensein in eine Existenz, die wir nicht gewollt haben? Bleibt immer nur ein Sich-nicht-damit-abfinden? Ich denke ja. Ein ‹Sisyphos des Konkreten› scheitert, und ein ‹Sisyphos des Großen und Ganzen› scheitert, beide scheitern auf je ihre Weise und mit je ihren Möglichkeiten. Der eine arrangiert sich mit dem, was er für die Wirklichkeit hält, und kontrolliert und protokolliert danach dann sein Scheitern, der andere arrangiert sich in seiner Revolte, denn er hat sein Scheitern längst akzeptiert.

Aber es gibt Atempausen. Es gibt Augenblicke - der Freiheit. Ja: Der Freiheit! Lisa Blausonne hat in ihrem kleinen Essay über «Das Absurde und die Kunst» eine Möglichkeit beschrieben, wie wir - zumindest gelegentlich, für kurze Zeit - aus der Absurdität des Daseins, den Grenzen unserer lausigen Begriffswirklichkeit, dem Gefangensein in den nie erfüllbaren eigenen Erwartungen und Vorstellungen hinausgelangen können: Durch die Schaffung, die Herstellung, die Erzeugung von - Kunst. Schreiben, malen, skulptieren, musizieren, kurz, schöpferisches Tun: «Die eingerissenen Kulissen sollen wieder aufgebaut werden, Sinn soll entstehen, den wir im Weltlichen nicht finden. Also erschaffen wir eine parallele Welt, jenseits der Begrifflichkeiten, die im Weltlichen abprallen.» Und weiter: «Die Kunst enthebt sich weltlicher Bezeichnung, ist ihre eigene Sprache. In dem Sinne ist sie tröstend, erlösend, wenngleich sie das ewige Leiden des Sisyphos nicht aufhebt.»

Nach der einleitenden Schilderung meiner beiden «Atempausen» dürfte Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, klar sein, um was ich Lisas Überlegungen ergänzen möchte. Ich denke, daß es noch eine weitere Möglichkeit gibt, wie wir - und sei es auch nur gelegentlich oder nur für wenige Augenblicke - der Absurdität des Daseins, der Wiederkehr des Immergleichen und unseren damit hoffnungslos verknüpften täglichen Bemühungen, einen ‹konkreten› oder ‹abstrakten› Felsen einen Berg hinaufzurollen, entgehen können, wie wir verschnaufen, innehalten können: Durch das Erschauen von Natur oder Kunst. Damit meine ich nicht das bürgerliche oder besser bildungsbürgerliche Diktum, die Kunst erhebe uns, oder solle uns erheben und zu einem ‹besseren›, ‹höheren› Menschsein führen. Nein, ich denke - um in diesem Wortspiel zu bleiben -, Natur und Kunst können uns vom Menschsein entheben, können uns gleichsam entlassen, und für einen Moment sind wir unserer Verpflichtungen als Sisyphos enthoben, von ihnen befreit, wir schweben, ja, wir sind unserer Existenz ledig, sind entbunden von der ewigen Aufgabe, unseren Felsen auf unserer Lebensschräge unseren Berg hinauf zu rollen: Es ist ein ganz grandioses Enthobenwerden, und für einen Moment spüren wir den Felsen nicht, der auf uns zurückzurollen droht und den wir deswegen mit aller Kraft festhalten müssen.

Nur noch ein kleines Beispiel: Wer sich einmal im Skagens Museum, im Blaafarveværket in Åmot oder während einer anderen Ausstellung einige Werke von Peder Severin Krøyer betrachten konnte - etwa ‹Fiskere på Skagens Strand› von 1891, ‹Sommeraften på Skagens Sønderstrand› von 1893, ‹Kunstnerens hustru stående på stranden i måneskinn› von 1893 und ‹Marie på Skagens Strand› von 1899 (das Bild, in dem Krøyer sein Gesicht verwischte und unkenntlich machte) - und einiges über sein Leben weiß, der wird, wenn er es denn mag, zutiefst von diesen Gemälden ergriffen, der wird - im besten Sinne - enthoben werden. Selbst wenn uns unsere Konditionierung auf das Lebenspraktische und auf das ewige «wahr und falsch» plötzlich einholen sollte und wir meinen, die betrachteten Bilder seien gar dilettantisch ausgeleuchtet, können wir uns doch, wenn wir es zulassen, nicht lösen von dem Eindruck, den die Bilder auf uns machen.

Glücklich sind die wenigen, die Natur und Kunst pantheistisch, ja goetheanisch empfinden und sich davon forttragen lassen können. Denn dieses Empfinden, dieses Schauen, das uns oft zu Tränen rührt, lenkt uns auf das Eigentliche, wo immer das sein mag, führt uns zum Allgott, wer immer dies sein mag, macht uns in einem Augenblick klar, was in unserem Lebenstrott alles fehlt.

Atempause. Innehalten. Enthoben-Sein. Friedrich Wilhelm Nietzsche sagte einmal: «Die größten Ereignisse - das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.» [1] Wilhelm Bitter (Hrsg.) (1958): Meditation in Religion und Psychotherapie. Ein Tagungsbericht. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Seite 7. Können wir in diesen stillsten Stunden den Sisyphos in uns zurücklassen? Können wir unseren allfälligen Leiden entgehen? Uns den geforderten Konstruktionsgeboten entziehen? Der Revolte entsagen? Einmal, ja einmal nur uns in unserer Welt aufgehoben fühlen? Gibt es Sisyphos's Erwachen?



Erstellt: 24. September 2003 – letzte Überarbeitung: 24. September 2003
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