BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Orwell 2010»
von Albertine Devilder & Helmut Hansen
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Einführung

In der letzten Zeit haben wir verschiedene Leute gefragt, was sie eigentlich mit dem Namen Orwell verbinden. Ältere Mitinsassen unserer Kultur hatten oft noch eine ungenaue Ahnung, brachten auch häufig den Namen Orwell mit der Zahl 1984 zusammen, nur wußten sie dann nicht mehr weiter. Einige meinten, es gäbe da einen Roman, andere sagten, ‹1984› sei ein Film. Was da aber nun genau so ‹los war›, das wußten sie nicht. Junge Leute können unseren Recherchen nach mit dem Namen Orwell fast nichts anfangen.

Da wir meinen, unsere Gesellschaft bewegt sich derzeit hurtig in eine von George Orwell beschriebene Richtung, möchten wir die derzeitige Lage dezent zusammenfassen und einen Ausblick wagen, den wir ‹Orwell zwanzig zehn› nennen.


George Orwell im Skepsis-Reservat der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›

Wenig verwunderlich ist, daß Georg Orwells Beschreibungen eines totalitären ‹brüderlichen› Systems uns als ‹Sozial-Konstruktivisten› sehr interessiert. Orwell skizziert ja, mit wie wenigen Worten sich eine Wirklichkeit 2. Ordnung (im Sinne von Watzlawick) herstellen läßt, die mit der Wirklichkeit 1. Ordnung nichts zu tun hat. Deswegen haben wir uns in verschiedenen im Skepsis-Reservat erschienenen Traktaten mit Orwell beschäftigt. Wie nahe er uns ist, wie aktuell sein Roman ‹1984› ist, daß wurde uns wieder einmal deutlich in der letzten Redaktionskonferenz, über die Artus P. Feldmann in seiner Kolumne vom 19. Oktober berichtet. Wir haben uns an diesem Tag über unseren derzeitigen ‹Ernährungs- und Verbraucherminister› sehr amüsiert, hat er doch ein ‹Verbraucherschutzgesetz› entworfen, welches naturgemäß und selbstverständlich nicht die Verbraucher schützt, wie man es ganz unbefangen vom Namen des Gesetzes her vermuten könnte, sondern das Kapital vor den Nachstellungen des Verbrauchers. Zu unserer Gesellschaft des Spektakels gehört eben unabdingbar, daß sich die Gesellschaftsinsassen überhaupt nicht für ein ‹Verbraucherschutzgesetz› interessieren, sondern dafür, ob der ‹Ernährungs- und Verbraucherminister› mit ein oder zwei Frauen glücklich oder unglücklich ist. So ist das.

In den Zentralen der Parteien, die die Bundesrepublik Deutschland und damit die öffentlichen Ämter mit Pensionsberechtigung unter sich aufgeteilt haben, sitzen deswegen gut gekleidete Leute, die über nichts anderes nachdenken, als wie das, was ohnehin geschieht, so bezeichnet werden könnte, daß keiner merkt, um was es wirklich geht und was wirklich geschehen wird. Das ist ‹schwarzer Konstruktivismus› at it‘s best – und er fällt in unserer Gesellschaft des Spektakels so leicht. Diese Leute haben eben gelernt, daß es in der Politik nicht darum geht, was geschieht, sondern wie darüber gesprochen wird. Und die Insassen unserer Gesellschaft, die immer noch freiwillig ihre Lebenszeit vor einem Fernseher totschlagen, können täglich beobachten, wie eben diese netten, freundlichen, gut gekleideten und schön sprechenden Wichtigkeitswichtel aus den Parteizentralen mit den Mitteln der Unredlichkeit, Unehrlichkeit, Heuchelei, Scheinheiligkeit, Doppelzüngigkeit und Bigotterie unser aller Sorgen zerstreuen und ‹Wohlstand und Teilhabe für alle› predigen. Und das von ihnen Gesagte gilt in unserer final-kapitalistischen Kultur keineswegs als Lüge, sondern als clever gewählter Euphemismus, als hohe Kunst der politischen ‹Verlautbarung›.

Schauen wir uns einige Texte unseres Skepsis-Reservates an, die zeigen, wie viel Bedeutung wir Orwells ‹1984› beimessen. Wie schön ist es doch, auf so viele schöne und klare Traktate zurückgreifen zu können.

Fangen wir mit Henriette Orheims ‹Newspeak-Badspeak› an:

«Ist George Orwells kurz vor seinem Tod im Jahre 1950 erschienener Roman «1984» heute noch ein Thema? Bestimmt nicht, denn wir leben in Frieden und Freiheit. Wir genießen die beste aller Gesellschaftsformen, die Demokratie. Und wir leben im besten aller wirtschaftlichen Systeme, der sozialen Marktwirtschaft, die Wohlstand nicht nur für wenige, sondern für alle schafft. Die Rezeptionsgeschichte des Romans «1984», besser, die Rezeptionsempfehlungen und -verpflichtungen in Alltag und Schule gingen in den 50er und 60er Jahren regelmäßig dahin, daß es sich bei dem in «1984» geschilderten sozialen System unbedingt um ein «kommunistisches» handeln müsse. Nun, der «Kommunismus» ist tot, er ist ‹vom Westen› besiegt worden. Fragen wir also noch einmal: Spielt der Roman «1984» noch eine Rolle?»

Das wäre eine eigene Untersuchung wert, einmal zu zeigen, wie die jungen Leute in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Überzeugung gebracht werden sollten, Überwachung und Kontrolle gebe es nur in ‹kommunistischen› Systemen.

Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne analysieren in ‹Die Lehre vom Gegenteil› die so offensichtlichen Widersprüche, in die sich Menschen verwickeln und sie sagen:

«Da wir Personen als Diskursprodukte, also als ‹Personentexte› sehen, erscheint es uns ganz plausibel, daß ‹Personentexte› sich in laufende Texte einklinken, die in dem sozialen Raum aufgesagt werden, in dem sich die ‹Personentexte› eben gerade aufhalten.»

Wenn wir uns also fragen ‹Wer spricht?›, dann sollten wir uns mit dem Gedanken anfreunden, daß nicht die Person, sondern der soziale Raum zu uns spricht. Und damit wird uns auch klar, warum Politiker und andere final-kapitalistische Wichtigkeitswichtel so uniform daher reden: Sie sprechen ja gar nicht selbst, sondern werden von der final-kapitalistischen Zentralrede mit genommen:

«Im politischen Alltag sind wir es […] schon seit langer Zeit gewohnt, öffentlich daher gesagten Worten nicht nur zu mißtrauen, sondern schlicht zu erwarten, daß mit deren Herbeizitieren sich in Bälde ein ‹Wesen der Dinge› eröffnen wird, das sich ‹in Wirklichkeit› als das direkte Gegenstück zu dem von diesen Worten her eigentlich zu erwartenden erweist. Nun ja, im politischen Alltag geht es um Aufmerksamkeits-Management und Deutungsmacht, und vielleicht ist das ‹Volk› im großen und ganzen so dumm oder so desinteressiert, daß es der Euphemismen und Umdeutungen geradezu bedarf, die wir aus George Orwells Roman ‹1984› kennen: ‹War is Peace›, ‹Freedom is Slavery›, ‹Ignorance is Strength›. Seltsam, wie uns diese Formulierungen berühren, wie nahe sie uns kommen, wenn wir – nachdenklich gestimmt - einen Blick auf den derzeitigen Weltenlauf werfen.»

Søren Benn schreibt in ‹Selten gestellte Fragen zu Ökonomie und Gesellschaft, oder: Worauf wollen wir hinaus›

«Anders ist es kaum zu erklären, daß politische Entscheidungen in der Wirklichkeit 1. Ordnung zu immer prekäreren Lebensverhältnissen für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung führen, daß die Einkommensschere sich immer weiter öffnet, daß Bildung in Deutschland nur mit sozialer Selektion zu tun hat usw., und daß sich dies in der Wirklichkeit 2. Ordnung, in der Art und Weise also, wie darüber gesprochen wird, nicht widerspiegelt. Nein, mit dem üblichen ‹Newspeak› (Orwell) wird über Leid und Benachteiligung hinweg geplaudert.»

Henriette Orheim macht in ihrem Text ‹Konservative Sehnsüchte› deutlich um was es all den bedeutenden Politikern geht, die sich ständig um unserer ‹Sicherheit› sorgen und uns so immer wieder mit neuen Vorschlägen überraschen:

«Ja, daß man Frieden schafft, indem man Krieg führt, daß die Freiheit verteidigt wird, indem man sie einschränkt, daß immer mehr Überwachungen, Überprüfungen und Spionierereien unseren Lebensraum leichter, heiterer und vor allem ‹sicherer› machen sollen, dies ist schon Alltagsrede. Dabei ist es überaus interessant, daß grobe Widersprüche in den geplanten und bereits etablierten politischen Aktionen offensichtlich niemanden interessieren. Das Motto ist: Erst die Einschränkung der Freiheit, erst die völlige und lückenlose Überwachung des Einzelnen schafft – Freiheit. Das erinnert doch sehr an George Orwell.»

Artus Paul Feldmann zeigt in seinem berühmten Traktat über ‹Die schlimmste Lichtquelle der Welt: 10 Thesen zum TV›, welche Macht das TV heute hat und wie leicht TV-Gucker zu kontrollieren sind:

«Visionen zur Kontrolle von Menschen, wie sie Orwell in seinem Roman «1984» noch hatte, sind heute offensichtlich unangebracht. Fernsehende Menschen neutralisieren sich selbst, sie richten ihr Leben final und «freiwillig» vor der Lichtquelle ein und schlagen ihre Lebenszeit tot. Der Fernseher gehört übrigens bei uns zu den unpfändbaren Dingen!»

Benjamin Erhard zitiert in ‹Neue Spielregeln der Ausbeutung (2): 'Ich verlasse mich da ganz auf Sie!' - Verantwortung im Postfordismus› Neil Postman [1] Neil Postman (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag. Seite 5.:

«Orwell warnt vor einer Unterdrückung durch eine äußere Macht. In Huxleys Vision dagegen bedarf es keinen Großen Bruders, um den Menschen ihre Autonomie, ihre Einsichten und ihre Geschichte zu rauben. Er rechnete mit der Möglichkeit, daß die Menschen anfangen, ihre Unterdrückung zu lieben und die Technologien anzubeten, die ihre Denkfähigkeit zunichte machen.»

Nicht nur diesen Gedanken hat Bethchen B. besser, wenn sie in ‹Remix 2002: Forced Choice – Das Geheimnis des Großen Bruders› zeigt, was aus den Menschen in einer Gesellschaft des Spektakels wird.

«Ein schlauer Mensch hat einmal die Frage gestellt, was George Orwell wohl denken würde, wenn er noch miterlebt hätte, daß die Mechanismen, mit denen die finalkapitalistischen Staaten des Westens ihre Massen kontrollieren, der Funktionsweise seines fiktionalen Big Brother diametral entgegengesetzt sind.

Was bedeutet diese Frage? In «1984» werden das Verhalten und die Äußerungen der Kontrollierten fortlaufend durch Kameras überwacht. Die Unterdrückten werden kontrolliert, indem sie ständig beobachtet werden. Die Monitore dienen hier zur Übermittlung von Informationen an die Schergen der herrschenden Klasse und die Überwacher blicken auf eben jene Bildschirme. In unserer wirklichen Wirklichkeit sind die Verhältnisse genau umgekehrt: Die Masse wird nicht kontrolliert, indem ihre Bewegungen und Verhaltensweisen beobachtet und eingeschränkt werden. Der Informationsfluß ist vielmehr direkt auf das Volk gerichtet und die Fernsehzuschauer schauen gebannt auf die Bildschirme ihrer Fernseher. Die Kontrollmechanismen unserer Tage sind dabei wesentlich effizienter: Durch die mediale Übermittlung von ‹Informationen› werden artifizielle, dem Kapital dienbare Realitäten geschaffen, die die Lebenswirklichkeiten des sozialen Körpers definieren. Angewandter Konstruktivismus, sozusagen. Vor allem das Fernsehen dient als eine Wunschmaschinerie, die das Geschichtenrepertoire, die Träume und Sehnsüchte der Menschen – und damit ihre Welt – definiert.

Auch – oder gerade – auf die Gefahr hin, martialisch zu klingen: Das individuelle Selbst ist heute das Schlachtfeld eines Informationskriegs, den es verloren hat, bevor das Individuum auch nur eine Ahnung von Selbstbewußtsein entwickeln kann. Das Verhalten der Vereinzelten, und damit des Volkes insgesamt, braucht nicht durch einen Überwachungsapparat kontrolliert werden, weil der omnipräsente Große Bruder bereits die Erfahrungswelt der Menschen durch die Kontrolle ihrer Vorstellungsmöglichkeiten eingrenzt. Umstürzlerische Pläne, von wie auch immer gearteten revolutionären Zellen auf konspirativen Treffen geschmiedet, stellen heute also keine Gefahr mehr dar, weil die potentiellen Verschwörer lieber auf dem Traumschiff in die Karibik fahren. Mit anderen Worten, das vom Kapital evozierte und durch die Medien implantierte Bild eines gesunden Menschenverstandes legt die Laufwege der Massen so rigide fest, daß eine Auflehnung gegen dieses System den Menschen von heute nicht nur kaum vorstellbar ist, sondern als irreal, weltfremd und bedrohlich erscheint.
»

Wir sehen, wie ganz wundersam die Leute, die ‹regieren›, und die Leute, die regiert› werden, über das Medium aller Medien zusammenfinden. Da dem nichts hinzuzufügen ist, können wir sogleich einen Ausblick wagen.


Ausblick oder ‹Orwell 2010›

Fassen wir einige der vom Staat bereits realisierten und einige der geplanten Methoden der Überwachung unserer Gesellschaftsinsassen zusammen und mixen das mit den Daten, die von den Insassen freiwillig offenbart werden. Dann wird uns plötzlich klar, daß wir in einem Staat leben, dessen Überwachungstechnik von einer Effizienz ist und sein wird, die sich George Orwell vor nun bald 60 Jahren nicht vorstellen konnte:
  1. Telefone und Computersysteme werden abgehört bzw. überwacht.
  2. Ausweise und Pässe werden wesentliche biometrische Daten ihrer Besitzer enthalten.
  3. Elektronisch lesbare Krankenversicherungskarten werden weitere wichtige Daten liefern, die den Punkt 2. ergänzen.
  4. Privatkonten und die darauf getätigten Transaktionen werden überwacht.
  5. Öffentliche Orte wie Bahnhöfe und Plätze werden mit Hilfe von Videokameras und thermographischen Systemen beobachtet und überwacht.
  6. Mit Hilfe der Autobahnmaut-Brücken werden alle Kfz-Kennzeichen von Fahrzeugen auf den Autobahnen automatisch erkannt und erfasst. Die sich dadurch ergebenden Bewegungsbilder von Fahrzeugen werden zentral ausgewertet.
  7. Die Benutzung von Mobilphonen führt zu Bewegungsbildern, die vom Staat jederzeit abgerufen werden können.
  8. Die Benutzung von Kreditkarten führt zu Bewegungsbildern, die vom Staat jederzeit abgerufen werden können.
  9. Der Staat schränkt die ‹Schweigepflicht› bestimmter Berufsgruppen ein, um an Daten von mutmaßlich ‹gefährlichen› Personen zu kommen.
  10. Durch die Verwendung von ‹Kundenkarten› gibt die ‹Kundenkartenbesitzerin› dem Unternehmen, welches die ‹Kundenkarte› ausstellt, freiwillig einen Einblick in ihr Konsumverhalten.
  11. Durch die Teilnahme an einschlägigen ‹Internet-Communities› geben die ‹User› freiwillig einen Einblick in ihr Privatleben und in ihre persönlichen Daten.
Haben wir etwas vergessen? Dann, lieber Leser, liebe Leserin, schreiben Sie uns, und wir werden den Ausblick ergänzen!



Erstellt: 12. Oktober 2007 – letzte Überarbeitung: 1. November 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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