BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«John Fords ‹Stage Coach› (1939) und die ‹FDP› (2010)»
von Albertine Devilder & Bethchen B.
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Einführung

Ludwig Wittgenstein hat sich im Kino – mit oder ohne Marguerite Respinger – sehr gerne Western angeschaut. Das muß einen Grund gehabt haben, gibt es doch auch etliche andere Denker, die gerade dieses Filmgenre bevorzugen. Selbst die Autoren und Autorinnen des Skepsis-Reservates, die sich allerdings bescheidenerweise niemals als Denker bezeichnen würden, beziehen sich in verschiedenen Traktaten auf mehr oder weniger berühmte Western. Warum nur? Nun, hier werden in überschaubaren sozialen Räume epistemologische, ethische und existentielle Fragen auf den Punkt gebracht und immer wieder anders und doch gleich beantwortet. Wie immer verraten uns alte Western (bitte, Italo-Western sind hier nicht gemeint) nicht nur viel über die Abgründe der menschlichen Psyche, sondern auch insbesondere über die Möglichkeiten des Zusammenlebens in sozialen Räumen. Man könnte viele dieser Filme komplett in die Jetztzeit übertragen und neu drehen, statt der Gattung ‹Indianer›, die es auszurotten gelte, müßte man nur die Gattung ‹Terrorist› oder wenigstens ‹Migrant› nehmen. Hartz IV-Empfänger ginge aber auch.

So denken Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen in ihrem grandiosen und seherischen Essay über den ‹Abschied vom Staat› mit Tränen in den Augen an die Szene in John Fords «The Man Who Shot Liberty Valance» von 1962, in der der farbige Woody Strode (als Pompey) in der von James Stewart (als Ransom Stoddard) eingerichteten Alphabetisierungs-Schule den ersten Satz der Unabhängigkeitserklärung zitiert: «... that all men are created equal ...» Tja, was ist aus diesem wunderschönen Satz geworden?

Und im Traktat ‹Als ‹Ich› in der Dienstleistungsgesellschaft› zitiert Helmut Hansen einen One-liner von John Wayne (als John T. Chance), die dieser einem rüden Lügner in Howard Hawks‘ «Rio Bravo» von 1959 entgegen hält: «We‘ll remember you said that!» Wie gerne würden wir auch so etwas ausrufen, wenn etwa ein Ministerpräsident und ‹Arbeiterführer› nachdem er Unternehmern das Angebot gemacht hat, mit ihm persönlich sprechen zu dürfen, falls sie ein paar tausend Euro dafür bezahlen, sagt, es sei absurd zu behaupten, er habe Unternehmern das Angebot gemacht, mit ihm persönlich sprechen zu dürfen, falls sie ein paar tausend Euro dafür bezahlten. So geht das in der Politik, so funktionieren politische Prostitution und Lüge. Ja, da sind wir nicht sauer, sondern verzweifelt und warten auf John T. Chance, der die beredten Scharlatane entlarvt und einer Gerechtigkeit unterwirft. Ach. Aber wer erinnert sich schon an das, was ein Politiker gestern gesagt hat? Und noch besser: Wer interessiert sich dafür? Genau.

In ihrem Essay über ‹Konservative Sehnsüchte› beschreibt Henriette Orheim an Hand einer Szene aus Delmer Daves' «Broken Arrow» von 1950 die Omnipotenzsehnsüchte konservativer und reaktionärer Politiker. Tom Jeffords (gespielt von James Stewart) erzählt in einem Saloon, er habe ein verletztes Indianerkind gefunden und gesund gepflegt. Dies stößt bei den anderen Saloon-Besuchern, für die ein ‹guter Indianer› nur ein ‹toter Indianer› sein kann, auf großes Unverständnis. Als Tom Jeffords später versucht, mit dem Indianerhäuptling Cochise (gespielt von Jeff Chandler) eine Art Friedensvertrag zu vereinbaren – mit Details einer beiderseitigen Konduite – und so ein Zusammenleben von ‹weißen› und ‹roten› Menschen in einer bestimmten Region zu ermöglichen, reagiert die übliche Saloon-Besatzung rabiat, als sie davon erfährt. Tom Jeffords wird als ‹Indianer-Freund› bezeichnet und verurteilt, sogleich im Saloon ergriffen, unter großem Gejohle nach draußen gezerrt und aufgehängt.

Und was hat das mit konservativen Sehnsüchten zu tun? Nun, wie ein Lynchmob, der sich innerhalb von Minuten als Ankläger, als Richter und als Henker aufführt, wünschte sich ein ehemaliger Innenminister, ein von ‹Terroristen› entführtes Flugzeug abschießen zu dürfen, ohne zu beachten, daß sich hier rechtliche Sanktionen, die zugleich Strafverfolgung, polizeiliche Prävention und Krieg sind, vermengen. Gewaltenteilung? Wozu? Wenn doch Gefahr im Verzug ist? Eben. ‹Rettungsfolter› und ‹Sicherheitsfolter› waren doch auch erlaubt in einer großen Demokratie hinter einem großen Teich, oder?


‹Stage Coach› (1939)

So, wir hoffen, den Boden für unsere geniale Kollation vorbereitet zu haben. In John Fords unvergeßlichem und meisterhaftem Film reisen sieben Menschen in einer Kutsche durch ein gefahrvolles Land. Wir richten unser Augenmerk aber nur auf den Bankdirektor Gatewood (gespielt von Berton Churchill), der seine Bank soeben um 50.000 Dollar an Lohngeldern erleichtert hat und nun zu fliehen versucht. John Ford ist Zyniker genug, um am Anfang des Films kurz zu zeigen, wie die Ehefrau des Bankdirektors – als Teil einer ‹Law and Order League› – gerade dafür gesorgt hat, den heillosen Trinker Doc Boone (gespielt von Thomas Mitchell) und eine heilige Hure (gespielt von Claire Trevor) aus der Stadt zu vertreiben.

Der Bankdirektor Gatewood – «What is good for the banks is good for the country!» – sitzt also mit seinen gestohlenen Lohngeldern auf dem Schoß breitbeinig zwischen zwei Frauen, denen nur wenig Platz verbleibt, und entäußert hin und wieder seine Überzeugungen. Als jedoch nach einem ersten Zwischenhalt die begleitenden Soldaten, die er eben noch gelobt hat, den Schutz der Kutsche aufgeben müssen, um anderen Aufgaben nachzugehen, wird er wütend – «I'm standing on my legal rights!» –, er dekuvriert sich, er läßt seine Meinungskatze aus dem Sack, und deswegen hören wir jetzt einfach mal zu und fragen uns, ob uns diese Suada nicht bekannt vorkommt:
«I can't get over the impertinence of that young lieutenant! […] I'll report him to Washington. We pay taxes to the government and what do we get? Not even protection from the army! I don't know what the government is coming to! Instead of protecting businessmen, it pokes its nose into business! They're even talking about having bank examiners, as if we bankers don't know how to run our own banks. I actually had a letter from some official saying they were going to inspect my books! I have a slogan that should be emblazoned on every newspaper in the country: America for Americans! Government must not interfere with business! Reduce Taxes! Our national debt is something shocking, over one billion dollars a year! What this country needs is a businessman for president!»

‹FDP› (2010)

Ist diese Suada nicht nett? Und hören wir die wesentlichen Bestimmungsstücke dieses Geredes nicht tagtäglich von Mitgliedern der ‹FDP›? Doch. Fassen wir ein wenig zusammen, was heute für die ‹FDP› so aktuell ist wie nie:

  • Wir – die Leistungsträger – zahlen Steuern an die Regierung (wohlgemerkt, nicht an die Pólis!) und was kriegen wir dafür? (Ja, was? Vielleicht eine Infrastruktur mit Straßen und Schulen?)
  • Anstatt Unternehmer bei ihren Geschäftstätigkeiten zu unterstützen, steckt die Regierung ihre Nase in deren Angelegenheiten und versucht, ihnen Schwierigkeiten zu machen. (Stichwort Deregulierung! Stichwort Kartellgesetze! Stichwort Mindestlöhne!)
  • Ja, da soll es sogar Bankprüfungen geben, als wüßten wir Banker nicht, wie wir unsere Banken zu führen haben! (Wir geben zu, diese Volte ist nach den 100 Milliarden Euro, die die ‹Regierung› soeben den armen Banken geschenkt hat, besonders nett.)
  • Steuern runter! (Mehr Netto vom Brutto, klar doch!)
  • Unsere Gesamtverschuldung ist schockierend! (Ja, wie kommt das denn?!)
  • Unser Land braucht einen Geschäftsmann als Kanzler! (Das kann im finalen Kapitalismus nicht mehr lange dauern.)

  • Ist das nicht allerliebst? Sind diese nun 70 Jahre alten Thesen nicht so aktuell wie nie? Gab es die Grundgedanken des grenzenlosen Kapitalismus und Neo-Liberalismus vielleicht schon immer? Und fällt denn den Leuten, denen diese Floskeln aus dem Munde purzeln, nicht auf, daß sich die verschiedenen Forderungen beißen? So kann der Bankdirektor Gatewood in einem Satz die Forderung aufstellen, die Steuern müßten ‹gesenkt› werden und sich gleichzeitig über die immense Verschuldung des Staates aufregen. Er sieht da wirklich keinen Zusammenhang. Ebenso wie die ‹FDP›.


    Schluß

    Können wir aus alten Western etwas über Menschen lernen? Ja. Über die Grundgedanken des Kapitalismus? Ja. Über Dummheit? Ja. Über die ‹FDP›. Ja. Ist das lustig? Nein.

    Finis.



    Erstellt: 11. Februar 2010 – letzte Überarbeitung: 23. Februar 2010
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