BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Als ‹Ich› in den Nullerjahren»
von der Redaktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe
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«Menschen, Menschen san mer alle –
ist keine Entschuldigung, sondern eine Anmaßung.»
(Karl Kraus)

Vorbemerkung

Wer sich für die Epistemologie eines ‹Sozialen Konstruktivismus› interessiert und vielleicht schon gar ein wenig in diesem Denkgebäude herumspaziert ist, der ahnt, daß sogenannte wissenschaftliche oder empirische ‹Befunde› meist nur eine kurze Halbwertzeit haben. ‹Daten› werden immer nur in einem oder mehreren spezifischen sozialen Räumen erhoben und zeigen so bestenfalls – wie eine Art Schnappschuß – nur auf eine bestimmte kulturelle Gegebenheit zu einem bestimmten kulturellen Zeitpunkt.

Dies gilt in gleichem Maße für die Traktate und Essays, die die Autoren und Autorinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› im ‹Skepsis-Reservat› zu den verschiedensten Themen unseres Gemeinwesens geschrieben haben. So ist es angebracht, in bestimmten Zeitabständen mal nachzuschauen und nachzulesen, ob wir unserem Geschriebenen noch ein Gewicht, einen Belang, eine Signifikanz und Relevanz beimessen können.

Wir möchten in diesem Traktat eine Reihe von Texten Revue passieren lassen, die für das ‹Skepsis-Reservat› der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung› geschrieben wurden und die sich mit dem befassen, was man so leichthin das ‹Ich› nennt. Wir sind gespannt.


Einführung

Kann sich von den älteren Lesern und Leserinnen vielleicht noch jemand an die 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnern, in denen Psychotherapeutinnen im Rahmen eines ‹Assertiven Trainings› den von Konservativismus und Klerikalismus zerpatschten Subjekten mühsam ein wenig aufhelfen wollten? Und, jetzt kommt eine noch bessere Frage, können Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ermessen, wie viele Leute denn heute ein ‹Assertives Training› bräuchten, welches ihrem ‹Ich› auf die Sprünge helfen sollte? Wie, Sie meinen, nicht einmal 5 Prozent? Ja, noch weniger? Hm, könnte sein: Willkommen in den Nullerjahren, willkommen im Zeitalter des ‹Ichs›! Hallo Guido!

In der Sprache der größten und schlimmsten Schmierlappenzeitung dieses unseres Landes könnten wir rufen: «Schock! Terror! ‹Ich›-Inflation! ‹Ich›-Welle! ‹Ich›-Flut!» Ja, sehr viele Menschen sprechen heute am liebsten von ihrem ‹Ich›. Und das bedeutet: Sehr viele Menschen behaupten heute – in einer großen Selbstverständlichkeit – ein ‹Ich› zu haben! Und, was besonders auffällt in Diskursen aller Art: Alle Menschen verlangen permanent, daß ihr ‹Ich› auch angemessen gewürdigt und berücksichtigt werde, daß es eine diskursive Wichtigkeit, ein Gewicht, eine Gewichtigkeit erfahre, ja, daß es als Instanz von großer Bedeutung angesehen werde. Warum? Weil sie es eben ‹haben›! Sie stellen also Forderungen, leiten Ansprüche aus der schieren Existenz ihres ‹Ichs› ab, und sie lassen sich gar nix gefallen. Gar nichts!

Und wenn wir weiter in die Diskurse und die kommunikativen Akte hineinleuchten, hören wir, daß sehr viele Menschen meinen, daß ihr ‹Ich› gleichsam die letzte Rechtfertigungsinstanz für ein Geschehen aller Art sei. Ja, es genügt, das Wort ‹Ich› in einer beliebigen sozialen Situation final zu erwähnen (Nach dem Motto: «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» «Das kann doch jeder nur für sich entscheiden!»), um nicht nur ungeteilten und angemessenen Beifall erhalten zu wollen, sondern ihn auch tatsächlich zu bekommen. Tja, da gibt es einiges nachzudenken.

Claudia Roth von den ‹Grünen› sagte zu Beginn der Nullerjahre – im März 2001 – auf der Versammlung, die sie schließlich zur Vorsitzenden erkor: «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.» Welch wundersame Tautologie! Und wie treffend ausgewählt für den sozialen Raum der Vertreter und Anhänger der Grünen! Doch wen meint sie, wenn sie ‹Ich› sagt? Dies ist keine leichte Frage. Und es ist erstaunlich, daß niemals einer der ‹Ich›-Verwender diese Frage beantworten muß. Es genügt, den Namen zu sagen, das Wort ‹Ich› auszusprechen: «Ich bin die Claudia.» Vulgo: «Ich bin Ich!» Schön. Und was noch?

Und Guido Westerwelle trug zum Ende der Nullerjahre – unter vielen anderen aufregenden ‹Ich›-Sätzen – folgendes leere ‹Ich›-Aperçu bei: «Ich lasse mir nicht verbieten, als Außenminister die Interessen Deutschlands im Ausland zu vertreten!» Doch wen meint er, wenn er ‹Ich› sagt? Gibt es jenseits des ‹Guido-Posings› einen ‹Guido›? Dies ist keine leichte Frage. Und es ist erstaunlich, daß niemals einer der ‹Ich›-Verwender diese Frage beantworten muß. Es genügt, den Namen zu sagen, das Wort ‹Ich› auszusprechen: «Ich bin der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland!» Wir merken schon: Wenn jemand sein angebliches ‹Ich› auch noch mit einem solchen Mammutbegriff wie ‹Deutschland› verknüpfen kann, gibt es – ich-mäßig gesehen – kein Halten mehr. Von Guido Westerwelle lernen, heißt also, anderen mit seinem angeblichen ‹Ich› permanent auf die Nerven zu gehen. Aber genau das ist das Prinzip der Nullerjahre: ‹Ich› habe ein ‹Ich›, und die anderen und die Pólis müssen das aushalten!

Warum genügt es, mit Stentorstimme von seinem ‹Ich› zu sprechen und damit gleichsam ‹Ich›-Behauptungen aufzustellen? Warum fragt keiner weiter? O.k., o.k., wir fragen ja weiter. Hier einige Gedanken zur inflationären Verwendung des Wörtchens ‹Ich›.


Als ‹Ich› in Romantik, Moderne und Postmoderne

Als soziale Konstruktivisten glauben wir, daß Menschen nicht aufgrund ihrer Biologie, sondern mit und in ihren sozialen Räumen zu Personen werden. Ein Blick auf Mikro- und Makroräume ist für uns also immer von großem Nutzen, um zu verstehen, wie eine Person tickt. Und um die wesentlichen – die Personen gestaltenden – System-Elemente, Raum-Vorschriften und ‹Tugenden› der gegenwärtigen Nullerjahre zu verstehen, ist ein Blick auf Kulturepochen sehr hilfreich.

In dem wunderschönen Arbeitspapier Nr. 11 hat die Bochumer Arbeitsgruppe die ‹Ich›-Vorstellungen und Persönlichkeits-Konstruktionen in den Kulturepochen von Romantik, Moderne und Postmoderne mit den drei Fragen «Wer bin ich?», «Was bin ich?» und «Wie bin ich?» endgültig skizziert.

In der Romantik («Wer bin ich?») waren Fragen nach dem ‹Ich› grüblerische Fragen nach dem Ureigenen, dem Eigentlichen, dem Besonderen, dem tief drinnen Liegenden, Fragen nach der Tiefenstruktur also, dem Verborgenen, dem nicht an der Oberfläche Sichtbaren. Die Rede vom ‹Ich› klang so oftmals sehnsuchtsvoll, bangend, hoffend, unsicher, wirsch. Denn es gab sehr festgezurrte soziale Rollen und Positionen, und Riesenkataloge sozialer Schicklichkeiten. Das romantische ‹Ich› war eine Art Befreiung von den Lasten der Menschengemeinschaft. Und dieses befreite ‹Ich› war zu spüren, zu erfahren in der Liebe, im Kunstgenuß und in pantheistischer Naturschau.

In der Moderne («Was bin ich?») waren Fragen nach dem ‹Ich› leicht zu beantwortende Fragen nach Demographie und Normalität. Antworten waren historisch oder positional und dadurch überaus einfach, denn der soziale Raum war klar definiert und überschaubar: «Ich heiße Heinz Kawlacik, bin 32 Jahre, habe Heizungsbauer gelernt, bin geschieden, keine Kinder.» Punkt. Damit war alles gesagt. Denn Menschen mit einem sozial definierten, positionalen ‹Ich› waren absolut akzeptabel. Das ‹Ich› als Position im sozialen Raum, als Titel, als Berufsbezeichnung. Und in der Position gab es eine ruhige und stetige Entwicklung bis zum Endgehalt. Lebensläufe und berufliche Karrieren waren also gefragt. Und genau diese beleuchteten – in aller Dürftigkeit – das Gewordensein der Person.

In der Moderne ist auffällig, daß viele Menschen, wenn sie von sich selbst reden wollen, statt des Wortes ‹Ich› lieber das Wort «man» verwenden. Da in den Nullerjahren der Spätmoderne Stilelemente der Romantik, Moderne und Postmoderne als Kulturmix beliebig angewandt und kombiniert werden können (vgl. das oben genannte Arbeitspapier Nr. 11), gibt es auch heute noch viele ältere Menschen, die stetig moderne «man»-Formulierungen einbringen. Das klingt sehr lustig, richtig altmodisch: «Nun, man weiß ja, was man in einer solchen Situation fühlt!» Herrlich! Ach, wie altbacken. Ein ‹Ich› verliert sich im «man» der Schicklichkeiten und des gesunden Menschenverstandes. Tja, das war einmal.

In der A-Historizität der post-postmodernen Nullerjahre («Wie bin ich?» Besser noch: «Wie bin ich drauf?») nun finden wir flüchtige soziale Räume, flüchtige soziale «Bindungen», flüchtige Jobs. Das ‹Ich› wird zum ebenfalls flüchtigen, immer wieder neu herzustellenden Gesamtkunstwerk, dem es jeweils um den momentanen Zustand, um die aktuelle Befindlichkeit, um die soeben erlebte Aufregung oder Langeweile geht. Und Schicklichkeiten sowie überhaupt irgendwelche Fragen moralischer Art haben ausgedient. Das muß jeder für sich selbst entscheiden, was schicklich ist.

Leider hat die sogenannte ‹Postmoderne› viele ihrer Versprechungen nicht einlösen können, und so stecken wir heute, in den Nullerjahren, in einer grauenhaften Spätmoderne fest, denn das Monster, die Moderne, der finale Kapitalismus, ist zurück gekehrt mit finanziellen und sozialen Folgen, die nicht mehr beherrschbar sind. Und als schäbiger Rest aus der verblichenen Postmoderne bleibt der gleichsam mundane Anspruch, ja die Anspruchsunverschämtheit, ein ‹Ich› zu haben.


Als ‹Ich› in den Nullerjahren (1): Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche

Netzwerkideologien der 80er und 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts haben sich auf eine fatale und höchst desillusionierende Weise bewahrheitet: Der vernetzte Konsumnachwuchs geriert sich in der virtuellen Welt als Benutzerprofil in allen möglichen Verzeichnissen und in der ‹wirklichen› Welt als Benutzeroberfläche.

Zunächst zur Kleidung, zum ‹Outfit›: Kleidung war zu allen Zeiten eine entscheidende Variable demographischer Fremd- und Selbstsegregation. Es kommt aber in den Nullerjahren einiges dazu, denn die ohnehin illusionäre Grenze zwischen Konsumenten und Warenwelt ist verwischt. Ein ‹Ich› steht heute der Warenwelt nicht mehr fassungslos gegenüber, es ist Teil der Warenwelt geworden, es ist selbst Ware, und mit Unterstützung seiner vielen Kunden- und Payback-Karten gar eine ausspionierte Ware.

Identität und Konsumorientierung sind austauschbare Begriffe geworden. Nichts ist heute einfacher als Produktplazierung am Körper des ‹Ich›. Das ‹Ich› ist Werbefläche. ‹Ich› und Marke werden eins. Markennamen oder Konsumpräferenzen werden auf der Brust des ‹Ichs› herumgetragen. Wer kann es sich leisten, keinen Firmennamen bei sich zu führen, ja selbst der Firmenname zu sein? Wird das ‹Ich› zum Markenmix? Ja. Gibt es das ‹Ich› nur noch als höchst individuellen Markenmix? Ja.

Nun zur anderen Oberfläche, der Haut. Lieber Leser, liebe Leserin, begleiten Sie uns auf einem kleinen Spaziergang durch die Einkaufsmeile einer Großstadt. Und sehen wir uns junge Menschen an. Was sehen wir, über den allfälligen Markenmix der angesagten Kleidung hinaus? Richtig: Viele kleine Metall-Applikationen, Klammern und Durchstechungen in verschiedenster Ausführung, in Augenbraue, Nase, Ohr und Lippe. Auch in der Zunge? Klar. Dann sehen wir auch noch Tätowierungen aller Art. Die Konstruktion einer Benutzeroberfläche des ‹Ich› scheint heute überaus aufwendig zu sein. Und, klar, heute kriegen Mädchen mit 16 Jahren eine Brustvergrößerungsoperation geschenkt, zu Weihnachten. Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche? Könnte sein.

Stellen wir uns ganz schnell eine aufgebrezelte Pop-Ikone der Gegenwart vor und sofort ist uns klar, daß das ‹What you see is what you get Prinzip› hier voll greift: Alles, was diese Ikone zu bieten hat, ist sofort sichtbar. Sie ist ihre Benutzeroberfläche. Sonst nix. Es gibt keine Geheimnisse, keine Tiefenstruktur, nichts Unergründliches, nichts Verborgenes. Vielleicht sind im Moment ihres Anblicks ein paar sekundäre Geschlechtsmerkmale noch nicht vollständig enthüllt und das anwesende Männer-Publikum dürfte zu Recht etwas von «Ausziehen! Ausziehen!» brüllen. Das kann sein, das liegt daran, daß die Ikone und ihre Benutzeroberfläche eins sind. Wer sich mit ihr «einläßt», weiß was ihn erwartet.

Eine Maske ist eine Maske, wenn sie etwas verhüllt, und sie setzt ein Gesicht voraus. Welche Gesichter stecken in den Nullerjahren hinter einer gestylten Maske? Was steckt hinter der gezeigten Oberfläche? Lieber Leser, liebe Leserin, Sie müssen jetzt sehr stark sein: Nichts! Die Maske ist das Gesicht. What you see is what you get. Das war's schon. Mehr ist nicht drin.

Das ‹Ich› in den Nullerjahren macht sich also sichtbar, zweifellos, verzweifelt, ohne Überraschung. Und ganz ehrlich, lieber Leser und liebe Leserin, den meisten ebenfalls aufgebrezelten Männern in den Nullerjahren würde genau die oben beschriebene Benutzeroberfläche völlig genügen, als Vorbild oder Objekt des Begehrens. Denn Sprechen gehört nicht zur Oberfläche, nur das Aussehen, das Styling. Gut, vielleicht noch Geräusche machen, aber Sprechen? Nein. Sprechen? Worüber denn?

Die Computermetapher trägt also ganz gut: In der Moderne mußte man geheimnisvolle Codes eingeben, um das Innenleben eines Computers anregen zu können. Und in Romantik und Moderne waren – nicht nur im rekursiven Spiel des Begehrens, des Nahens und Fernens – geheimnisvolle soziale Codes notwendig, um hinter die Camouflage, hinter die Versteckspiele eines ‹Ich› schauen, ja um das ‹wahre› Gesicht eines ‹Ichs› gewahren zu können oder zu dürfen. Heute ist alles schon zu sehen. Das ‹Ich› als sein eigener Bildschirm.

In der Romantik hatte ein ‹Ich› eine Tiefenstruktur, ein Geheimnis, ein Sehnen, Unerklärliches, Rätselhaftes: Was wir sahen, war allerhöchstens die Spitze eines Eisberges. Eine wunderschöne Vorstellung. Ob es so war? Ach, laßt uns träumen! In der Moderne hatte ein ‹Ich› eine Positionswürde, eine Respektabilität, die in aller Regel auf einer (formalen, nicht wirklichen) Ausbildung, auf Wissen und Erfahrung beruhte. Und in den Nullerjahren? Das ‹Ich› zeigt Oberfläche! Kein Eisberg weit und breit! Das ‹Ich› als flächige Eisscholle. Alles sichtbar! Das ‹Ich› wirbt für sich selbst, es ist sein eigenes Werbeplakat, sein eigenes Werbe-Video. Zweidimensional. Und dies bedeutet: Das ‹Ich› ist Inszenierung. Das ‹Ich› ist Veranstaltung. Das ‹Ich› sieht sich als Objekt, welches meistbietend zu verkaufen ist. Das ‹Ich› als einzigartige, individuelle und unter Schmerzen gestaltete Benutzeroberfläche, als Showroom, als Ausstellungszone, als Messestand auf der täglichen ‹Ich›-Messe, als Wirtschaftsstandort, als Kampfzone, ja als Standortvorteil, wenn es denn entsprechend aussieht und gut ‹aufgestellt› ist. Alles klar? Ja Guido! Wir haben verstanden!

Paul Valéry sagte einmal: «Nichts ist so unergründlich, wie die Oberflächen.» Wir aber sagen: «Nichts ist so ergründlich, wie die Oberflächen.»


Als ‹Ich› in den Nullerjahren (2): Abschied von der Pólis

Die Flüchtigkeit sozialer Räume, die auffallende Flüchtigkeit sozialer Bindungen und die sich ausdehnende Nomadisierung in der Arbeitswelt haben für das ‹Ich› in den Nullerjahren sowie für einen final-kapitalistischen Arbeitgeber große Vorteile. Leider weiß das ‹Ich› der Nullerjahre nicht, daß dieser Vorteil ein Nachteil ist, woher auch? Beide finden die Möglichkeit, daß aus einer demütigen, modernen, positionalen Stetigkeit moralische Ansprüche und Forderungen entstehen könnten, überaus lästig und unangemessen. Denn gerade die o.g. Rede vom «man» verweist ja auf soziale Bezüge, auf andere Menschen in gleicher Lage. Und dies klingt verdächtig nach Gemeinsamkeit, nach Solidarität, nach Gewerkschaften, ja, nach Sozialismus! Schrecklich. Teufelszeug! Das ‹Ich› der Nullerjahre ist also konsequent und will mit anderen Leuten nichts mehr gemein haben. Es ist sich selbst genug. Es ist auf den final-kapitalistischen Endbegriff von der ‹Eigenverantwortung› herein gefallen. Und so klingt die Rede vom eigenen ‹Ich› oftmals klar und sicher, kurz ab, unwirsch, denn was gibt es denn da zu erläutern und zu erklären? «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.» So ist es.

Das hat aber Konsequenzen: Denn dadurch, daß es dem ‹Ich› erlaubt ist, permanent von sich selbst als «persönlichem» ‹Ich› zu sprechen, sich unter Applaus als Solitär-Ich herausstreichen zu dürfen, ist es als soziales ‹Ich›, als Institution oder Veranstaltung, die einer sozialen Gemeinschaft, einer Pólis, bedarf, abgeschafft! Ansprüche kann nur noch ein Einzelner stellen. Und so landet das ‹Ich› der Nullerjahre, ohne es zu merken, im Wahlprogramm der Partei, die sich einen unbedingten und grenzenlosen Kapitalismus wünscht. Wie praktisch! Raffiniert? Ja.

Im finalen Kapitalismus der Spätmoderne stören Personen, die ein stetiges, positionales ‹Ich› für sich reklamieren. Was soll das Kapital mit denen machen, wenn es sie «umsetzen» oder «freisetzen» will? Die Arbeitswelt ist mittlerweile so flexibel organisiert, daß es keine Stetigkeit und keine dauerhaften Positionen mehr gibt und geben kann. Man kann sich als ‹Ich› auf so etwas nicht mehr berufen. Bewegung ist alles. Allemal besser als moderne Statik ist ein flexibler Mensch ohne eigentliche Stetigkeit, ohne ‹Ich›, der aber zu allen Zeiten Redefiguren vom ‹Ich› überzeugend im Munde führen kann.

Um es ganz einfach auszudrücken: Man gibt den Menschen in den Nullerjahren die Redefiguren vom ‹Ich›, nachdem man ihnen ihr ‹Ich› genommen hat. Ein «Na gut, ich kann jetzt wirklich nur für mich sprechen!», oder ein «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» klingt in den Ohren des Kapitals wie Engelsmusik. Denn wer so etwas sagt, der meint auch: «Also, wenn wir hier einen Betriebsrat bräuchten, dann hätten wir wohl irgendwo was falsch gemacht!» Tja, das meinen dann die anderen Menschen mit ihrem einzigartigen ‹Ich› auch. Praktisch? Ja.


Als ‹Ich› in den Nullerjahren (3): Abschied vom Du

Nachdem wir skizziert haben, wie wunderbar die inflationäre Verwendung der Metapher vom eigenen ‹Ich› mit den Zielen des finalen Kapitalismus übereinstimmt, müssen wir nun einmal darauf schauen, was geschieht, wenn zwei Personen, die mit einem ganz persönlichen ‹Ich› ausgestattet sind, aufeinandertreffen. Wie sieht der Diskurs aus? Gibt es eine mögliche Beziehungs-Installation jenseits der beiden ‹Ich›-Präsentationen? Gibt es eine Schnittmenge? Tja, was meinen Sie, lieber Leser und liebe Leserin? Hören wir zum Einstieg mal wieder einfach zu. Ein ‹Ich› spricht. Diesmal ist es Anni Friesinger, Weltmeisterin im Eisschnelllauf. Sie sagte zu Beginn der Nullerjahre in der Süddeutschen Zeitung:
«Ich bin so, wie ich bin: Man kann mich lieben, man kann mich hassen. Ich spreche aus, was mich bewegt, offen und ehrlich. Und wenn jemand ein Problem damit hat, soll er es mir sagen.»
So allmählich kommt uns das bekannt vor. Das ist die neue ‹Ich›-Haftigkeit, die angesagte ‹Ich›-Haltigkeit. Wir aber schauen näher hin und grübeln: Da ist also ein ‹Ich›, das ist so, wie es eben ist. Man kann es lieben oder hassen. Das macht dem ‹Ich› nichts aus, das kann das ‹Ich› nicht stören, nicht beeindrucken, nicht vom Weg abbringen, denn das ‹Ich› hat sich ja und ist, wie es eben ist. Stellen wir uns mal vor, jemand sagte zu diesem ‹Ich›: «Ich liebe Dich!» Mögliche Antwort: «Ist doch Dein Problem!» Oder: «Ist doch schön für Dich.» Vielleicht sagt auch jemand zu diesem ‹Ich›: «Ich hasse Dich!» Mögliche Antwort: Richtig! Dito. Was ist da los?

Hier ist mein ‹Ich›, und da bist Du. Hast Du auch ein ‹Ich›? Weiß ich nicht. Geht mich auch nichts an. Ist Deine Sache. Denn ‹Ich› bin ‹Ich›. Und Du bist für Dich. So ist das. Ist es so? Nein, so ist es nicht! Denn ohne die Anderen, ohne ein Du, gäbe es das ‹Ich› gar nicht, denn ohne soziale Folie, ohne einen Textrahmen, ist das ‹Ich› nichts!

Und natürlich ist das ‹Ich› offen und ehrlich. Damit ist gemeint, alles was diesem ‹Ich› an Sprachfiguren aus dem Mund purzelt, purzelt dem ‹Ich› aus dem Mund, denn es mußte mal gesagt werden. Wahrheitsgehalt für das ‹Ich›? 100 %. Und wenn es mal ein Problem gibt oder jemand anderes ein Problem mit diesem ‹Ich› hat? Ist es nicht das Problem des ‹Ich›. Denn wen interessiert das? Niemanden. Das ‹Ich›? I wo. Der Problemempfinder kann dem ‹Ich› seine Problemempfindung mitteilen, klar, nur, was verändert das? Nichts! «Ich lasse mir nicht verbieten, als Außenminister die Interessen Deutschlands im Ausland zu vertreten!» Hallo Guido? Wir haben verstanden!

Das ‹Ich› bleibt ‹Ich›. Ach, herrlich! Das ‹Ich› ist fein raus. Das ‹Ich› macht, was es will. Die Welt da draußen wird spielend abgetrumpft. Der Rest, die «Umgebung», ist Kulisse, Staffage, Bühne. Es gibt überhaupt keinen sozial relevanten Raum mehr, nur noch einen ‹Ich›-Raum. Klar, nervend ist schon, daß dem ‹Ich› manchmal irgendwas im Wege steht, Wirklichkeit in sozialen Räumen eben, oder angetragene Gefühle, mein Gott, lästig, aber letztlich berührt es nichts und niemanden, das ‹Ich› läßt sich nicht berühren, kann nicht berührt werden, steht außerhalb aller Gemeinschaften, kommt ohne ‹Umwelt› aus, ist für sich. Das ‹Ich› bleibt ‹Ich›, zur Not helfen auch mal Pillen. Ein ‹Ich› empfindet. Wer?


Als ‹Ich› in den Nullerjahren (4): Finale

Fassen wir zusammen, was wir über die Subjektkonstruktion in den Nullerjahren denken, und mit was wir, lieber Leser, liebe Leserin, täglich zu tun haben: In den Nullerjahren der Spätmoderne behauptet nicht nur jeder Mensch, über ein ‹Ich› zu verfügen, welches bei der Auswahl zwischen verschiedenen ‹Dauertiefpreisen› bei ‹Discountern› oder ‹Dauertiefformaten› im Privat-TV radikale Entscheidungen zu fällen in der Lage sei, sondern auch ein einzigartiges Kunstwerk zu sein, welches sich in der besonderen Wahl von Bekleidungen, Applikationen und ‹Verschönerungen› der Körperhülle zeige. Fragen wir uns nur: Ist ein lebendes Kunstwerk auch ein Künstler? Hm. Nein. Die Einzelheiten:

  • Das ‹Ich› der Nullerjahre› sonnt sich in einem ‹Ich›-Glanz und kümmert sich deswegen ganz folgerichtig nur um sich selbst, seine eigenen Angelegenheiten, seinen eigenen kleinen Oikos. Pólis? Was ist das? In der spätmodernen Anomie bleibt nur ein Satz übrig: «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!»
  • Das ‹Ich› der Nullerjahre› hat eine ‹Haltung› nur zu sich selbst – nicht zu ethischen oder ‹höheren› Dingen. Haltlos sucht es Halt bei sich selbst. Wo? Und die angesagten Werbebotschaften des finalen Kapitalismus streicheln und verschlimmern diese ‹totale› Individualisierung mit schmutzigen, schmierigen und asozialen Sprüchen: Ein ‹Ich› will heute ganz selbstredend «Alles! Aber günstig!», denn es sagt sich: «Ich bin doch nicht blöd!» und: «Unterm Strich zähl' ich!»
  • Das ‹Ich› der Nullerjahre› sieht soziale Räume als «Angebote», ereifert sich permanent darüber, daß ihm in diesen Räumen alles mögliche zustehe, und entwickelt so eine überbordende Anspruchsunverschämtheit. Und sollte es in irgendeinem sozialen Raum mal nicht so beachtet oder behandelt werden, wie es dem eigenen besonderen ‹Ich›-Glanz gebührt, dann gibt es eine große Empörung. Am bestem gelingt diese, wenn sie von einer Schmierlappenzeitung oder einem anderen Kloakenmedium aufgezeichnet wird.
  • Das ‹Ich› der Nullerjahre› folgt einer ‹Ökonomie der Aufmerksamkeit›, versucht, sich mit seiner Benutzeroberfläche als Markenartikel zu positionieren und hofft auf einen Treffer in der ‹Ich›-Präsentationslotterie in den einschlägigen Medien. Denn das ‹Ich› der Nullerjahre› hat eines gelernt: Was von der niemals untergehenden Sonne der Medien in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› beschienen wird, ist gut. Und die im Dunkeln sieht man nicht.

  • Lieber Leser, liebe Leserin, glauben Sie an die pervasive Existenz so vieler ‹Ichs›? So vieler Luftgitarren-‹Ichs›? Tja, wir befürchten, je weniger ein ‹Ich› vorhanden ist, je weniger ein ‹Ich› sich als ‹Ich› empfinden kann, desto mehr wird es behauptet und verteidigt werden. Wer ein ‹Ich› hat, irgendwo, tief drinnen, unter der Oberfläche, unsichtbar, kann gelassen und ruhig sein. Wer keins hat, muß ständig davon reden, aufgeregt sein und Ansprüche anmelden. Hallo Guido? Wir haben verstanden!

    Die vielen ‹Ichs› der Nullerjahre plappern klumsige Worte aus der Zentralrede der ‹Ichs› nach und erwerben damit ihre wohlfeile Identität von der Stange. Das beruhigt. Sie gehören dazu. Sommerschlußverkauf des ‹Ich›-Wortes. Winterschlußverkauf der Sätze, die mit ‹Ich› anfangen. «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.» Eine Anspruchsunverschämtheit. «Unterm Strich zähl' ich!» Eine Frechheit!

    Soviel ‹Ich› wie in den Nullerjahren war nie – und gleichzeitig so wenig! Oder anders: Ein ‹Ich› hat man nicht einfach, nein, ein ‹Ich› muß man sich mühsam erarbeiten und verdienen! Wie das? Ach, das ist eine andere Geschichte.


    Schmankerl

    Ach ja, liebe Leser, liebe Leserinnen, statt eines ‹abstrakten› Diskurses über die präpotenten ‹Ichs› der Nullerjahre hätten Sie wohl viel lieber etwas über die mutmaßlichen ‹Inhalte› der spätmodernen ‹Ichs› erfahren, also über deren Verhaltensweisen, Sprachskripte, Gewohnheiten und – wir wagen es kaum auszusprechen – Tugenden in sozialen Räumen. Wir können Ihnen das nachfühlen. Deswegen zitieren wir hier aus einem sachten und achtsamen Text von Norbert Grob [1] Norbert Grob: Westlich St. Louis. In: Bernd Kiefer & Norbert Grob (Hg.) (2003): Filmgenres: Western. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Seite 131 - 137. über einen der wundersamsten Filme von John Ford: Wagon Master (1950). Alles weitere ergibt sich von selbst.

    «Geradezu idealtypisch sind […] noch einmal die Tugenden akzentuiert, die Fords Universum bestimmen: Geradlinigkeit und Klarheit (vs. Eigennutz und Taktiererei); persönliche Entschiedenheit (vs. einzelgängerisches Bemühen); Mut und Entschlossenheit (vs. Feigheit und Zauderei); Solidarität (vs. Verrat); Treue (vs. Untreue); Respekt und Lauterkeit (vs. Zudringlichkeit und Lügerei); Handeln für die Gemeinschaft (vs. Agieren um des eigenen Vorteils willen).»

    Hallo Guido? Hast Du verstanden?

    Finis.



    Erstellt: 18. März 2010 – letzte Überarbeitung: 19. März 2010
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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