BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Alle Menschen werden Brüder! Oder auch nicht.»
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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Einführung

Es ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Das Ende des Zeitalters der Aufklärung und der Säkularisierung ist nah. Es geht nach rechts. Wenn wir die Ziele der Bewegungen in verschiedenen Ländern ernst nehmen, dann wird sich die ‹Europäische Union› auflösen und wir werden wieder Nationalstaaten haben, die aufgrund ihrer zu erwartenden undemokratischen Strukturen dann ohne weiteres auch wieder Krieg führen möchten. Gegen den Anderen. Gegen das Andere.

Bei vielen Gesprächen in der Redaktion haben wir uns immer wieder gefragt, welcher Gedanke eigentlich das linke politische Lager und welcher das rechte politische Lager eint. Und damit auch: Welcher Gedanke die beiden Lager unabdingbar trennt. Und wir kamen vor kurzem auf eine frappierende Idee. Wir waren zunächst über die Einfachheit und Eleganz dieses Gedankens, dieser Theorie, dieser Weltformel verblüfft und prüften verschiedene Anwendungen. Und schließlich wurde es für uns immer deutlicher, daß der Gedanke triftig zu sein scheint. Wir wählen im folgenden nur drei bedeutende historische Momente, in denen der Gedanke jeweils entworfen wurde. Die Hintergründe und die jeweiligen Entwicklungen dieses Gedankens sind hier nicht von Bedeutung. Wichtig ist, zu verstehen, was wir verlieren werden, wenn es unaufhaltsam nach rechts geht. Auf geht’s.


1776

Der erste Entwurf der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, wie er den Abgeordneten beim ‹Second Continental Congress› am 2. Juli 1776 präsentiert wurde:

«We hold these truths to be sacred & undeniable; that all men are created equal & independent, that from that equal creation they derive rights inherent & inalienable, among which are the preservation of life, & liberty, & the pursuit of happiness.»


1789

Während der ‹Französischen Revolution› wurden immer wieder Sinn- und Kampfsprüche erfunden, um die Absichten der Revolutionierenden gegen das Establishment zu verdeutlichen. Sehr bekannt geworden ist

«Liberté, Égalité, Fraternité»,

also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wobei ‹Brüderlichkeit› naturgemäß eine ‹Schwesterlichkeit› einbezieht. Vermutlich trifft die Übersetzung ‹Freiheit, Gleichheit, Solidarität› den Sinn am besten.

Es gab auch noch andere Kampf- und Sinnsprüche, etwa diesen:

«Unite et Indivisibilite de la République. Liberté, Égalite, Fraternité, ou la Mort.»

Einheit, Unteilbarkeit der Republik; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder der Tod.


1949

Im Artikel 1 (1) des Grundgesetzes heißt es:

«Die Würde des Menschen ist unantastbar.»

Und in Artikel 3 (3):

«Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.»


2016 (links)

Die Linken (und Liberalen) nehmen die wunderbare Unabhängigkeitserklärung der USA, den Kampfspruch der französischen Revolution und das Grundgesetz ernst, für sie ist die Würde jedes Menschen unantastbar. Für sie ist kein Mensch illegal, kann kein Mensch illegal sein. Sie halten sich an die ‹Europahymne›, sie glauben an das ‹Alle Menschen werden Brüder› aus der ‹Ode an die Freude› aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens.

Aus dieser Überzeugung entwickelte sich über die Jahrzehnte nach dem tausendjährigen Reich eine ‹Political Correctness›, in der es vor allem darum ging, die Verschiedenheit, die Diversität menschlichen Seins und Handelns zu unterstützen. Das Wort ‹Multikulti› trifft das sehr gut. Dazu kamen in den letzten Jahren noch Genderfragen, es ging um die soziale Konstruktion des vermeintlich ‹Männlichen› und ‹Weiblichen›, bis hin zur Schaffung von Rechten für Homosexuelle und Transgender-Menschen.

Ja, diese politische Richtung hat gar ‹Gleichstellungsbeauftragte› erfunden und etabliert, weil Männer und Frauen im finalen Kapitalismus eben nicht gleich behandelt werden. Sie propagiert auch Frauen-Quoten in Institutionen.

Das deutet schon darauf hin, daß die politische Linke und die Liberalen sich in ein Menschsein hinein fühlen können, insbesondere in ein unglückliches Menschsein. Sie haben Mitleid mit dem Prekariat, mit Flüchtlingen, mit Obdachlosen, mit Leidenden. Und sie engagieren sich, wie und wo auch immer.

Dazu paßt, daß sie die Erde für alle erhalten wollen. Deswegen kümmern sie sich engagiert um die Probleme der Umwelt und versuchen, den drohenden Klimawandel aufzuhalten.


2016 (rechts)

Für das rechte politische Lager kann die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Parole der französischen Revolution und das Grundgesetz nur von ‹Gutmenschen› stammen, die keine Ahnung haben. Was da propagiert wird, kann nur Unsinn sein. Die Rechten lehnen es ausdrücklich ab, alle Menschen als gleich, ja gar als Brüder zu sehen. Für die Rechte gibt es legale und illegale Menschen. Und das Grundgesetz gilt nur für ‹Deutsche›, wobei noch die Frage bleibt, wen sie als ‹Deutschen› anerkennen würden. Die Rechten (und die neue Bewegung der ‹Identitären›) sprechen auch gerne vom Volk, welches vor fremden Einflüssen zu schützen sei. Und immer schwingt im Bedeutungsraum mit, daß die eigene soziale, ‹völkische› oder biologische Gruppe (Rasse) allen anderen überlegen sei. Das ist reiner Chauvinismus, aus dem schon immer Kriege entstanden sind und aus dem weitere Kriege entstehen werden.

Rechts zu sein, heißt also: Unterschiede machen, diskriminieren, und dann das als das Andere erkannte abzuwerten. Wie nahe liegt hier der Faschismus, mit seinem überwältigenden Nationalismus, dem absoluten Führerprinzip, der Diktatur. Faschismus kann es nur geben durch die Definition des Anderen und die gleichzeitige Abgrenzung von ihm. Erst wenn das Andere abgewertet wurde, darf es mit Recht bekämpft und getötet werden. Die Rechten suchen also in der Abgrenzung ihre Stärke, Monokulti versus Multikulti. Einfalt versus Vielfalt.

Sagen wir es so, und damit kommen wir zu der verblüffend einfachen Weltformel: Die Rechten würden gerne die Würde bestimmter Menschen antasten. Denn Würde, Menschenwürde, kann nur das eigene ‹Volk› haben.

Und natürlich hassen sie die ‹Political Correctness›. Was sich da an Hass angesammelt hat, bringt ein Funktionär einer relativ neuen Partei so zum Ausdruck:

«Wir wollen weg von diesem links-rot-grün verseuchten Achtundsechziger-Deutschland.»
(Beifall)
«Statt des Wortes ‹verseucht› könnte man auch sagen: ‹versifft›.»
(Ovationen)


Genderfragen hassen sie ebenfalls. Untersuchungen zur sozialen Konstruktion von ‹Männlichkeit› und ‹Weiblichkeit› halten sie für völlig verfehlt, sie sprechen hier gerne vom ‹Genderwahnsinn›. Sie kämen auch nie auf den Gedanken, Gleichstellungsbeauftragte zu etablieren. Und den Klimawandel (‹Klimawahnsinn›) streiten sie einfach ab.

Und noch ein Punkt, der sich zwangsläufig ergibt, wenn die Würde bestimmter Menschen antastbar wird: Das rechte politische Lager ist mitleidlos. Und das nicht nur an der Oberfläche, nein, auch und gerade im Angesicht des Leids anderer. Das ist ein ganz wichtiger Baustein. Und das geht nur, wenn die leidenden Mitmenschen keine Würde haben, wenn sie eigentlich keine Menschen mit ihren Rechten sind, denn dann brauchen sie auch kein Mitleid. Das paßt. Denken wir nur an die ganzen schändlichen Begriffe (etwa Viehzeuch(sic)), die die Rechte für Flüchtlinge verwendet. In den Begriffen liegt schon die Vernichtung der Würde.

Seltsamerweise nennen sich die Rechten in Anlehnung an die Gutmenschen nicht ‹Schlechtmenschen›. Nein, sie halten sich für Realisten. Sie glauben als einzige die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Andere Wirklichkeitsbetrachtungen können nur Lügen sein.

Kurz: Wir sind sehr froh, diese Weltformel gefunden zu haben. Jetzt geht es darum, ihre Anwendung immer wieder zu prüfen.


Schnelltest

Wir haben uns einen kleinen Test überlegt, der zwischen politisch rechts und politisch links stehenden Leuten trennen soll. Nach der Lektüre dieses kleinen Essays dürfte klar sein, wer hier mit ‹Ja› und wer mit ‹Nein› antworten wird.

«Darf jeder Mensch frei entscheiden, wo und wie er leben, lieben und arbeiten möchte?»



Kommentar

Liebe Frau Devilder, liebe Frau Orheim,

vielen Dank für Ihren neuen Text, dessen Markenzeichen, wie so oft, diese bemerkenswerte Klarheit, ja, diese Fähigkeit ist, eine komplexe Diskussion oder Sachlage auf den Punkt zu bringen. Und als Höhepunkt und Abschluss der ‹Schnelltest›, der mit Hilfe einer einfachen Frage als Lackmustest für die aktuelle Gemengelage fungieren kann. Sehr schön!

Besonders gut gefällt mir, wenn Sie schreiben:

«Rechts zu sein, heißt also: Unterschiede machen, diskriminieren, und dann das als das Andere erkannte abzuwerten.»

Das ist vielleicht die grundlegende Erkenntnis, dass es eine Grenze beim Unterschiede machen für die Linke gibt, und für die Rechte eben nicht. Richard Rorty schreibt, für die Ironikerin sei das Ziel die möglichst umfassende Anwendung des Wortes ‹wir›. Und der Rechten geht es darum, dieses ‹wir› so stark wie möglich zu zersplittern, aufzuteilen, auseinander zu dividieren. Das ist das Grundproblem. Bateson sagt sinngemäß, dass es unumgänglich sei, das Universum in bestimmte Kategorien aufzuteilen, dass aber keinerlei Notwendigkeit bestehe, dies in bestimmter Weise zu tun. Seien wir also links, lassen wir das ‹wir› unversehrt, und lassen wir allen Menschen Menschen-Rechte zukommen. Alles andere folgt doch erst danach.

Übrigens lese ich gerade die Doktorarbeit von Gary Greenberg (dem DSM-Kritiker). Er analysiert darin, dass mit der Erfindung des modernen Individuums ein moralisches Dilemma entstanden sei: Wie ist moralisches Handeln zu rechtfertigen, wenn die ultimative Quelle des ‹Guten Lebens› im Individuum selbst gesucht wird, dass dann ja wiederum als vollkommen frei und beliebig gedacht werden muß? Und er sagt, dass die Erfindung universeller Menschenrechte ein Versuch war und ist, genau dieses Dilemma aufzulösen, indem jedem Menschen ein Wert an sich zugesprochen wird, auch und gerade wenn sich dieser Wert durch keinen Bezug zu einer sozialen Gruppe definiert. Dass Rechte diese Menschenrechte nicht anerkennen ist dann folgerichtig. Sie wollen ihr Bezugssystem über die Menschenrechte stellen und zugleich alle anderen Bezugssysteme negieren. Wie kläglich, wie einäugig, wie kurzluftig ist das denn?

T.P. (zur Zeit Stanford)



Ins Netz gestellt am 19. September 2016
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