BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?»
von Helmut Hansen
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Einführung

Nicht nur die großen überregionalen Tageszeitungen versorgen uns täglich mit Nachrichten über die neuesten wissenschaftlichen ‹Entdeckungen› und ‹Befunde›. Auch Magazine, Lokalblättchen, Frauen- und Männerzeitschriften, ja, alle nur denkbaren Druckerzeugnisse verkünden immer wieder Neues aus der faszinierenden Welt der Forschung. Aus einem «Unser täglich Brot gib uns heute» ist in diesen unseren Zeiten ganz offensichtlich ein «Unsere täglichen Befunde gib uns heute» geworden.

Naturgemäß werden die in den jeweiligen Blättern zitierten Forschungsbefunde je nach den geistigen Möglichkeiten der Journalisten und dem geistigen Anspruch des Blattes aufbereitet. Das Spektrum reicht hier also etwa von Überschriften à la «Deutscher Forscher besiegt den Krebs!» bis zu kleinen eher seriösen Essays mit dem Tenor «Amerikanische Forscher haben festgestellt, daß ... ». Schaut man selbst in den letzteren näher hin, wird in aller Regel nicht klar, was genau nun wie untersucht wurde, dennoch ist bei all' den Lesern und Leserinnen all' dieser Berichten aus der Welt der Wissenschaften in beinahe allen Fällen eines vorauszusetzen: Der Glaube, daß es sich bei den Befunden, über die hier berichtet wurde, tatsächlich um Befunde handelt.

Die Frage ist also sehr interessant, woher alle an diesen Verkündigungen beteiligten Schreiber, die die Nachrichten von den ‹neuen› und aufregenden ‹Forschungsbefunden› ja nur weitergeben, sowie all' die Leser, die sich in ihrer Lektüre aufmerksam den neuesten wissenschaftlichen ‹Erkenntnissen› widmen, wissen, ja, wie sie überhaupt darauf kommen, daß es sich bei den zitierten Forschungsbefunden wirklich um Befunde handelt. Oder anders: Wieso glauben fast alle Menschen, daß Forscher und Forscherinnen eine besondere Gabe haben und über besondere Möglichkeiten verfügen, der Welt Daten abzuringen und so über den Status diverser Wirklichkeit befinden zu können? Wieso glauben fast alle Menschen, daß Wissenschaftler Wissen schaffen? Wieso trauen Nicht-Wissenschaftler Wissenschaftlern über den Weg?

Wir sehen, lieber Leser und liebe Leserin, mit jeder Nachricht über ‹Forschungsbefunde› in irgendeinem Blättchen wird nicht nur an bestimmte Mythen appelliert, nein, diese Nachricht selbst wäre ohne den Rekurs auf diese Mythen - uninteressant, ja, belanglos gar. Stellen wir uns also die gute Frage, welche unabdingbaren Mythen hier täglich bewegt werden, ohne die es ein Vertrauen in die Bedeutsamkeit von Forschungsbefunden - und damit einen Markt für dieselben - gar nicht geben könnte. Und wenn wir einige dieser Hintergrundmythen tatsächlich skizzieren können, welche Antwort wird es dann auf die Frage geben: Worüber befinden eigentlich Forschungsbefunde?


Zwischenspiel

Mit den Aussagemöglichkeiten empirischer wissenschaftlicher Untersuchungen und den vielen die wissenschaftliche Forschung umrankenden Mythen hat sich die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› schon oft beschäftigt, schließlich hat sie sich ja einst - vor langer Zeit - als Gegenbewegung zur herkömmlichen empirizistischen Psychologie gefunden. Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, einmal en détail verfolgen möchten, was wir etwa an der wissenschaftlichen Vorgehensweise der traditionellen Psychologie auszusetzen haben, lesen sie unser Arbeitspapier Nr. 1. Gedanken zur Erkenntnistheorie sowie zur Wissenschaftstheorie und Methodologie finden Sie in der Rubrik Wahrheiten und Wirklichkeiten des Skepsis-Reservates. Wie in der empirischen Psychologie «gemessen» wird, können Sie in dem Traktätchen über die Psychometrie nachlesen. Und eine sozial-konstruktivistische Forschungsperspektive für die Psychologie finden Sie im Arbeitspapier Nr. 10.

In diesem kleinen Traktat möchte ich nur zwei - allerdings äußerst mächtige - Mythen herausgreifen, die die nachlässige Rezeption und die unkritische Verbreitung von Forschungsbefunden aller Art ermöglichen und erleichtern: die ‹Ideologiefreiheit› und die ‹Objektivität› wissenschaftlicher Forschung. Doch beginnen werden wir mit einer kleinen notwendigen Propädeutik: Der Herbeizauberung eines wissenssoziologischen Kontextes.


Wissenssoziologie

Eine Soziologie des Wissens? Was soll das sein? Ist unser Wissen nicht wissenschaftlich gesichert, also objektiv und damit gerade unabhängig von sozialen Gruppen, vom Soziologischen? Tja, genau das ist ein weit verbreiteter Mythos, der wesentlich zur Reputation derjenigen, die Wissenschaft betreiben, beiträgt. Eben dieser Mythos erzeugt eine quasi-religiöse Aura um die professionell Wissen-Schaffenden und eine Art Erhabenheit in der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ein Wissenschaftler zu sein, das ist schon was. Ein Wissenschaftler steht, so der Volksmund, ganz alleine vor seinen von ihm tief empfundenen Forschungsaufgaben - und kann nichts anderes, als täglich der Wahrheit ‹empirisch› hinter die Schliche zu kommen, um ihr dann auf der Spur zu bleiben.

Einer der Väter der in den 1920er-Jahren entstandenen Wissenssoziologie war - neben Max Scheler - Karl Mannheim (1893 - 1947), ein britischer Soziologe österreichischer Herkunft. Ganz allgemein gesprochen beschäftigt sich die Wissenssoziologie mit dem «Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf Bewusstseinsinhalte und Denkformen». [1] Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004. Nun, dies erinnert uns an die These von Karl Marx, wonach das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimme. Übersetzt in unseren Kontext heißt das, daß auch Wissenschaftler ihre Begriffe, Fragen und Themen, ja die ‹Logik ihrer Forschung› aus ihrem bürgerlichen Alltag schöpfen, woher sonst? Und gleich ist uns klar, daß sich Wissenschaftler keine Begrifflichkeiten und keine Forschungsfragen vorstellen können, die über ihre von ihrem historisch-gesellschaftlich bestimmten und bedingten Sein gezogenen Grenzen hinausgehen, wie auch? Und Wissenschaftler können in ihren ‹Befunden› auch nichts finden, das sie sich nicht vorstellen können. [2] Ich empfehle hier die Lektüre folgender beiden Bücher: Ludwik Fleck (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Und: Luwig Fleck (1983): Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Karin Knorr-Cetina, eine Wissenssoziologin der Jetztzeit, die wir bereits in unserem Arbeitspapier Nr. 7 erfreut würdigten, hat in ihrem großartigen ‹Standardwerk› [3] Karin Knorr-Cetina (1984): Die Fabrikation von Erkenntnis : Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. - Frankfurt am Main : Suhrkamp. und in vielen folgenden Untersuchungen immer wieder zu zeigen versucht, wie selbst in den ‹Naturwissenschaften› bestimmte gesellschaftliche Meinungen und Überzeugungen über begriffliche Vorfestlegungen die zu erwartenden ‹Forschungsbefunde› beeinflussen. Sie sagt: «Warum sollen unsere interessenverankerten, instrumentell geschaffenen Wissenswelten irgendeine der Natur inhärente Struktur widerspiegeln? [...] Wissenschaftliches Wissen, sagt Feyerabend, ist nichts als eine Familie von Glaubenssätzen, gleich jeder anderen Familie von Glaubenssätzen. Systeme von Glaubensinhalten entwickeln sich in einem historischen und sozialen Kontext. Daher ist das Studium des ‹Faktischen› gleich dem Studium der Geschichte und der sozialen Welt [4] Karin Knorr-Cetina (1984) a.a.O., Seite 18.

Haben Sie eine Vorstellung davon, lieber Leser und liebe Leserin, wie befreiend ein wissenssoziologischer Blick auf das Wissenschafts-Geplänkel sein kann? [5] Aficionados empfehle ich noch diese beiden Bücher: Paul Feyerabend (1981): Erkenntnis für freie Menschen. Veränderte Ausgabe. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Und: Paul Feyerabend (1984): Wissenschaft als Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ja? Dann werden Sie auch an den folgenden beiden exemplarischen Aufklärungen ihre Freude haben.


Zur Ideologiefreiheit von Wissenschaft

Schauen wir uns also zunächst den Mythos an, der in unserem Gemeinwesen in allererster Linie und mit größter Unbefangenheit täglich transportiert wird: In den Wissenschaften gibt es keine Ideologien! Gemeint ist hier: Zum einen sind Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen selbst völlig unbeeindruckbar von Ideologien aller Art. Und zum anderen spiegeln Forschungsbefunde niemals eine Ideologie wider, sondern immer nur die Wahrheit und Wirklichkeit eines ‹untersuchten› Sachverhaltes. Habe ich ein wenig übertrieben? Oh, nein!

Während der gesunde Menschenverstand in unseren Breiten eine ‹Ideologie› [6] Zu unseren Breiten: Der Mythos von der Ideologiefreiheit wissenschaftlichen Forschens hat eine faszinierende Entsprechung in der Mythe von der Ideologiefreiheit politischer Parteien, die eher ‹rechts› orientiert sind. Für diese Parteien und für die mit ihnen verbundenen Helfershelfer in den Medien sind immer nur Vertreter oder Anhänger von «Rot-Grün» ideologisch ‹fixiert›. Vertreter oder Anhänger von CDU/CSU beispielsweise können gar nicht einer Ideologie anhängen, da sie ausschließlich die ‹Wahrheit› artikulieren. So etwas muß man in einem großen Gemeinwesen erst einmal medienmäßig hinkriegen. Das dauert Jahrzehnte, und daran waren viele spin-doctors beteiligt. Und sind es noch. Immer wieder. für etwas erkennbar von der Wahrheit Verschiedenes hält, befassen sich die Wissenssoziologie und der soziale Konstruktivismus mit der Ideologiehaftigkeit des Denkens überhaupt. Hier wird gesagt, daß man nicht keine Ideologie haben kann. Doch fragen wir uns: Was ist überhaupt eine Ideologie? Nun, darunter verstehen wir im allgemeinen Bürgertum Vorstellungen und Interpretationen von der Welt, die von spezifischen Interessen geleitetet sind und die somit die eigentlich zu erwartenden normalen Sichtweisen verfälschen. [7] Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Um im politischen Alltag zu bleiben: Die Vertreter von «Rot-Grün» sind nach Ansicht ihrer Gegner von Interessen geleitet, und damit gilt ihre Sichtweise als verfälscht. Die CDU/CSU dagegen verfolgt keine Interessen, da sie Deutschland einfach nur dienen will. Diese anrührende Sichtweise kann selbstredend nur richtig sein. Und alles, was sich daraus ergibt, ist anrührend unverfälscht.

In einem weiteren Sinn, insbesondere aus wissenssoziologischer Sicht, aus einem marxistischen Verständnis und aus einer sozial-konstruktivistischen Perspektive heraus ist die ‹Aneignung der Welt› im Rahmen einer Ontogenese ohne eine Ideologie und damit ohne die Vermittlung der in einem bestimmten sozialen Raum herrschenden Weltsicht gar nicht denkbar. Niemand ist eine Insel. [8] Noch einmal: Eben weil eine Sozialisation ohne zumindest eine Rahmen-Ideologie nicht denkbar ist, kommt es in der Politik darauf an, immer wieder klar zu machen, daß diese eine Ideologie eben keine Ideologie ist. Damit erscheinen die eigenen Ziele und Pläne stets ideologiefrei zu sein, und man kann mit hehrem Pathos verkünden, daß genau diese Ziele und Pläne eigentlich von allen normalen und gesunden Bürgern vertreten werden müßten. Das ist der Trick. Ist das klar?

Und nun zurück zu unseren empirisch arbeitenden Wissenschaftlern. Wenn wir dem Mythos von der Ideologiefreiheit wissenschaftlichen Bemühens Glauben schenken sollen, dann gehören also Wissenschaftler keiner bestimmten Wissenschaftsschule an, sie vertreten keine bestimmte Forschungsrichtung, sie glauben nicht an bestimmte Zusammenhänge in der zu entdeckenden Welt da draußen und sie haben keine persönlichen Überzeugungen. Ihr Herz ist wasserdicht. Aber ihr Verstand ist immer offen für neue Eindrücke. Unter uns, lieber Leser und liebe Leserin, das ist unmöglich, also Unsinn.

Daß Wissenschaftler gezielt und im Auftrag von Geldgebern nach Daten suchen, die die Interessen eben dieser Geldgeber fördern, oder daß Wissenschaftler bei der Datenerhebung und Datendarstellung betrügen, ist in diesem wissenssoziologischen Zusammenhang nicht der Rede wert. Es geht in meiner Argumentation um etwas viel Grundsätzlicheres.


Zur Objektivität wissenschaftlicher Forschung

Eng verbunden mit dem Mythos von der Ideologiefreiheit wissenschaftlicher Forschung ist der Mythos von der Objektivität wissenschaftlicher Vorgehensweisen. Wenn die Leser und Leserinnen von Forschungsbefunden davon nicht überzeugt wären, würden sie die Befunde vermutlich gar nicht lesen. Schauen wir uns die Mythe ‹Objektivität› näher an.

Objektivität in einem wissenschaftlichen Vorgehen besagt nichts weniger, als daß ein Forscher nicht nur völlig unabhängig von jeder Interessengruppe, jeder sozialen Erwartung und jedem sozialen Raum arbeitet, sondern dazu noch im Rahmen seiner Forschung ganz grundsätzlich niemals als Person, als lebendes Wesen, in Erscheinung tritt. Der Forscher als Subjekt spielt keine Rolle, darf keine Rolle spielen. Beobachtet etwa ein Forscher irgendetwas, so ist seine Person an dieser Beobachtung gar nicht beteiligt, oder anders: Der Forscher guckt gar nicht selber hin, sondern ein in ihm steckender wertfreier homunculus. Wir können auch - einen schon klassisch gewordenen sozial-konstruktivistischen Satz aufgreifend - sagen, daß in den herkömmlichen empirischen Wissenschaften Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden. Das nennt man dann ‹objektives› Forschen. Und selbstverständlich ist dies das Gegenteil eines ‹subjektiven› Forschens. Und, klar, ‹subjektives› Forschen ist immer ideologisch, also interesse-geleitet. ‹Objektives› Forschen ist interesse-los. Schon schließt sich der Kreis.

Nun, schon wenn wir nur ein wenig nachdenken, lieber Leser und liebe Leserin, ist uns schnell klar, daß hier mehrere Pferdefüße im Spiel sind. Ich möchte deswegen kurz zeigen, wie am Mythos von der Objektivität wissenschaftlichen Vorgehens insbesondere durch zwei Tricks gesponnen wird. Zum einen versucht man, den Forscher oder die Forscherin von den Versuchspersonen abzuziehen oder den sozialen Kontakt auf das Allernotwendigste zu beschränken. Am besten wäre es im Rahmen dieser Forschungsideologie also, Forschersubjekt und Versuchspersonenobjekt würden sich gar nicht sehen, damit das Forschersubjekt nicht unnötig durch den Anblick der Versuchspersonenobjekte beeinflußt wird. Das kriegt man in den empirischen Wissenschaften nun ganz einfach so hin, daß man die erfundenen Fragen, die man an die Welt hat, nicht persönlich stellt, sondern zum Beispiel als Fragebogen ausgibt oder hinter einer komplexen experimentellen Apparatur verbirgt. Das hat nebenbei noch den großen Vorteil, daß die Fragen damit für alle Versuchspersonenobjekte gleich sind. [9] Muß ich Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, erklären, daß diese Annahme völliger Unsinn ist? Wie? Nein? Ach, Sie haben bereits den schönen Text von Albertine Devilder über die «Psychometrie» gelesen? Im Skepsis-Reservat? In der Rubrik Tohuwabohu? Na, dann ist ja alles in bester Ordnung!

Der zweite Trick geht folgendermaßen: Damit ein einsamer Forscher nicht das Gefühl bekommt, daß die von ihm erfunden Fragen an die Welt und die von ihm zur Beantwortung dieser Fragen erfundenen Zeichen nicht völlig ‹aus der Welt› sind, fragt er in aller Regel ein paar Kollegen aus dem Nebenzimmer, ob sie ihn nicht unterstützen könnten. Er erklärt ihnen sein Codierungssystem und bittet sie, nach einem ausführlichen Training, bestimmte Zeichen möglichst auf ein und dieselbe Art zu erkennen, also zu deuten. Wenn das gelingt, wenn die geschulten Einschätzer tatsächlich die verschiedenen vorher festgelegten Zeichen einigermaßen übereinstimmend codieren, dann ist der Forscher glücklich und zelebriert die Entsubjektivierung seiner eigenen Erkenntnisprozesse: Zunächst spricht er von einer hohen ‹Inter-Rater-Reliability› und dann von einer wunderschönen Übereinstimmungsobjektivität. Denn eins steht ja fest: Hier haben mehrere Leute objektiv das selbe gesehen!

Haben sie das? Nun, was bei diesem zweiten Trick nicht bedacht wird, ist, daß die so konstruierte Übereinstimmungsobjektivität ein deutlicher Beleg für die Angemessenheit wissenssoziologischer Überzeugungen ist. Denn was geschieht hier? Eine soziale Gruppe definiert, was sie sehen will, auf was sie achten will, was sie in gleicher Weise als wirklich ansehen will. Tja, sagen wir es abschließend so: «Objektivität dient zur Vereinheitlichung der Sprechweise einer Gruppe von Individuen, so daß gemeinsame Projekte möglich werden.» [10] Torsten Padberg (1998): Zur Rolle der Objektivität Ende des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Psychotherapieforschung. Diplomarbeit, Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum. Mehr ist nicht drin.

Der zweite Trick zur Erzeugung des Eindrucks, wissenschaftliche Forschung sei ‹objektiv›, erweist sich somit als zu tricky. Denn daß mehrere Leute etwas da draußen in der Welt übereinstimmend auf ähnliche Weise sehen, nachdem sie ausführlich trainiert wurden, eben dies da draußen in der Welt übereinstimmend auf ähnliche Weise zu sehen, bedeutet doch nicht, daß sie das, was sie da gesehen haben, so gesehen haben, wie es wirklich ist!


Wer spricht?

Übertreibe ich, wenn ich sage, daß heute die ‹Wissenschaft›, neben dem ‹Markt›, als neue Gottheit angebetet wird? Ich glaube nicht. So haben wir uns in diesem kleinen Traktat diesem Gott genähert. Und wir haben gesehen, wie «Ideologiefreiheit» und «Objektivität» als von den empirischen Wissenschaften angeführte Kriterien für Wissenschaftlichkeit nur innerhalb der Denkstile gelten, die die empirischen Wissenschaften selbst begründen. Oder anders: Was als «wahr» gelten und wie dies überprüft werden soll, wird von den empirischen Wissenschaften selbst definiert, indem sie eine ‹Ideologie der Ideologiefreiheit› kreieren. Wir sollten uns davon nicht beeindrucken lassen und den empirischen Wissenschaften nicht mehr Macht und Autorität einräumen, als es uns beliebt. Aber das muß schließlich jeder selbst entscheiden. Spätestens dann, wenn ein Angehöriger dieses ‹wissenschaftlichen› gesellschaftlichen Subsystems - sagen wir mal ein Mediziner - uns zu erheblichen Eingriffen an unserem eigenen Leibe rät.

Kommen wir auf die Frage zurück, über was Forschungsbefunde denn nun befinden. Die Antwort liegt nahe: Forschungsbefunde befinden nicht über die mit den Befunden behauptete Wirklichkeit, sondern über die Persönlichkeit des Forschers selbst, seinen aktuellen sozialen Raum als Wahrheitsraum, seine Welterzeugungsgemeinschaft, der er angehört und damit über seine Sozialisation. Forschungsbefunde befinden über das spezifische Gewordensein eines Forschers in Bezug auf das, was für ihn - wenn er dann Wissenschaftler geworden ist - als Wahrheit zu gelten hat. Forschungsbefunde zeigen also auf einen Menschen in einem sozialen Raum. Und sie erklären - leider - nicht die Welt, sondern warum ein Wissenschaftler hier gesucht hat - und nicht da.

Die Frage muß also nicht heißen «Über was befinden eigentlich Forschungsbefunde?», sondern «Über wen befinden eigentlich Forschungsbefunde?» Wobei es beim zweiten Blick eben auch kein «wen», keine bestimmte isolierte Person ohne Kontext mehr gibt, sondern nur den sozialen Raum, das spezifische soziale System, den kulturellen Hintergrund, die Wissensschule, die alle zusammen den jeweils Forschenden bestimmte Weisen des Fragens und damit auch eigentümliche Weisen der Welterzeugung lehrten.

So betrachtet müßte es letzten Endes doch wieder heißen: «Über was befinden eigentlich Forschungsbefunde?» Nur anders. Alles klar?



Kommentare:


18. Februar 2004

Lieber Helmut,
ich habe deinen neuen Text mit Freude und großer Zustimmung gelesen. Wie z.B. ‹Inter-Rater-Reliability› erzeugt und dann zu «Objektivität» verwurstet wird, musste einfach mal jemand klar erklären. Es kommt ja noch dazu, dass Rater, die trotz ausgiebigem Konsens-Trainings beharrlich etwas anderes sehen, unter Umständen sogar einfach ausgeschlossen werden.

Weiter oben sagst du, nach bürgerlichem Verständnis sorge Ideologie für eine Verfälschung der «eigentlich zu erwartenden normalen» Sichtweisen. Dass es eine Sichtweise ohne Ideologie nicht gibt, bedeutet, dass es auch eine «zu erwartende normale unverfälschte Sicht» nicht gibt.

Insofern ist den Wissenschaftlern nicht vorzuwerfen, dass sie die Welt ideologisch gefärbt betrachten, sondern nur, dass sie so tun, als sei das nicht der Fall. Das Problem ist also ein Diskurs, der die Wissenschaft zur neuen Religion erhebt; die Forschung selbst kann man je nach Einzelfall immer noch sinnvoll finden.

Daran schließt sich bei mir die Frage an, ob es denn für eine Wissenschaftlerin überhaupt Sinn macht, sich darum zu bemühen, sich von einer Ideologie möglichst wenig verfälschen zu lassen. Ich würde einer Wissenschaftlerin jedenfalls eher über den Weg trauen, wenn sie ihre Interessen und ihren ideologischen Hintergrund – soweit möglich – offenlegt, und obendrein schildert, wie sie ihren Experimenten die Chance gibt, ihre eigenen Vorerwartungen zu widerlegen. Aber bin ich mit dieser Einstellung nicht schon Opfer eines verfehlten Wunsches nach Neutralität?

Liebe Grüße,
Christian



Erstellt: 12. Februar 2004 - letzte Überarbeitung: 19. Februar 2004
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