BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Wahrheit über Männer und Frauen (2): Das Erbe der modernen Erzählung»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2014)
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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Prolog

Seit zig Jahren geistert die Mythe durch die Welt, Frauen kämen von der Venus, und Männer vom Mars. Und das heißt nichts anderes, als daß Frauen – im Gegensatz zu Männern – sich nicht räumlich orientieren, nicht einparken und keinen Korkenzieher benutzen könnten und darüber hinaus emotional und wenig rational seien. Und seit zig Jahren versuchen männliche Forscher in ihren Forschungsinstituten diese von einer Folklore vorgeschriebenen Unterschiede in der ‹hardware› von Männern und Frauen wieder zu finden. Und haben sie sie wieder einmal ‹gefunden›, wird umgehend in allen Medien darüber berichtet. Die Methoden der ‹wissenschaftlichen› Untersuchungen variieren mit der Zeit, die ‹Befunde› bleiben. Es ist wahrlich frustrierend, immer wieder auf diesen lächerlichen biologistischen Determinismus zu stoßen. Deswegen sehen wir uns das Erbe der modernen Erzählung über Männer und Frauen etwas gründlicher an. Denn: Es ist ja nur eine Erzählung!


1. Einführung

In unserem ‹Grundkurs› haben wir einige Unterscheidungen getroffen, die uns der Wahrheit über Männer und Frauen näher bringen. Und wir haben zwei große Erzählungen skizziert, die heute die Laufwege von Männern und Frauen bestimmen. In diesem kleinen Traktat nun möchten wir ganz unbefangen aufzeigen, zu welchen Konsequenzen die eine der beiden großen Erzählungen über Männer und Frauen – die moderne – geführt hat. Lieber Leser, liebe Leserin, schauen wir uns um! Wie läßt sich das Erbe der modernen Erzählung über die ‹wahren› Unterschiede zwischen Männern und Frauen beschreiben?

Nun, auch zur Jahrtausendwende und nach den Nullerjahren herrscht in den modernen westlichen Gesellschaften nach wie vor eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, in der Männer für die Produktion und Frauen für die Reproduktion zuständig sind. Obwohl einer Integration von Frauen in hoch qualifizierte Berufe heute formal nichts mehr im Wege steht, ist leider zu beobachten, daß die Berufswelt immer noch nahezu durchgängig in weibliche und männliche Berufe aufgeteilt ist und daß Frauen und Männer in verschiedenen Berufen, Branchen und Tätigkeiten und auf unterschiedlichen Hierarchien beschäftigt sind. Und Frauen sind auch heute noch im Vergleich zu Männern generell mit schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert, und dies beim Eintritt in das Erwerbsleben, beim Verbleib (Entlassungen), bei den Aufstiegschancen, den Weiterbildungsmöglichkeiten und der Arbeitsplatzsicherheit. Frauen werden in ihren ‹typischen› Berufen als Friseurin, Arzthelferin, Krankenschwester oder Verkäuferin auch deutlich schlecht und schlechter als Männer bezahlt. Das heißt, daß sehr vielen Frauen trotz mehrjähriger Ausbildung selbst bei Vollzeitarbeit keine dauerhafte eigenständige Existenzsicherung möglich ist. [1] Barbara Ehrenreichs detaillierter und überaus lesenswerter Bericht aus dem gelobten Land der Deregulierung und der Lohnsklavinnen, den USA: Ehrenreich, Barbara (2001) Nickel and Dimed: On (Not) Getting by in America. New York: Metropolitan Books/Henry Holt & Co. Von einer auskömmlichen zukünftigen Rente einmal ganz zu schweigen.

So hat die berufliche Tätigkeit von Frauen immer noch überwiegend einen Zuverdienstcharakter! Dazu kommt schließlich noch, daß Frauen schon seit vielen Jahren wesentlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Männer. Oft geben sie die Arbeitssuche auf, leben von Sozialhilfe oder vom Lohn ihres Mannes und tauchen deswegen in keiner Arbeitslosenstatistik mehr auf.

Nun könnten wir meinen, daß Universitäten als soziale Systeme der Gebildeten keine Vorurteile kennen und Männern und Frauen gleiche Chancen bieten. Dies ist aber nicht der Fall. Je weiter es hinab geht in der Hierarchie der Eitelkeiten, desto mehr Frauen tauchen auf, und je weiter es hinauf geht, desto weniger. In Deutschland sind nur etwa 5–10% (je nach Fach) aller Professoren und ProfessorInnen Frauen. Selbst in Fächern, wo die große Mehrheit der Studierenden weiblich ist! Fazit: Wir können auch heute noch von einer Deklassierung von Frauen durch die allgemeine Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie und durch schlechtere Chancen und schlechtere Bezahlung sprechen.

Warum ist das so? Wie kommt es dazu? Warum dürfen in unserer Kultur Frauen benachteiligt werden? Ist es das Erbe der modernen Erzählung über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Wir meinen: Ja! Und wir sagen, daß es geradezu die Aufgabe der der modernen Erzählung folgenden Wissenschaften ist, das Scheitern der Frauen im Patriarchat so zu begründen, auf daß niemand Beschwerde erhebe. Und es ist nicht nur eine Pointe am Rande, daß die Wissensfabrikation an den Universitäten – und damit selbstverständlich auch die Fabrikation des Wissens über die ‹Unterschiede› zwischen Männern und Frauen – nach wie vor fest in den Händen von Männern ist. Zum Glück gibt es mittlerweile einige Ausnahmen.

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich in der modernen Erzählung über Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen bewegen, suchen nun Tag für Tag Gründe, warum – freundlich ausgedrückt – Frauen anders sind als Männer, oder warum – unfreundlich ausgedrückt – Frauen weniger wert sind als Männer. Ja wir können das Bemühen ‹moderner› Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – selbstverständlich sind auch moderne Frauen an der Schaffung von Deklassierungsberechtigungsnachweisen beteiligt – als ununterbrochene Suche nach den Merkmalen bezeichnen, die es berechtigt erscheinen lassen, Frauen von den Fleischtöpfen unserer Kultur fernzuhalten. Wie sehen solche Begründungen aus? Und wie kommt man dazu? Ganz einfach. Schauen wir mal, was die moderne Wissenschaft so auf der Pfanne hat.


2. Wissensproduktion im Rahmen der modernen Erzählung

Zwei Vorbemerkungen: Zum einen erinnern wir noch einmal daran, daß in der Moderne ‹Sex› und ‹Gender› eine Einheit sind (vgl. dazu unseren ‹Grundkurs›). Diese Fiktion ist für die moderne Erzählung von den Unterschieden zwischen den Geschlechtern außerordentlich wichtig, da so – bei allfälligem Bedarf – jederzeit von irgendeinem beliebigen Verhalten über ein beliebiges soziales oder psychologisches ‹Merkmal› auf den Körper oder ‹die Biologie› rekurriert werden kann.

Zum anderen möchten wir noch einmal deutlich machen, daß ‹moderne› Wissenschaften dem ‹Naiven Realismus› frönen (vgl. dazu die ‹Einführung› sowie die Essays ‹Realismus› und ‹Konstruktivismus› aus der Reihe ‹Wie wirklich ist die Wirklichkeit›), und von einer Kybernetik 2. Ordnung (vgl. dazu auch den Essay über ‹Personen als Systeme›) noch nichts gehört haben.

Es gibt in der Moderne viele interessante Begründungsfiguren dafür, daß Männer und Frauen so unterschiedliche Lebenschancen haben. Fangen wir mit einer überaus populären Richtung an, die – unter großem Jubel und Applaus der einschlägigen Schmierlappen-Medien – versucht, soziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen in deren Körpern zu verorten. Wir nennen dieses Bemühen


2.1 Biologismus

Biologisten müssen täglich nachweisen, daß irgendetwas Biologisches bei Frauen, dazu führt, daß Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Wir möchten nun nicht auf die endlos aggregierten «Befunde» zum PMS (Prämenstruellen-Syndrom) und zu den üblichen anderen hormonellen Schieflagen bei Frauen – wie etwa dem überaus mangelnden Testosteron – eingehen, sondern hier nur ein Beispiel skizzieren, welches die besondere Art und Weise des Denkens und Forschens im Biologismus, das besondere Niveau also, sehr erhellt. Vor einigen Jahren – vielleicht erinnern Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin – zettelten einige biologistische Forscher und Forscherinnen gemeinsam mit den immer interessierten Medien eine große Kampagne an, die sich mit dem ‹corpus callosum› befaßte. Ein exemplarischer Fall, auch wenn er schon längst wieder aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden ist. Wir werden ihn kurz erläutern:

Das ‹corpus callosum› verbindet schlicht unsere beiden Gehirnhälften. Eines Tages behaupteten Forscher und Forscherinnen nun, diese Verbindung sei bei Frauen räumlich, also physisch, größer als bei Männern. Ob das stimmt, ist ganz wurscht. Lustig ist, was daraus gemacht wurde und wie es in allen einschlägigen Medien verhandelt wurde. Die Logik ist, wie immer: Wenn bei Frauen im Körper etwas anders ist als bei Männern, so muß das ein Defizit sein. Jegliche ‹gefundene› physische Differenz muß in der heterosexuellen Matrix zum Nachteil von Frauen ausgelegt werden. Das weiß man schon vorher! So wurde hier auch folgerichtigerweise flugs behauptet, durch das größere ‹corpus callosum› würde bei Frauen zwischen den beiden Gehirnhälften zu viel ‹hin und her gehen›. Vulgo: Weibliches Durcheinander eben. Oder anders: Da Frauen immer Verstand und Gefühl vermengen, sind sie für ‹höhere› Aufgaben ungeeignet.

Stellen wir uns nun mal vorsichtig vor, Forscher und Forscherinnen hätten entdeckt, daß das ‹corpus callosum› bei Männern größer ist als bei Frauen. Wie wäre dies dann interpretiert worden? Na? Genau. Ist doch einfach. Daraus wäre ein großer und bewegender Vorteil für Männer gezaubert worden. Etwa: Durch das größere ‹corpus callosum› sind Männer eher in der Lage, Gefühle mit dem Verstand zu kontrollieren und die Unternehmungen sachbezogen zu unternehmen, die eben unternommen werden müssen. Wir fragen uns, ganz unabhängig davon, bei wem das ‹corpus callosum› nun größer oder kleiner ist, warum sollte das nicht ein wunderbarer Vorteil sein, ‹beide› Gehirnhälften in angemessener Weise zu Rate ziehen zu können?

Heute schauen biologistisch orientierte Forscher nicht mehr auf das ‹corpus callosum›, nein, in den Zeiten der ‹Hirnforschung› gibt es tolle neue ‹bildgebende› Verfahren, wie etwa das ‹diffusion tensor imaging›. Klingt gut? Ja. Und was kommt dabei heraus? Dasselbe. Bei Männern sollen die Verbindungen zwischen den beiden Hirn-Hemisphären nach wie vor gering sein, bei Frauen sind diese Verbindungen stark ausgeprägt. Und? Das hatten wir schon. Nix Neues. Und wie lauten die Interpretationen dieses Befundes›? Nun: Männer sind rational, Frauen durcheinander.

Die Methoden werden immer feiner, die ‹Befunde› bleiben gleich. Was die ‹Befunde› bedeuten, weiß keiner, außer den Biologisten, die wissen, wie sie zu interpretieren sind. Und woher wissen sie das? Eben: Das ist das Erbe der modernen Erzählung!


2.2 Männersprache – Frauensprache

Eine weit verbreitete und beliebte Begründungsfigur dafür, daß Frauen deklassiert werden dürfen, findet sich im Rekurs auf Sprache. Denn da scheint mit den Frauen irgendetwas nicht zu stimmen. Aber was?

Der Gedanke ist schlicht und geradeaus, wie alles in der Moderne: Weil Männer und Frauen anders sind, also andere Körper haben, sprechen sie auch anders. Und deswegen ist alles so, wie es ist. Eines der einflußreichsten Bücher war «Language and Womens Place» von Robin Lakoff (einer Frau), erschienen 1975. Danach gab es zigtausende von empirischen Einzeluntersuchungen, die alle zeigen sollten, daß Frauen gar nicht ‹richtig› sprechen können. Ja, der ‹Befund› war fast immer, daß Männer eine ‹Hochsprache› verwenden, die der Sache angemessen und leidenschaftslos ist, wohingegen Frauen eine ‹Tiefsprache› verwenden, die durcheinander, defizitär, hilflos, freundlich, inkompetent, zögerlich, emotional, kurz dusselig ist. Ist doch nett oder?

Zum Niveau dieser Untersuchungen nur ein einziges Beispiel [2] Crawford, Mary (1995) Talking Difference. On Gender and Language. London: Sage. Seite 30f.: Frauen konnten in einer Untersuchung einen Text schneller lesen und schneller zusammenfassen, also sagen und erklären, was in dem Text steht. Männer waren langsamer beim Lesen, außerdem konnten sie nicht so gut sagen, was in dem Artikel drin steht. Also ein keineswegs überraschender Befund, wenn wir allein nur daran denken, wer in der Schule die besseren Noten in den meisten Fächern hat. Das Fazit dieses wirklich beispielhaften Artikels war aber: Na gut, da waren jetzt mal Frauen besser, aber das hat auf keinen Fall was mit ‹Intelligenz› zu tun! Ach ja. Darum ging es doch gar nicht!

Sie sehen, lieber Leser und liebe Leserin, es geht immer nur um die Interpretation von angeblichen Daten. Und weil wir Mary Crawford sehr schätzen, darf sie hier selbst zu Wort kommen:

«Sex difference findings never enter the scientific discourse neutrally. Rather, they are interpreted within the context of deeply held beliefs about women's natures. In accounting for their results, researchers cannot avoid being influenced by the sociocultural discourse of gender, because ‹facts› about sex differences have no meaning outside that discourse. What ‹counts› as an interesting or important result, and what ‹makes sense› as an interpretation, are always ideological matters.» (Seite 32)


2.3 Mars und Venus

In den letzten Jahren wurden diese angeblichen Sprachstilunterschiede ganz groß vermarktet und verbreitet. Und die Meinung, die sich bald dazu einstellte, war, daß Männer und Frauen sich nicht nur nicht verstehen können, weil sie so unterschiedlich sprechen, sondern weil sie geradezu aus zwei ganz verschiedenen Kulturen kommen. Und dies soll eine biologisch definierte Unausweichlichkeit sein! Wenn Männer und Frauen also mal versuchen, miteinander zu sprechen, dann ist das «cross-cultural communication». Und das ist genau so gemeint! Das steht in einem der populärsten Bücher dieser Richtung «You just don't understand: Women and Men in Conversation» von Deborah Tannen; zuerst erschienen 1990, und mittlerweile millionenmal verkauft und in zig Talkshows abgefeiert.

Tannens These ist, daß Frauen eine Sprache der Verbindlichkeit und der Intimität sprechen (rapport talk, rapport = psychische Nähe, persönliche Beziehung), und Männer eine Sprache des Status, des Expertentums und der Unabhängigkeit (report talk). Ergebnis: Da die eine Intimität will und der andere Unabhängigkeit, geht alles schief. Aber, keiner ist schuld, es sind halt zwei (biologisch definierte) Kulturen, die da aufeinanderprallen, wir müssen, wenn wir glücklich werden wollen, diese Geschlechtsunterschiede akzeptieren. Das letzte Kapitel von Deborah Tannen in diesem Buch heißt also nicht ohne Grund «Mit der Asymmetrie leben»! Na schön.

Ein anderes sehr populäres Beispiel für die moderne Erzählung über Männer und Frauen ist das 1992 erschienene Buch «Men are from Mars, Women are from Venus» von John Gray. Dieser Mann meint, Männer wollten gebraucht (needed), und Frauen geliebt werden (cherished). Daraus ergibt sich alles weitere. In diesem ebenfalls millionenfach verkauften Buch wird nun alles polarisiert. Jeder Aspekt von ‹Persönlichkeit›, ‹Motivation› und ‹Sprache› wird aufgeteilt auf Mars und Venus. Das Niveau dieses Buches wird klar, wenn wir hören, daß Männer von gut bezahlter Arbeit besessen sind und daß Frauen okkupiert sind von ihrem Heim und ihren Gefühlen.

Aber auch hier: Frauen könnten endlich glücklich werden, wenn sie den status quo akzeptierten und endlich aufhörten mit den Versuchen, ihren Mann zu ändern. Ein Tranquilizer also. Zigtausend Frauen waren in den teuren Seminaren von John Gray und haben dort gelernt, zufrieden zu sein. Mars und Venus, Männer und Frauen können sich eben einfach nicht verstehen. Und alle Probleme lösen sich, wenn wir das verstehen. Alles klar?

Denken wir noch wenig über diese auch in Deutschland überaus populären Meinungen nach. Das Ziel dieser ‹Lebenshilfebücher› und aller begleitenden Medien-Features ist, daß Frauen die Ursachen für Probleme in ihrer Beziehung wieder einmal bei sich selbst suchen sollen. Das ist sehr geschickt. Man nutzt die angebliche Unterlegenheit und Beziehungsorientiertheit von Frauen aus und ermuntert sie weiterhin, sich klein zu machen. Und mit den unterschiedlichen Sprechstilen wird in der Moderne wieder einmal ein Grund gesucht und gefunden, warum im Patriarchat alles so ist, wie es ist: Männer mit ihrer sachbezogenen Sprache machen die Arbeit, Frauen mit ihrem Beziehungsgewäsch quasseln herum. Deswegen dürfen Frauen infantilisiert und deklassiert werden! Motto: Frauen sind selber schuld, wenn sie keinen Erfolg haben, warum reden sie nicht Klartext!?

Ganz besonders interessant ist, daß interpersonelle Diskurse in den Büchern von Tannen, Gray und anderen gleichsam im kulturfreien Raum stattfinden. Gesellschaft, Kultur, politische und sozioökonomische Verhältnisse sowie lokale soziale Systeme existieren nicht. Die unterschiedlichen Sprechstile von Männern und Frauen erwachsen direkt aus den verschiedenen Körpern. Ohne Sozialisation, ohne Medieneinflüsse. Gleich mehr dazu.

Wenn wir uns wirklich auf so etwas wie ‹Männersprache› und ‹Frauensprache› einlassen, merken wir, daß hier viel zu stark stereotypisiert wird. Es gibt jede Menge Gegenbeispiele. Wir vermuten, daß die Unterschiede in den Sprachstilen zwischen verschiedenen kommunalen Systemen wesentlich größer sind, als zwischen Männern und Frauen im allgemeinen. Aber wie schon oben gesagt: Wenn man nur auf die Körper schielt, aus denen alle Ungleichheit erwächst, braucht man keine Kultur, keine Gesellschaft mehr. Es lohnt sich also, lieber Leser und liebe Leserin, einmal zu überlegen, was in ‹Lebenshilfebüchern› und den vielen einschlägigen Medien-Features über die Wahrheit über Männer und Frauen alles verschwiegen wird. Was könnte das sein?

Nun, diese Features sind apolitisch, sie verschleiern und verschweigen Machtunterschiede und strukturelle Ungleichheiten. Hier wird verdunkelt, verwischt, ausgelöscht. Nur eins ist klar: Männer zählen in unserer Kultur mehr als Frauen. Deswegen haben Männer die coolen Jobs, verdienen mehr Geld und dürfen mit ihrer sachorientierten Pidgin-Polit-Sprache auch noch Frauen ärgern. Für die mächtigen Männer haben wir hier ein überzeugendes Begründungsmodell, warum sie ohne Schuldgefühle rüde, dominant und insensitiv sein dürfen. Und was macht die Frau? Kluge Frauen ziehen rüde Männer sanft auf ihre Seite. Ja, die ohnmächtigen Frauen werden ermuntert, Konflikten aus dem Weg zu gehen und die Männer so zu nehmen, wie sie sind. Ist doch nett, oder?

Da die moderne Erzählung das Ziel hat, männliche Dominanz zu begründen, zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten, werden Unterschiede in den Sprech- und Interaktionsweisen in die Körper von Männern und Frauen hineingelegt und Dimensionen wie ‹Macht› und sozioökonomische ‹Abhängigkeit› werden außer Acht gelassen. Der status quo wird weder berührt noch bedroht. Wir können es auch so sagen: Daß in der modernen Erzählung gesagt wird, daß Männer und Frauen sich nicht verstehen können, hat genau die Funktion und den Effekt, die Bevorzugung von Männern aufrechtzuerhalten. Der status quo wird zementiert: «Mit der Asymmetrie leben»! Geht doch.


2.4 Zur Psychologie von Mann und Frau

Selbstverständlich versucht auch die Wissenschaft Psychologie, sofern sie sich in der modernen Erzählung bewegt, die individuell-psychologischen «Tatsachen» herbeizuschaffen, die die Deklassierung von Frauen rechtfertigen. In Tausenden von Untersuchungen versuchte man zu zeigen, daß Frauen kein räumliches Vorstellungsvermögen haben, nicht rechnen können, kein Selbstbewußtsein haben, nicht aggressiv genug für das Leben da draußen sind usw.

So gibt es ganze Bündel von ‹Eigenschaften›, die auf Männer und Frauen gelegt werden und die letztlich erklären sollen, warum in der Moderne – als Männerwelt – eigentlich kein Platz für Frauen vorgesehen ist, außer zur Verschönerung des Heims und zur Beglückung von Männern, versteht sich.

Dabei ‹objektivieren› Forscher und Forscherinnen der Psychologie in ihren Untersuchungen nur das, was jeder Gefangene der heterosexuellen Matrix schon längst weiß: Männer sind stark, sachlich, logisch, rational, objektiv, intellektuell, aggressiv, ambitioniert, kompetent, dominant, leistungsorientiert, erfolgreich und mutig. Und Frauen sind schwach, emotional, sentimental, verwirrt, irrational, intuitiv, submissiv, schüchtern, sensibel, sozial, sorgsam und weich. Die Geschlechtslogik der Moderne lautet also:

MannFrau
KopfBauch
VerstandGefühl
GeistKörper
KulturNatur
RationalitätIrrationalität
OrdnungChaos
KontrolleKontrollverlust
VerantwortungVerantwortungslosigkeit
UnwillkürlichkeitWillkürlichkeit
AbsichtAbsichtslosigkeit
VoraussagbarkeitUnvoraussagbarkeit
BewußtUnbewußt
ObjektivSubjektiv
StarkSchwach
SicherUnsicher
EntfremdungEchtheit


Bitte beachten Sie, lieber Leser und liebe Leserin, daß nur das letzte Gegensatzpaar ein umgekehrtes Wert-Vorzeichen aufweist. Alle anderen Zuordnungen sind ausschließlich für den Mann positiv. Wie es ja auch sein soll. Und überlegen Sie einmal: Würden Sie jemand ein politisches Amt oder eine Unternehmung anvertrauen, dessen Verhalten sich nach den oben rechts stehenden Merkmalen richtet? Na also! Nehmen wir noch ein überaus aufschlußreiches Beispiel, den FPI, das Freiburger Persönlichkeitsinventar, von dem schon einmal in einem Essay über Psychometrie die Rede war.

Wer bei folgenden Fragen zustimmt, also ja sagt, ist ‹männlich›: Und wer bei den folgenden Fragen zustimmt, also ja sagt, ist ‹weiblich›: Ist das nicht eine geordnete Welt, lieber Leser und liebe Leserin? Männer sind aktiv, selbstbewußt, unternehmungslustig und frei von körperlichen und psychischen Beschwerden. Frauen sind dagegen leider nervös, psychosomatisch gestört, emotional labil, gehemmt und depressiv. Eigentlich sollten sie deswegen jede Woche zum Arzt gehen.

Damit also in der Moderne – als Männergesellschaft – alles gut zusammen paßt und vor allem so bleibt, wie es ist, müssen Psychologen tatsächlich so weit gehen und nachzuweisen sich bemühen, daß Frauen nur dann Frauen sind, wenn sie schwach und krank sind. Wenn Frauen nicht schwach und krank sind, sondern gesund und stark, dann sind sie zwar gesund und stark, aber leider keine Frauen mehr, sondern Männer. Noch einmal, lieber Leser und liebe Leserin, damit Sie wirklich auch alles mitkriegen und wissen, was hier gespielt wird: In der Moderne sind Frauen dann gesunde Frauen, wenn sie krank sind. Frauen haben in der Moderne also die Wahl: Entweder Frau zu sein und krank, oder gesund zu sein und keine Frau! Überraschend? Nein!

Tja, was sollen wir zum Schluß über die moderne Erzählung von den Geschlechtsunterschieden sagen? Natürlich herrscht in unserer Gesellschaft Chancengleichheit, vor dem Gesetz! Nur, was ist, wenn Frauen leider auf Grund ihrer «mangelnden Fähigkeiten» diese Chancen nicht wirklich wahrnehmen können? Oder was ist damit, daß insbesondere in der «New Economy» Erwerbsarbeitsverhältnisse und Berufsrollen in Bezug auf Arbeitszeiten, Einkommen und berufliche Entwicklung auf kontinuierlich voll verfügbare, d.h. dauerhaft von Hausarbeit freigestellte und reproduktiv versorgte Arbeitskräfte, also auf Männer ausgerichtet sind. Hier können Frauen also nur Erfolg haben – und natürlich haben sie hier Erfolg –, wenn sie wie Männer leben.

Fazit: In der modernen Erzählung dient die Idee der Zweigeschlechtlichkeit und der Einheit von ‹Sex› und ‹Gender› als herrschaftssicherndes Konstrukt. Das Ziel dieser Idee ist es, die fundamentale Aufteilung von Macht und Ressourcen in unserer Kultur festzuschreiben und Männern die Zukunft zu sichern, da die patriarchalische Ordnung die von der Natur – im Rahmen der Evolution – ‹gewollte› Ordnung ist (Nur ganz am Rande: Dies ist ein anmutiger naturalistischer Fehlschluß). Der Status quo in den Hierarchien wird mit natürlichen Differenzen zwischen den Geschlechtern erklärt und damit moralisch gerechtfertigt.

Wir können auch sagen: Die Evolution dient als Begründung dafür, daß etwa nur 5–10% aller Professoren weiblich sind, und der Status quo, daß also nur 5–10% aller Professoren weiblich sind, dient als Bestätigung dafür, daß die Evolutionsargumentation richtig war. Ein schöner Zirkel, oder?



Ins Netz gestellt am 2. April 2014
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