BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (5): Vom Sieg des Konkreten über das Abstrakte» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

Stellen wir uns vor, jemand erwähnt in einem Diskurs irgendeine statistische Grundrate, also eine auf eine bestimmte Population bezogene Grundhäufigkeit, und sagt: «Du, ich hab' gelesen, daß in Deutschland zur Zeit nur 24% aller Abiturienten auch studieren, und nur 16% eines Jahrgangs ihr Studium auch abschließen. Das sind die niedrigsten Quoten in ganz Europa! Stell Dir das nur vor! Was sagst Du dazu?» Wie wird der gesunde Menschenverstand und kognitive Geizkragen, den wir in diesem Skepsis-Reservat ja nun schon in vielerlei Hinsicht beschrieben haben, auf dieses Angebot, über abstrakte Mengenverhältnisse zu diskurrieren und sich ein Urteil zu bilden, eingehen? Wie wird er sich aus der Diskursaffäre ziehen? Und: Wird er überhaupt verstehen, was mit einer Prozentzahl gemeint ist?

Tja, peinlich, peinlich. Wir haben dieses kleine biotische Experiment mit der Unterstützung vieler Freunde der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› schon oft an Hand verschiedener inhaltlicher Beispiele durchgeführt. Die zu erwartenden Antworten – hier zur Grundrate der Studienanfänger in Deutschland – lauten etwa so: Lieber Leser, liebe Leserin, wenn Sie jetzt nochmals nach oben gucken, die ursprüngliche in den Diskurs eingebrachte Grundrate betrachten und zu sich sagen, daß da in den Antworten irgendetwas nicht stimme, daß Ihnen diese zwar ein Stück weit vertraut vorkämen, daß aber dennoch bei den auf diese Art Antwortenden irgendetwas auf die Diagnose ‹Hirnschwurbel› verweise, dann haben Sie schon beinahe verstanden, was mit dem «Sieg des Konkreten über das Abstrakte» gemeint sein könnte.

Zunächst aber noch ein Beispiel. Jemand sagt: «Stell Dir nur vor, mittlerweile haben wir über 10% Arbeitslose im Ruhrgebiet!» Hier nur eine der möglichen und gängigen Antwort, weitere ersparen wir uns: Haben Sie schon genug von diesem Urteilsgenericum? Reicht es Ihnen? Nein? Ok, dann noch ein letztes Beispiel. (Keine Sorge, lieber Leser, liebe Leserin, wir quälen Sie nur, soweit das nötig ist! Sie können sich selbst aber gerne weiter quälen. Folgen Sie dieser Endnote [1] Sie haben es so gewollt. Sie können nicht genug kriegen. Na gut. Stellen Sie sich vor, sie versuchen über die Problematik von Sozialhilfe und Armut zu diskurrieren, da hören Sie schon ein: «Ich kenn' einen Sozialhilfeempfänger, der illegal nebenher so viel verdient, daß er sich zwei Autos leisten kann!»
Und da nun schon mal das Stichwort ‹Auto› gefallen ist, versuchen Sie es jetzt mit einer abstrakten Bemerkung zu der überaus segensreichen und die Häufigkeit von Verletzungen deutlich reduzierenden verpflichtenden Einrichtung von Sicherheitsgurten, da hören Sie ein «Ich kenn' einen, der einen Unfall nur überlebt hat, weil er nicht angeschnallt war!» erschallen.
Bitte grübeln Sie nicht darüber nach, ob das jetzt ein Beweis dafür sein könnte, daß das Anschnallen im Auto gefährlich ist, sondern lenken Sie Ihren störrischen Diskurs-Normalo von Menschenverstand auf das ergiebige Thema der Schädlichkeit des Rauchens. Was malträtiert in Sekundenschnelle Ihre Ohren? Genau: «Also mein Opa hat sein ganzes Leben lang geraucht und ist neulich 75 Jahre alt geworden.»
Versuchen Sie bitte nicht zu ergründen, ob das nun ein Beweis dafür sein könnte, daß das Rauchen unschädlich sei, sondern fragen Sie sich ernsthaft und gefaßt, wieviel Dummheit wir uns und anderen Menschen zugestehen? Wie, Sie meinen, da gibt es keine Grenze? Hm.
.) Doch zurück zu unserem Beispiel. Jemand sagt: «Neuroleptika wie ‹Imap› führen bei über 40% der Patienten zu schweren Nebenwirkungen, so etwa zu unheilbaren, stell Dir nur vor, unheilbaren Dyskinesien!» [2] Das sind Bewegungsstörungen. Hier eine mögliche Antwort: Lieber Leser, liebe Leserin, wir laden Sie herzlich ein, dieses ‹Grundratenspiel› einmal selbst auszuprobieren. Bringen sie in eine heiteren Männer- oder Frauenrunde mal geschickt eine beliebige Grundrate ein, bitten Sie um ein Urteil und registrieren Sie die Antworten. Sie werden sehen, es ist noch schlimmer! 90% ihrer Bekannten beachten die Grundrate nicht, sondern erzählen einen vom Pferd, stop, nein, erzählen von einem, den sie kennen.

Wie kann das sein? Was geschieht hier? Haben die Diskurspartner nicht zugehört? Haben sie die Eingangsäußerung nicht verstanden? Sind sie gerade spontan wahnsinnig geworden? Oder warum gehen sie in ihrer ‹Antwort› nicht auf die abstrakte Grundrate, die Grundmenge ein? Warum erzählen sie statt dessen eine konkrete Ein-Personen-Geschichte? Warum zaubern sie einen Einzelfall herbei? Ja, stehen wir denn nach PISA [3] The OECD Programme for International Student Assessment. vor dem nächsten Kulturschock? Na, das schauen wir uns mal näher an.


2. Vom Sieg des Konkreten über das Abstrakte

Lieber Leser, liebe Leserin, wir sind ja schon auf einiges vorbereitet, wenn wir uns dem alltäglichen Urteilen zuwenden. Wir rechnen – ohne mit der Wimper zu zucken – damit, daß die uns umgebenden kognitiven Geizkragen ganz ungeniert einer «Tendenz zum erstbesten Urteil» folgen, bei diesem ihrem Blitz-Urteil dann auch noch die Ursachensuche in der Person übertreiben und die Bedeutung situativer Aspekte abwerten (vgl. «Standardrituale»), ja, daß sie zu «egozentrischen Urteilen» neigen, und nun auch noch dies:


2.1 Verlassen im Wust des Konkreten

In der «Gesellschaft des Spektakels scheinen die Gehirne der Spektakelteilnehmer so weit vorkonditioniert und mißhandelt zu sein, daß ihre Wirklichkeitswelt nur noch aus lebendigen, schillernden, und miteinander unverbundenen Einzelereignissen und Videoclips besteht: Viele, viele bunte Smarties. Wir vermuten, daß die in der Postmoderne überaus intensiv sozial gesättigten Gehirne abstrakte Grundraten gar nicht mehr abwägen oder beurteilen können. Dies wird auch im öffentlichen Diskurs in praktisch keinem Fall und von niemandem mehr so gezeigt, daß es mit Applaus verknüpft würde. Es gibt hier keine Vorbilder mehr. Grundraten kommen heute als ‹Homestorys› daher. Ein ‹weiter denken› ist unerwünscht. Eben habe wir zum wiederholten Male – kurz vor den Nachrichten – im Radio eine Werbung gehört, in der es um ein Schlankheitsmittel geht: Eine Frau fragt, wie eine andere Frau es denn nur geschafft habe, so toll abzunehmen. Antwort: «BMI-23 einfach in Saft einrühren und trinken oder löffeln.»

Sagen wir es so: Überflutet von der Konkretheit pointillierter ‹Einzelereignisse› mag das Gehirn des kognitiven Geizkragens mit abstrakten Vorgängen, Erklärungen, Grundraten nicht nur nichts mehr anfangen, es traut ihnen auch nicht. Vertrauenswürdig, nachvollziehbar und letztlich überhaupt verstehbar ist und bleibt der konkrete, erzählte, ganz persönlich mitgeteilte oder ganz persönlich selbst – am besten via TV – ‹erlebte› Einzelfall. Wirklichkeit eben: Trinken oder löffeln.

Wir können auch sagen, Grundraten als Abstrakta sind dem kognitiven Geizkragen suspekt, sie sind nicht mit dem gefüllt, was er gewohnt ist. Wenn jährlich tausende Menschen an irgendetwas sterben (etwa in der Folge von Unfällen im Straßenverkehr), interessiert ihn das nicht, kann ihn das nicht berühren. Das bleibt außen vor. Das ist nicht vorstellbar. Erst wenn ein Nachbar oder der eigene Sohn mit dem Auto vor einen Brückenpfeiler fährt, dann stellt sich urplötzlich die Frage nach dem ‹Warum›, die dann ja auch die Todesanzeige schmückt. Und aus dieser Betroffenheit auf der Nadelspitze des Einzelereignisses ergibt sich selbstverständlich kein Blick auf größere Zusammenhänge und Abstrakta. Wie auch?

Die einschlägigen Printmedien und privaten TV-Sender wetteifern jeden Tag darum, mit dem unästhetischsten Schmierlappen über Menschen hinweg zu wischen. So kann zwar schon mal das große Leiden und Sterben eines Menschen durch die Medien gezogen werden, kann die mit diesem Einzelfall verbundene abstrakte Problematik – sagen wir mal ‹Morbus Alzheimer› – tatsächlich in ganz abgeschwächter Weise in das Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Doch der geduldige Teilnehmer am Dauerspektakel lernt dadurch nichts. Wir sagen, er soll auch nichts lernen. Denn die Medien wollen nur aufregen, nichts erklären.

Gut, der kognitive Geizkragen könnte sich auch mit Hilfe der erstaunlicherweise immer noch existierenden guten Rest-Medien klug machen, in denen dann – mit einem Einzelfall als Aufhänger – sogar Grundraten erläutert werden. Aber nein, dies braucht sich der kognitive Geizkragen mit seinem von flackernden Einzelbildern überfluteten Gehirn nicht anzutun. Dieses Gehirn ist von der rein physischen Masse an Bildern so überanstrengt, daß es keine Anstrengung, keine Belehrung mehr verträgt. Es ist fertig. Da gibt es keine Entwicklungsaufgaben mehr. Nur noch die Sucht, nach immer mehr Geflacker!

Sollen wir mal ein Beispiel erfinden zum Unterschied zwischen einem Schmierlappenmedium und einer Zeitung? O.k. In der «Süddeutschen Zeitung» könnte auf Seite sechs oder sieben eine ganz kleine Notiz stehen darüber, daß die Anzahl der Asylbewerber im Vergleich zum Vorjahr um 25% abgenommen hat. Das ist für ein Schmierlappenmedium dieses Landes naturgemäß keine Nachricht. Also basteln wir uns mal eine: «Muslim quält Deutschen Schäferhund!» Merken Sie, lieber Leser und liebe Leserin, was wir mit dieser Überschrift alles erzeugen können? Wie von der Grundrate der Asylbewerber abgelenkt wird und im Sinne des Schmierlappen-Denkens eine Aufgeregtheit erzeugt wird? Ach, Sie meinen, jetzt hätten wir mal wieder übertrieben? Tja, Pech, jetzt müssen Sie sich vier Wochen lang die Überschriften von Schmierlappenmedien angucken, um uns dann – reumütig, wie wir hoffen – eine kleine Mail zu schreiben, in der sie uns nur schlicht mitteilen, wir hätten wohl untertrieben.

Da haben wir noch ein schönes Gesellschaftsspiel für Sie: In fröhlicher Runde wird einer ausersehen, ein beliebiges Geschehen zu skizzieren. Die anderen müssen dazu eine gängige Überschrift erfinden und aufschreiben, jeweils passend zu einem Medium: SZ, FAZ, WELT, BILD, ZEIT, FOCUS etc. Anschließend werden die Überschriften vorgelesen und es wird abgestimmt, welches die schönste und – für das jeweilige Medium – zutreffendste und typischste Überschrift ist. Ein sehr nettes Spiel, bei dem viel zu lernen ist. Nicht nur über abstrakte Grundraten und konkrete Ereignisse.


2.2 Zur Logik der Ein-Personen-Statistik

Wieso glauben wir einem Einzelereignis mehr als zusammenfassenden Statistiken? Was ist das psychologisch reizvolle an einer Ein-Personen-Statistik? Und wieso trauen wir den – ganz konkret – übermittelten persönlichen Urteilen und Ratschlägen von Bekannten mehr als Häufigkeitstabellen, vertrauen so dem Hörensagen? Was zeichnet eine Erzählung über ein konkretes Ereignis, eine Geschichte über einen Einzelfall aus? Was haben diese, was ein Bericht über eine abstrakte Grundrate nicht hat? Nun, der Witz ist, daß eine Erzählung über ein konkretes Ereignis, über einen Einzelfall Das sind die Lebendigkeitskriterien! Das konkrete, zusammenhanglose Einzelfallbeispiel ist halt immer lebendiger und deswegen für kognitive Geizkragen bedeutsamer als alles andere. Wir müssen uns dazu auch vorstellen, daß in einer Gesellschaft des Spektakels ganz eigentlich nur konkrete Ereignisse transportiert werden, um eben diese Gesellschaft des Spektakels nicht durch eine mögliche Sekunde der Besinnung zu gefährden.

Wenn Sie sich einmal unter den Menschen umsehen, lieber Leser, liebe Leserin, werden Sie schnell beobachten, daß viele ihr Leben um Urteile herum organisieren, die sie aus konkreten Einzelfällen ‹gewonnen› haben. Für alles, was diese Zeitinsassen zu beurteilen haben, zitieren sie eine konkrete Geschichte, ein konkretes lebendiges Beispiel, in dem irgend jemand – einer also – irgendetwas konkretes getan hat und damit zu dem und dem Ergebnis gekommen ist. Möchten Sie noch ein paar Beispiele? Wirklich? Sie können es immer noch hören? Na gut, dann folgt jetzt etwas für Gartenfreunde: Das Lebendigkeitskriterium. Wirkt doch! Aber es kommt noch etwas dazu. Wir sind ziemlich sicher, daß heute kaum jemand mehr abstrakte Grundraten überhaupt versteht. Stellen wir uns vor, in irgendwelchen ‹Nachrichten› wäre zu hören, daß jeder 12. Deutsche heute unter einem Hirnschwurbelsyndrom leidet. Man frage nur einmal, irgend jemanden, wieviel Prozent aller Deutschen das denn dann wären, jeder 12., wenn dem so wäre? Nur einmal! Die Antworten werden fürchterlich sein.

Und sofort können wir schließen, daß da – trotz der perfekt inszenierten Gesellschaft des Spektakels – immer noch eine gewisse Besorgnis bei denen ist, denen die Bundesrepublik Deutschland gehört, daß irgendein schlichter und cortikal mit Flacker-Plunder gesättigter Mensch vielleicht doch einmal verstehen könnte, was eine statistische Grundrate in irgendeinem Zusammenhang bedeuten könnte. Und vielleicht werden Grundraten gerade deswegen genau in einer solchen Form verbreitet («Heute hat jeder 7. Deutsche eine Allergie!»), damit keiner versteht, was damit gemeint sein könnte. Unser Tip: Die einschlägigen Medien werden bald ganz auf die Übermittlung von Grundraten verzichten. Verstehen wir nicht, brauchen wir nicht.


2.3 Die Sprache der Populisten

Noch ein kleiner Ausflug: Die Logik des Konkreten ist so schlicht, daß es ganz natürlich zu erwarten ist, daß Politiker sich in ihren Beiträgen – unter anderem – auch an dieser schlichten Logik entlang hangeln. Die heutigen Politiker argumentieren in ihrer ganz großartig tönenden Beschränktheit oft mit Hilfe dieses Urteilsgenericums, wohl wissend, daß sie auf empfangsbereite Ohren stoßen. Wobei hier der Spieß oft noch so gedreht wird: Aus einem konkreten Einzelfall, der selbstverständlich auch noch von den ‹Argumentierenden› selbst frei erfunden wurde, sollen die Zuhörer – bitte schön – Schlüsse ziehen und Urteile ableiten, die sich auf das typische und regelhafte eines Geschehens beziehen sollen. Schlau? Nöh.

In Diskussionen über die große Zahl von Arbeitslosen – und wie dem abzuhelfen wäre – könnte dann zum Beispiel ein Vertreter der Regierung (die ja im spektaklistischen Zeitalter für die Arbeitslosigkeit ‹ganz persönlich verantwortlich› ist) sagen: «Also ich habe gestern erst den Brief eines Handwerkmeisters aus Uelzen bekommen, der sucht jetzt seit 2 Jahren einen qualifizierten Gesellen für seinen Familienbetrieb, und er findet keinen, und das bei 4 Millionen Arbeitslosen. Da stimmt doch was nicht, meine Damen und Herren! Da müssen wir mal den Druck erhöhen!»

Und ein Vertreter der Opposition wird in eben diesem Diskurs die günstige Gelegenheit nutzen und den kognitiven Geizkragen mit den abgeflackerten Gehirnen folgendes bieten: «Also, ich kenne da einen jungen und willigen Informatiker, perfekt ausgebildet, Studium, Diplom mit ‹1›, und der kriegt einfach keine Stelle. Da stimmt doch was nicht, meine Damen und Herren! Da muß diese Regierung mal Anreize schaffen, daß diese jungen und begabten Menschen wieder eingestellt werden und unser Land nach vorne bringen!»

Das ist der Trick der Mächtigen: Entweder mit statistischen Grundraten zu arbeiten und zu hoffen, daß sie sowieso keiner versteht, oder aber gute oder schlechte Nachrichten aus zusammenhanglosen Einzelereignissen bestehen und so stehen zu lassen.

Schauen wir uns ein abschließendes und ganz reales Beispiel an: Stellen wir uns vor, daß an ein und demselben Tag zwei Nachrichten produziert werden: Das wird nun in den spektaklistischen Medien so dargestellt, als seien das zwei völlig von einander unabhängige Ereignisse. Das erstere Einzelereignis ist naturgemäß die ‹Schuld› der Regierung und läßt sich besonders schön mit trost- und hoffnungslos aussehenden Menschen in einem Behördenflur visualisieren. Und das zweite Ereignis wird in den spektaklistischen Medien so dargestellt, als handele es sich hier um eine betriebswirtschaftlich notwendige, kluge, richtige und weit voraus schauende Entscheidung eines Weltkonzerns, die sich besonders passend mit einem gutaussehenden, fitten, smarten und lächelnd sprechenden Vorstandsvorsitzenden visualisieren läßt, der deutlich sagt, daß er – ganz persönlich – seiner Verantwortung voll bewußt sei. Und nur ganz nebenbei, lieber Leser und liebe Leserin, der Redakteur oder der Journalist, der in irgendeinem Medium zwischen diesen beiden Nachrichten einen Zusammenhang herstellt, wird sofort entlassen. Alles klar?

Schluß: In der Gesellschaft des Spektakels werden abstrakte Grundraten überflüssig, da sie nicht mehr verstanden werden. Nur noch einige wenige Skeptikerinnen und Künstler und Künstlerinnen fragen nach den Grundraten eines Ereignisses und lassen sich von lebendig erzählten einzelnen Konkretizismen nicht ablenken. Der postmoderne kognitive Geizkragen aber, der ja alles längst ‹weiß› und dessen Wissen ja auch noch ununterbrochen ‹zunimmt›, kennt und erkennt nur noch Einzelfälle. Über was wundern wir uns also? «Spute dich, Kronos! / Fort den rasselnden Trott! / Bergab gleitet der Weg […]» [4] Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. Zitiert nach: Goethes Werke. Herausgegeben von Richard Müller-Freienfels. Zweite Abteilung: Lyrische und Epische Dichtungen. Neunter Band. Gedichte, Band 1. Volksverband der Bücherfreunde. Berlin (1924): Wegweiser-Verlag GmbH., S. 229f

Ach ja, das noch: Karl Kraus sagte einmal: «Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er.» [5] Karl Kraus, in: Die Fackel Nr. 275, vom 22.3.1909, S. 21. Ach, Gottchen, wie sollen wir uns denn heute einen ‹Agitator› in der politischen Landschaft vorstellen? Heute sind die Möchtegernagitatoren doch genau so dumm, wie ihre Zuhörer und Wähler. Aber diese letzteren merken das nicht, und freuen sich statt dessen darüber, daß der ‹Agitator› mit dem Erzählen vieler konkreter Einzelgeschichten beweist, daß er kein ‹Intellektueller›, kein ‹Tiefsinniger› ist, sondern einer von ihnen, einer mit Bodenhaftung, einer mit Wirklichkeitsgeruch, ein richtiger Mensch also, der dem Flachsinn frönt und dem man deswegen vertrauen kann. Und – ganz selbstverständlich – holt der heutige Möchtegernagitator mit seinen ‹konkreten Erzählungen› die Leute, seine Wähler, genau da ab, wo sie schon stehen. Und dann, ja dann …, dann bleibt er mit ihnen zusammen genau dort sitzen.



Erstellt: 19. Juni 2002 – letzte Überarbeitung: 19. Juni 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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