Es gibt nichts zu sagen; denn Wörter sind Dietriche,
von denen jeder alles aufschließt, also eigentlich nichts;
es gibt nichts abzubilden, denn das Bild,
das zumindest an der Oberfläche einen Einbruch verübt hat,
ist bereits ein allseits und sattsam bekannter Verbrecher.
(Richard Weiner)
Einführung
Selbst wenn einige kluge Menschen sich manchmal wundern, mit welcher Insolenz Spin-Doktoren jemanden zur ‹Siegerin› einer Fernseh-Diskussion ausrufen können, so bleiben sie doch meist fest in ihrer kleinen ‹Welt der Fakten› verhaftet und wenden sich sogleich und freudig gegen denjenigen, der ihnen an Hand eben dieses Beispiels erzählen will, unsere soziale und personale Welt werde eher von Sprache zusammengehalten denn von ‹Tatsachen›. Damit aber nicht genug, denn hat der ‹gesunde Menschenverstand› erst einmal eine solch' seltsame ‹Theorie› wie den ‹Sozialen Konstruktivismus› vernommen, läßt er sich selbst und uns keine Ruhe, bis er ‹Argumente› gefunden hat, die nach seiner Meinung den ‹Sozialen Konstruktivismus› widerlegen und seine eigene bevorzugte Sicht auf die so ohne weiteres herumliegende ‹Wirklichkeit› bestätigen. Die Ideologie des ‹naiven Realismus› sitzt fest in den Köpfen (fast) aller Menschen - und die Spin-Doktoren lachen sich kaputt.
In dieser Reihe von ergänzenden Randbemerkungen zum ‹Sozialen Konstruktivismus› greifen wir einige der wesentlichen und immer wiederkehrenden Einwände ‹naiver Realisten› auf, um sie anmutig zu beantworten. So haben wir in dem
ersten Marginalia-Text unseren grundlegenden Gedanken erläutert, daß Sprache die textuelle Struktur von Wirklichkeit liefert und ‹die Welt so mit dem Wort einher geht›. ‹Textualität› definiert in unseren Augen, was in einem sozialen Raum möglich und wirklich ist. Aber deswegen ist noch längst «nicht alles relativ».
In dem
zweiten Marginalia-Text beschäftigen wir uns mit der immer wieder auftauchenden Behauptung, der ‹Soziale Konstruktivismus› habe eine ‹gewisse› Berechtigung, eine mögliche ‹Aussagefähigkeit› und eine ‹tentative› Gültigkeit nur in einigen wenigen, eingeschränkten, ‹weichen› Bereichen aus den Feldern der Psychologie, Soziologie oder Pädagogik: Solange man die zuständigen Gene noch nicht gefunden habe, könne eine ‹Neurose› etwa eine Genese haben, die unseren Überlegungen entspräche. Vielleicht. Bei harten Tatsachen jedoch tauge der ‹Soziale Konstruktivismus› nichts. Nun, in der zweiten Marginalie haben wir durchaus freundlich und sorgfältig diese Meinung ausgeräumt und auf die ‹Textualität› unseres Seins verwiesen.
In diesem Traktat nun geht es - wieder einmal - um den endlosen Versuch des ‹gesunden Menschenverstandes›, den Geltungsbereich ‹sozial-konstruktivistischer› Ideen so klein wie möglich zu halten.
Einschränkungen und Einwendungen
Die Einwände, auf die wir hier eingehen wollen, sammeln sich nicht nur in dem Vorwurf, daß Diskurse und Texte der ‹Wirklichkeit› zu folgen hätten, und nicht umgekehrt, nein, es gibt auch feinere Sophismen. Auf geht's:
- «Aber die Wirklichkeit legt doch fest, wie wir über sie sprechen!» Nun ja, sofern wir - vielleicht als Entwicklungshilfe für RealistInnen - jetzt einmal annehmen, Sprache bilde beschreibend etwas Außersprachliches ab, dann gibt es naturgemäß für die Verweisungszusammenhänge, die das Weltliche und das Sprachliche aufeinander beziehen, Grenzen, die von der Widerständigkeit der Welt gezogen werden. Anders gesagt: Beschreibende Sprache muß sich den zu beschreibenden Situationen und Sachverhalten in gewissem Maße fügen, sonst kommt man in der Handfestigkeit der Situation um. Wir erinnern hier an das berühmte Bahngleisebeispiel aus den Marginalia Nr. 2. Diese Einschränkung des Diskursiven ist für uns jedoch nicht besonders interessant, da wir die Zweiweltenteilung in Wirklichkeit und deskriptiven Diskurs nicht mitmachen. Sprache muß nicht beschreiben, um zu funktionieren. Und in den allermeisten Fällen unseres diskursiven Alltags beschreibt Sprache auch nicht, sondern sie interpretiert, sie erfindet Motive, sie hantiert mit Scheinbegriffen, kurz, sie behauptet etwas. Trotzdem sollte man einem Braunbären besser aus dem Weg gehen.
- «Aber man kann doch nicht völlig beliebig über die Welt sprechen!» Doch, kann man. George W. Bushs Spin-Doktor Karl Rove hat Regierungsprogrammen Namen gegeben, die das genaue Gegenteil dessen suggerieren, was geplant ist, und dabei sprechen wir nicht einmal über den ‹Irak-Krieg›: Den fast völligen Abbau der Bürgerrechte in den USA nannte Rove «Patriot Act», das Programm zur Ruinierung öffentlicher (nicht-privater) Schulen «No Child Left Behind» und die Bemühungen zur Abschaffung der staatlichen Renten- und Sozialversicherung «Saving Social Security». Geht doch. Kein Problem. Da wir keine Regierungsmitglieder sind, über keine hörigen Fernsehstationen verfügen und vermutlich auch nicht die stupende Dreistigkeit eines Karl Rove besitzen, müssen wir in unserem diskursiven Alltag schon darauf achten, daß unsere sprachlichen Einlassungen eine gewisse ‹Kohärenz› haben. Die Sprech- und Deutegemeinschaften, in denen wir leben, legen in aller Regel großen Wert darauf, daß die Geschichten, die von ‹vollwertigen› Systeminsassen erzählt werden, ‹gut› und ‹nachvollziehbar› sind. Unsere Diskursbeiträge müssen dem Brauche nach also abgerundet sein, sie müssen kommunal definierten Narrations-Strukturen folgen, sie müssen ‹anschlußfähig› sein, sonst versteht sie ja keiner. Eine gewisse Kohärenz im Erzählten ist somit eine unhintergehbare Grundanforderung für brauchbare Sagbarkeiten. Geht die Abweichung von der zu erwartenden Rede zu weit, kann es da unter Umständen plötzlich eine Stutzigkeit beim Zuhörenden geben, und es wird über das Gesprochene gesprochen und gefragt, wie es denn nun eigentlich gemeint sei. Und erst wenn man etwa sagt «Das war doch nur ein Witz!», ist alles wieder gut. Wir sehen, ein ‹Kohärenzstreben› scheint uns eine Eigenschaft des Diskurses und seiner Anforderungen zu sein. Und Personen sehen wir als Erfüllungsgehilfen von Sprechakten in sozialen Räumen. Und noch eins: Die Kohärenz, die Plausibilität, die Anschlußfähigkeit einer Geschichte sagt überhaupt nichts über ihren ‹Wirklichkeitsgehalt›.
- «Aber Menschen ‹wollen› doch etwas, wenn sie sprechen!» Dieses Argument - sowohl eine psychologistische Verdoppelung als auch ein einfacher naturalistischer Fehlschluß - ist durchaus anmutig. Etwas geschehe, ein Sprechakt werde vollzogen, weil ein Wille dies so wolle. Was gesagt werde, sei nicht kommunal zu erwartender Text, sei nicht ein Hineingreifen in den Karteikasten der Sagbarkeiten, nein, ein Wille bewege den Mund. Nun, von ‹Absichten›, die auf einer subjektimmanenten psychischen Ebene herumdräuen und dann im Sprechakt zum Ausdruck kommen, halten wir nix. Aber natürlich ist es so, daß ein Sprechakt immer etwas meint und demnach oft auch auf der diskursiven Ebene in einer Hinsicht, die wir post-hoc meist ‹Absicht› nennen, etwas bewirkt. Auf einen Sprechakt folgt in aller Regel etwas - selbst ein Schweigen ist eine beachtliche Folge -, und eben das macht seine ‹Intentionalität› aus. Nur: Die ‹Intention› eines Sprechaktes ist nicht einfach gegeben, sondern sie wird zwischen den Sprechhandelnden ausgehandelt. Das Beabsichtigte, das Gewollte im Sinne einer subjektbezogenen ‹Intentionalität› geht dem Sprechakt also nicht voraus, sondern geht mit Sprechakten und Rekursen einher. Und dabei gibt es immer eine Art ‹Restrisiko›, denn die konversationalen Konventionen sind in einigen sozialen Systemen ja nicht so eng, daß Sprechakte wie Dominosteine hintereinander wegklappen. Da kann es auch Mißverständnisse und Überraschungen geben.
- «Aber es gibt doch nicht nur Standardsituationen für Diskurse!» Es sieht so aus, als gebe es kommunale Systeme, in denen - jenseits von Sprech-Ritualen - Diskurse bis zu einem gewissen Grad indeterminiert sind, in denen - neben den Standardsituationen - Leerstellen, Freiräume und lückenhafte Drehbücher in den Zeremonien des Sozialen bleiben. Solche sozialen Räume könnten in Bereichen des Künstlerischen liegen - oder im Atmosphärischen eines ‹Literarischen Salons›. Dem entgegen müssen wir freilich einwenden, daß auch die Lücken und Löcher in allfälligen Diskursen vermutlich konfektioniert sind, daß ein Determinismus, eine Standardisierung als defizienter Modus uns also auch und vielleicht gerade da am sozialen Gängelband hält und an der Nase herumführt, wo wir uns im Außerplanmäßigen und ‹Eigenen› wähnen. Es ist zu vermuten, daß der Repertoire-, Text- oder Rollenwechsel als ‹Text zweiter Ordnung› uns ebenso genau vorschreibt, wie wir aus einer Standardsituation durch nette Brechungen herauskommen können, wie der ‹Text erster Ordnung› bestimmt, daß eine Standardsituation des Sprechens zustande kommt. Aber es gibt Hoffnung, gelegentlich, selten, wie wir im nächsten Punkt sehen werden.
- «Letztlich tut ihr so, als gäbe es kein Subjekt!» Der kognitionspsychologisch sehr beliebten Subjektseligkeit, die einer in cartesianischer Tradition faktisch und zunächst bezugs- und beziehungslos daliegenden realen Außenwelt ein erkennendes, vereinzeltes, auf seine einsame Erkenntnis zurückgeworfenes Subjekt hinzu- und gegenüber gesellt, das sich der Objekte erst annehmen muß, hält Baudrillard sein ‹verführerisches Objekt› entgegen, das das Subjekt bannt, indem es auf sich aufmerksam macht, und seine Bedeutung schon ‹sehen läßt›, bevor das Subjekt überhaupt zum Zuge kommt. Wo der oder die Einzelne eintrifft, fuchtelt das aufmerkende Objekt schon immer mit einer Bedeutung, die von Anderen ausgeschildert worden ist. Das Subjekt verschwindet hier gleichsam in den Ritualen des Sozialen, verbannt auf die billigen, hinteren Plätze im Schauspielhaus der Objekte. Das Subjekt konstruiert zwar seine Umwelt, es selbst ist aber doch zugleich auch nur eine Konstruktion derselben. Einen Dualismus von Subjekt-Objekt zu Gunsten des ersteren, wie ihn Descartes etablierte, finden wir reichlich verfehlt, weil wir Subjekte doch eher als Schauplätze für soziale Konstruktionen sehen, denn als autonome UrheberInnen derselben. Hinter der Oberfläche des Diskurses vermuten wir keine Schattenwelt mentaler Aktivität mehr. Zu Ende gedacht leugnen wir in einer solchen Absolutsetzung des Diskursiven eine in privater Privatheit gelagerte Subjektivität außerhalb der diskursiv fabrizierten Texte. Nur in wenigen Sternstunden unseres Lebens gelangen wir aus den engen und straffen Leitseilen kommunaler Standardsituationen heraus in Musils ‹anderen Zustand› - und ahnen unser Subjektsein: Etwa wenn sich in einer fließenden Rede eine Textlücke ergibt, wenn wir über einen Text staunen, den wir soeben ausgesprochen haben, wenn wir im Augenblick des Aufbaus eines Textes unmittelbar und plötzlich die Textränder sehen und so schaudernd die Grenzen der Sprache spüren, wenn wir in einer Unsagbarkeit scheitern, wenn wir stutzen, angesichts der Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen, und schließlich, wenn wir uns selbst ironisch betrachten.
Schluß
Fassen wir unsere Ideologie zusammen, die wir so nachhaltig dem ‹Naiven Realismus› entgegen halten wollen: Psychische Phänomene werden diskursiv fabriziert. Unser Sein erwächst aus zwischenmenschlichen Diskursen. Diskurse hantieren mit Sprache und weiteren Symbolsystemen. Diskurse sind je nach Kultur und Subkultur unterschiedlich. Kontext und Kommune definieren die Grenzen der Geschichten, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit über die Person, das Sein und die Wirklichkeit in Umlauf gebracht werden dürfen. Und zwischen diesen sozialen Orten und Räumen der Diskurse herrschen erhebliche, bis ins Inkommensurable hinaufwachsende Unterschiede. Beispiele dafür gibt es heute zuhauf.
Erstellt: 9. September 2005 - letzte Überarbeitung: 9. September 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter
Dr. Artus P. Feldmann.