BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Anne Brontë: Die Herrin von Wildfell Hall»
von Henriette Orheim
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«... wenn ich sehe, wie das Menschengeschlecht,
als Ganzes betrachtet, mit einigen wenigen Ausnahmen,
auf seinem Lebensweg dahinstolpert und blind einhertappt,
in jede Fallgrube stürzt und an jedem Hindernis,
das auf dem Wege auftaucht, sich das Schienbein bricht ...»

Mitte letzten Jahres schrieb ich eine kleine Buchgeschichte zu Charlotte Brontës Jane Eyre. Und im Verlauf des Herbstes 2008 dann entdeckte ich durch Zufall, daß einer der – neben Karl Kraus und Michel de Montaigne – ewig angebeteten Heroen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, E. M. Cioran, sich in seinen obsessiv depressiven ‹Cahiers› – 2001 bei Suhrkamp erschienen – als Verehrer der Brontë-Schwestern offenbart, Reisen zum damaligen Wohnort und Lebensmittelpunkt der Schwestern, dem Pfarrhaus in Haworth, eingeschlossen. Klar, gemäß Ciorans Naturell liebte er besonders inbrünstig und hemmungslos Emily Brontë, die mit ihrem einzigen Roman ‹Wuthering Heights› auch heute noch als die kühnste und begabteste der Brontë-Schwestern gilt, und der Charlotte in ihrem Roman ‹Shirley› ein ganz wunderbares Denkmal gesetzt hat. Wenn Shirley Keeldar mit ihrer riesengroßen gelben englischen Dogge Tartar durch Wälder und Felder streift, wenn sie sich selbstbewußt familialen Intrusionen und Einflüssen entzieht, dann möchte man immer weiter und weiter lesen – aber es geht in diesem kleinen Traktat ja gar nicht um Shirley-Emily, sondern um Anne, die allerdings in ‹Shirley› ebenfalls, als Caroline Helstone, verewigt wurde.

Anne Brontë (1820 - 1849), die sanfte, kluge, zurückhaltende, verträumte und dennoch sozial radikalste der drei Schwestern, stand in der literarischen Rezeption ihrer beiden Werke – ‹Agnes Grey› (1847) und ‹Die Herrin von Wildfell Hall› (1848) – immer im Schatten ihrer Schwestern. Und dies liegt daran, daß ‹Die Herrin von Wildfell Hall› (The Tenant of Wildfell Hall, unter dem androgynen Pseudonym Acton Bell erschienen) einen regelrechten Skandal auslöste, der sich bis hin zu den Schwestern auswirkte, denn nach Annes frühem Tod versuchte Charlotte eine Wiederauflage zu verhindern. Erstaunlich? Ja, aber was ist nun das Besondere an diesem Buch?

Nun, schauen wir zunächst auf die damaligen viktorianischen Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In einer Ehe hatte eine Frau vom Gesetz her keinerlei Rechte. Punkt. Sie war nicht nur in jeder Hinsicht auf ihren Ehemann angewiesen, sondern vollständig von ihm abhängig. Eine Frau konnte kein persönliches Eigentum haben, ja, selbst wenn sie selbst verdientes Geld ausgab, stahl sie damit Eigentum ihres Mannes. Sie konnte weder eine Scheidung noch ein Sorgerecht für ihre Kinder beantragen, und falls sie sich von ihrem Mann trennen sollte, hatte dieser das Recht, sie mit Gewalt zurückzubeordern. Und sollte eine Frau ihren Mann verlassen und ein Kind mitnehmen, so galt das als ‹Kidnapping›.

Diese Rechtslage müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir daran denken, wie jemand nun einen Roman schreiben kann, in dem es um eben diese – aus heutiger Sicht – schändliche soziale und juristische Position der Frau in einer Ehe geht. Ja, da verläßt eine Frau ihren Ehemann und nimmt gar noch das gemeinsame Kind mit! Das war ein Schock ohnegleichen – und die Beschreibung eines kriminellen Aktes. Aber genau darum geht es in diesem wunderbaren Buch: Zu beschreiben und zu erklären, warum eine gedemütigte Frau eine Ehe mit einem haltlosen und ständig ausschweifenden Alkoholiker und Schürzenjäger verlassen und ihren Sohn vor dem Einfluß des Vaters schützen darf! Und stellen Sie sich vor, lieber Leser, liebe Leserin, daß diese selbstbewußte Frau nach ihrer Flucht auch noch ihren Lebensunterhalt selbst verdient, mit künstlerischen Aktivitäten. Es ist schwer einzuschätzen, welche von beiden Verhaltensweisen damals als die frivolere und Anstoß erregendere empfunden wurde!

Das Buch wurde nach seinem Erscheinen recht gut verkauft, viele lasen es, aber man sprach in den Salons darüber nur hinter vorgehaltener Hand. Den entsetzten Aufschrei überließ man den professionellen männlichen und weiblichen Kritikern. (Natürlich gab es damals auch einige wenige Kritikerinnen, die von dem Buch begeistert waren.) May Sinclair schrieb 1913, daß das symbolische Krachen der Schlafzimmertür, mit dem sich die Hauptperson in diesem Buch von ihrem Ehemann verabschiedet, in ganz England widerhallte.

Die Frauen beklagten an Anne Brontës Roman in aller Regel und in erster Linie, daß private Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt worden seien, und die Männer sahen sich – vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der englischen Literatur – entblößt und an den Pranger gestellt. Ihre wütenden und abfälligen Kommentare, ihre vernichtenden Rezensionen geben Zeugnis davon. Denn Anne Brontë schildert eine Fülle von Zwiegesprächen zwischen dem haltlosen Macho-Mann und seiner immer wieder um die Beziehung bemühten Frau, die auch heute, im postmodernen Nichts einer erschlafften und zu nichts verpflichtenden Emanzipation, nur wenig an Bedeutungsvehemenz verloren haben: Ein Mann kann machen, was er will, eine Frau dient der Verschönerung des Heims. Punkt. Wenn einer das nicht paßt, ist das ihr Problem.

Der auf Anne Brontë einprasselnde Haß führte dazu, daß sie – am 22. Juli 1848, immer noch als Acton Bell – für die zweite Auflage von ‹The Tenant of Wildfell Hall› ein neues Vorwort verfaßte, in dem sie sich mit einer Reihe von Vorwürfen auseinander setzte:
My object in writing [...] was not simply to amuse the Reader; neither was it to gratify my own taste, nor yet to ingratiate myself with the Press and the Public: I wished to tell the truth, for truth always conveys its own moral to those who are able to receive it. [...] When we have to do with vice and vicious characters, I maintain it is better to depict them as they really are than as they would wish to appear.
Am Schluß meiner kleinen Buchgeschichte zu ‹Jane Eyre› habe ich bereits betont, wie erfrischend und beglückend es sein kann, ein Buch zu lesen, daß sich nicht mit endlosen Selbstbespiegelungen, unverbindlichen Sensationen und den immer wieder sich ändernden Interpretationen der aus dem tiefsten Inneren aufsteigenden Aufregungen und Perturbationen begnügt, ein Buch, in dem eine Heldin, frei von sozialer oder legalistischer Not, etwa zwischen zwei Männern hin und her gerissen ist, oder sich fragt, ob sie einfach nur guten Sex haben will, ohne eine Persona als Gegenüber, sondern daß wir also ein Buch lesen, in dem eine Autorin uns eine Frau lebendig werden läßt, die eine Haltung hat. Das ist es. Und deswegen ist auch dieser wunderbare Roman von Anne Brontë so lesenswert. Es geht in diesem Buch um moralische Entscheidungen, die über den eigenen Horizont, die eigene Stirnkante hinausgehen. Bei Anne Brontë haben Frauen noch etwas zu bedenken und zu entscheiden, das über ihren engen Gefühls-Oikos hinausgeht, und sie treten für etwas ein, das nicht nur sie betrifft. Wie schön!



Erstellt: 1. März 2009 – letzte Überarbeitung: 2. März 2009
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