BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Et vice versa ad infinitum? - Das Rätsel meines Lieblingspalindroms»
von Edna Lemgo
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Rätselwort

Der Anlaß dieses kleinen Essays ist mein kurzer Gedankenaustausch mit Lisa über ihren schönen Reisebericht «Als ‹Ich› in der Fremde». Beim Nachsinnen über ihre Geschichte kam mir mein Lieblingspalindrom in den Sinn. Mit einer ausladend angelegten Geste überreichte ich es ihr in einem Leserinnenbrief, doch «das nette Sprachspiel» verschwand offenbar irgendwo in dem mütterlichen Tonfall meines Kommentars.

Als mich Bethchen beim Tee nun fragte, ob ich das Jahr 2002 nicht zum Anlaß nehmen wolle, meine erklärte Liebe zum Palindrom in Worte zu kleiden, nahm ich die Gelegenheit zu einem zweiten Versuch dankend an. Indem ich dem Rätsel nachspüre, welches mir mein Lieblingspalindrom aufgibt, werde ich versuchen, meine Neigung zu entfalten. Erstmals aufgetaucht ist es als Textelement in einer Komposition von Mauricio Kagel. Später erschien es dann noch einmal als Titel von Guy Debords letztem, autobiographischen Film. Derart mit der Nase darauf gestoßen ging mir auf, daß dieses Palindrom offenbar eine besondere Magie für mich bereit hält. Für die Uneingeweihten: Ein Palindrom ist ein Wort, ein Satz oder auch eine längere Aussage mit einer Buchstabenfolge, die – vom Anfang oder vom Ende her gelesen – gleich ist. Besser noch, mein Fremdwörterbuch beschreibt ein Palindrom als ein Rätselwort, das vorwärts und rückwärts gelesen den gleichen Sinn ergibt. Als Nominalistin glaube ich nun zwar, daß der Sinn eines Satzes nicht unmittelbar mit der sie tragenden formalen Struktur verknüpft ist. Nichtsdestotrotz denke ich, daß Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen nur dort blühen kann, wo Form und Inhalt aufeinander bezogen sind, ja so ineinander aufgehen, daß ihrer verschlungenen Gestalt ein organischer Sinn entsteigt. [1] Natürlich ist schon die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt eben das, eine – von jemandem vollzogene – Unterscheidung. Belassen wir es dabei.


Ewiges Kreisen

Der Zauber meines Lieblingspalindroms rührt für mich nun von seiner wirklich einzigartigen Vermählung von Form und Inhalt her. Nirgendwo im Großen Sprachspiel finde ich diese Vereinigung ähnlich vollkommen wie in diesem kleinen Fragment:

in girum imus nocte et consumimur igni [2] «Wir kreisen in der Nacht und werden vom Feuer verzehrt». «In girum imus nocte […] » kann alternativ auch mit «Wir irren in der Nacht umher […] » übersetzt werden. Ob «kreisen», «irren» oder auch «winden», ist an dieser Stelle wohl eine Geschmacksfrage, und mir gefällt, wegen des Bezugs zur formalen Struktur des Palindroms, selbstredend das «kreisen» besser.

Noch einmal, jetzt rückwärts:

in girum imus nocte et consumimur igni

Und, ewiges Kreisen, wieder von vorn:

in girum imus nocte et consumimur igni

Noch einmal rückwärts? Gerne.

in girum imus nocte et consumimur igni

Schön, das sollte reichen, sonst wird uns noch schwindlig. Da haben wir nun mein Lieblingspalindrom, eine ganze Weltanschauung in einem kleinen Textfragment – wenn ich an dieser Stelle einen die Welt objektivierenden Scheinbegriff wie Weltanschauung benutzen darf. Sollte es nicht allzu wagemutig sein, würde ich mich sogar noch einen Schritt weiter trauen, und gestehen, daß dieses Palindrom mein Sinnbild für die «lakonische Tautologie des Seins» [3] Rüdiger Safranski (1995): Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München: Carl Hanser Verlag. selbst ist, deren allzu abgeschlossene Selbstbezüglichkeit eigentlich in Worten kaum zu beschreiben ist. Aber ganz so weit sollte ich dann vielleicht doch nicht gehen. Trotzdem spiegelt der palindromatische Rhythmus mit seiner in sich selbst eingeschlossenen, simultanen Bewegung in zwei Richtungen für mich das ewig aus sich selbst heraus rollende Rad, den glühenden und selbstverzehrenden Fluß, den schon Meister Eckehart als Metapher für das ewige Drängen und Werden des Seins benutzt hat:

«Zum dritten ist zu bemerken, daß, wenn er zweimal sagt: ‹Ich bin, der ich bin›, er die Reinheit der Bejahung unter Ausschluß alles Negativen von Gott selbst anzeigt, weiterhin sein Sein als eine gewisse, auf sich selbst und über sich selbst zurückgebogene Hinwendung und ein In-sich-selbst-Ruhen und Feststehen, überdies ein gewisses Kochen oder Sich-selbst-Gebären, das in sich glüht und in sich selbst und über sich selbst verfließt und kocht.» [4] Meister Eckehart (1978): Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. München: Carl Hanser Verlag. Seite 34.

Mit Meister Eckehart als Schlüssel könnten wir das Rätsel meines Lieblingspalindroms demnach wie folgt paraphrasieren: Ein in sich ruhendes und auf sich selbst zurückgebogenes Textfragment erzählt uns, daß wir umherkreisen, umherirren und in der Nacht verglühen. Wir, und mit uns das Sein, finden uns in einer ewig wiederkehrenden Bewegung. In diesem nocturnen Kreisen verzehren wir uns, vielleicht in der Sehnsucht nach Helligkeit.


Des Rätsels Lösung?

So weit, so schön. Das Rätsel meines Lieblingspalindroms ist in neue Worte gekleidet, aber kann das Rätsel auch gelöst werden? Liegt im Rätsel selbst schon der Schlüssel, oder kreisen wir ewiglich in der Nacht, ohne Aussicht auf, ähem, Erlösung. Et vice versa ad infinitum? Meine Antwort wäre ja und nein. Natürlich kreisen wir bis ans Ende der Tage, aber lichte Momente kann es trotzdem geben. Solange unser Kreisen fremdbestimmt ist, brummkreiseln und torkeln wir katatonisch durch die Nacht (vgl. dazu auch den Essay «Abschied von der Eigenbewegung»). Den Weg aus der Dunkelheit zur Lichtung müssen wir hingegen schon für uns selbst erfinden und beschreiten. Die Aufgabe, die mein Lieblingspalindrom stellt, wäre so betrachtet die Erfindung von Eigenbewegung, um sich selbstbestimmt auf den Weg heraus aus dem Kreiseln, hin zu eigenen Umlaufbahnen, zu den Lichtungen zu machen. Auch hier wieder Meister Eckehart:

«Was du an Werken nicht aus deinem Eigenem nimmst, die Werke sind alle tot vor Gott. Das sind die, zu denen du außerhalb deiner durch fremde Dinge bewegt wirst, denn sie kommen nicht aus dem Leben: darum sind sie tot, denn nur das Ding lebt, das Bewegung aus seinem Eigenen empfängt.» [5] Meister Eckehart (1978): a.a.O. Seite 40.

Klingt zugegeben ein wenig esoterisch. Bewegung aus dem Eigenen, wie soll das gehen, in einer mehr denn je vorgefertigten Welt, einer durch und durch fremdbestimmten Gesellschaft des Spektakels (vgl. dazu «Im Auge des Spektakels»). Wir brauchen jedoch nur mit Nietzsche Gott zu streichen, und uns mit Heidegger auf unser bodenlos leeres Selbst zurückgeworfen wiederfinden, um die Bedeutung von Meister Eckeharts Eigenbewegung für uns in unserer Zeit neu zu verstehen. Meister Eckehart, in seiner gelassenen Schlichtheit, brachte es auf den uralten Imperativ «Stirb und Werde!»: Zunächst müssen wir uns von den Fesseln befreien, mit denen uns die Welt der Erscheinungen, die wir heute das Spektakel nennen, an sich bindet, um dann den Weg zum Wesentlichen anzutreten.

Sterben hieße also in einem ersten Schritt, das Spektakel in sich zum verklingen zu bringen, um einen Ort zu schaffen, an dem sich eigene Bewegung überhaupt erst entwickeln kann. An diesem Ort müssen wir in einem nächsten Schritt lernen, uns aus dem Schlamassel herauszuziehen, in den wir hineingeworfen sind. Und, dies ist das paradoxe Element der Erfindung von Eigenbewegung, wenn wir wie der gute alte Baron Münchhausen beginnen, uns an den eigenen Haaren selbst aus der Falle zu ziehen, haben wir die Eigenbewegung bereits erfunden, sie ist plötzlich da und wir müssen nur lernen, ihrer kleinen eigenbewegten Drift gegen die großen fremdbestimmten Strömungen zu folgen. Werden wäre demnach die Erfindung und Speisung des kleinen eigenbewegten Rinnsals, bis wir auf seinen Wassern sicher auf den Wogen des Spektakels schippern können. Wenn ich es ein wenig blümerant formulieren darf.

Aus der Nacht in die Nacht werfen wir mit Meister Eckeharts Imperativ als Schlüssel also einen abschließenden Blick auf das Rätsel meines Lieblingspalindroms. Sein begrenztes, doch unendliches, auf sich selbst zurückgekrümmtes Universum ‹en miniature› versinnbildlicht auf der einen Seite das leblose Treiben in der Welt der Erscheinungen, der spektaklistischen Nacht, in deren Dunkelheit wir kreisen. In seiner auf sich selbst zurückgeworfenen Bewegtheit weist das Palindrom aber gleichzeitig den Weg heraus aus der Nacht: Wir müssen lernen, Bewegung aus unserem Eigenen heraus zu erfinden. Das große Enigma meines Lieblingspalindroms ist demnach die fortdauernde, selbstverzehrende Suche nach den Wegen zum Werden und eine mögliche Lösung die paradoxe Erfindung von Eigenbewegung, damit wir uns letztendlich selbst aus dem Licht gehen können. Den Weg, und damit die Eigenbewegung muß natürlich jede für sich alleine, und immer wieder neu erfinden. Und so wird sich auch das Rätsel meines Palindroms bis ans Ende der Tage für jeden Menschen in jedem Augenblick immer wieder neu stellen:

in girum imus nocte et consumimur igni

Et vice versa ad infinitum.



Kommentare:

7. Januar 2002

Liebe Edna,
obschon ich noch ganz benebelt bin vom ewigen Kreisen und mindestens drei Meter über dem Boden schwebe, komme ich langsam wieder runter und schreibe ein paar Zeilen des Dankes für Deinen schönen Text, Edna.
Über Jahrzehnte sammle ich nun schon Palindrome der unterschiedlichsten Klassen und Formate. Schon als kleiner Junge fing ich an. Sogar mein erstes Wort soll ein Palindrom gewesen sein: «Mom», so zumindest mein Dad, der auch gleichzeitig mein zweites war.
Dann ging alles recht fix und mein Schicksal schien besiegelt: «Wow», «Anna», «Otto», «SOS», «Legovogel», «Reliefpfeiler», «A TOYOTA», «Racecar», «Radar», «Kajak», «Lion oil», «Level», «Gag».
Dann die ersten komplexeren Sätze: «Madam, I'm Adam.», «So many dynamos!», «Was it a cat I saw?» oder auch mehr aus Verlegenheit «Was it Eliot's toilet I saw?». Bis hin zu: «Rats live on no evil star.» «Do geese see God?» in Kombination mit: «God's dog». Oder: «I madam, I made radio, so I dared, am I mad, am I?» Oder: «Tini saw a drawer, a reward was in it.» Und: «Some men interpret nine memos.» Und weiter: «I, Nora Camelot, stole macaroni.» (im übrigen ein genialer Filmtitel!) Zuguterletzt von einem Freund aus Afrika: «Did I set a cider? Pure, prosaic acacias? Omaha mosaic acacias? Or Peru predicates? I did.»
Der absolute Spitzenreiter aber ist bis zum heutigen Tage geblieben: «You can't swallow a cage, can you, but you can cage a swallow, can't you.» That's it, baby.
So kann man das Leben auch sehen und nehmen. Ganz im Sinne des legendären Monty Pythons Michael Palin, der dem Drom mit seinem Namen ja bekanntlich Pate stand.
Aber «in girum imus nocte et consumimur igni» ist wahrhaftig sehr schön und philosophisch und mystisch noch dazu.
Now I won!
Dein Sam Pling

_______


8. Januar 2002

Lieber Sam,
danke für den netten Dankesbrief. Das Palindrom aus Afrika kannte ich noch nicht, wirklich sehr schön. Da Deine Aufzählung mein Zweitlieblingspalindrom nicht enthält, dachte ich, ich erzähle Dir noch in aller Kürze etwas darüber.
In diesem Fall ist es weniger das Palindrom selbst, als die Geschichte, in die es eingebettet ist. Kennst Du David Lynchs legendäre Fernsehserie ‹Twin Peaks›? Ich habe bislang in keinem Bericht und in keiner Kritik einen Hinweis darauf gefunden, dass der heimliche Protagonist, das personifizierte Böse, das die Menschen ergreift, schlicht und einfach ‹Bob› genannt wird. Wenn wir voraussetzen, das in David Lynchs Filmen absolut nichts zufällig ist, stellt sich natürlich die Frage, was sich mein Lieblingsregisseur dabei gedacht hat. Obwohl er sich jeglicher Interpretation verweigert und Symbolismus fast als eine Beleidigung empfindet, erscheint mir die Grundkonstellation von ‹Twin Peaks› nichtsdestotrotz als eine metaphysische: die ganze Serie speist sich, wie das Leben, aus ineinander verwobenen Dualitäten. Und mittendrin das palindrome Bindeglied ‹Bob›, der aus einem schwarzweiß gekachelten phantasmagorischen Raum mit blutrot fließenden Vorhängen immer wieder in die filmische Realität eindringt. Mit einer ein wenig eingeengten Betrachtungsweise könnten wir also wie bei meinem Lieblingspalindrom auch hier wieder die simultane Bewegung in zwei Richtungen erkennen, aus der sich fast alles speist.
Übrigens gibt's in David Lynchs aktuellem Film ‹Mulholland Drive› ein Theater, das ‹Silencio› heißt, in der sich ein blaue Schachtel manifestiert, die eine nahezu heideggerische Seynsmetapher ist. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sich mein Lieblingsregisseur vom anstrengenden Widerstreit der Gegensätze zu einer amüsierten Verschwiegenheit bewegt. Zumindest ist die Struktur des Films so flüssig, wie es John Cage in ‹Silence› für jede wirklich natürliche Struktur einfordert. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Viva, Edna



Erstellt: 4. Januar 2002 – letzte Überarbeitung: 8. Januar 2002
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