BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Privaten (3): Über die Nacktheit»
von Henriette Orheim
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In den Jahren um 1968 wurde viel darüber nachgedacht, daß das ‹Private› ‹politisch› sei. Da dieser Gedanke in unserer heutigen ‹Ich›-Kultur überhaupt nicht mehr verstanden werden kann, möchte ich ihn in aller Kürze erläutern: Damit war einmal gemeint, daß die grundsätzlich kapitalistische Ausrichtung unserer Gesellschaft – die ‹Klassengegensätze›, die ‹patriarchalischen Machtverhältnisse›, das ‹Primat des Ökonomischen› und die mundane Raffgier – sich nicht nur in den Strukturen und Spielregeln sozialer Räume widerspiegele, sondern vor allem auch in die feinsten Verästelungen der sozialen und privaten Lebensdiskurse hineinreiche. Wenn also zwei Menschen eine ‹Beziehung› hatten – tut mir jetzt auch leid, lieber Leser und liebe Leserin, so hieß das eben früher, heute gibt es natürlich keine ‹Beziehungen› mehr, heute ist zwischen zwei Leuten, falls sie überhaupt etwas ‹zusammen› haben, so etwas wie «Guter Sex» –, war zu erwarten, so die Sage, daß kapitalistische Systemstellgrößen die Laufwege dieser Beziehung hinreichend definierten. Dahinter stand natürlich die Idee von Marx, daß das Da-Sein in einer bestimmten Gesellschaftsanordnung das ‹private› Bewußtsein beeinflusse. Albertine Devilder drückt das in ihrem kleinen Traktat «Über das Besiegte» so aus: «Das Individuelle ist […] das Sozialisierte, das Gesellschaftliche, das Allgemeine.»

Wenn wir uns nun heute im Beginn eines neuen Jahrtausends im Alltag und in den angesagten Medien umschauen, dann sieht es so aus, als sei dies in einer ‹Gesellschaft des Spektakels› umgekehrt und umgedreht, ja verdreht worden, als sei also das ‹Private› nun das ‹Öffentliche›:

  • In allen ‹einschlägigen› TV-Formaten (vgl. dazu «Die schlimmste Lichtquelle der Welt: 10 Thesen zum TV») werden ‹private›, ja intime Beziehungsdetails und Konflikte schlichter Menschen in einer medialen Öffentlichkeit ausgetragen (vgl. dazu «Abschied vom Privaten (2): Über das Privatfernsehen»);
  • Das Mobilphon bietet nicht nur endlich die Möglichkeit, die eigene Wichtigkeit über die in der Öffentlichkeit angenommene Anrufe herzustellen, sondern auch andere Menschen an den ehemals privaten ‹Gesprächsinhalten› («Ich bin jetzt gerade bei ALDI, dann gehe ich rüber und bin später bei Werner!») teilhaben zu lassen: Wir dürfen mithören! Warum auch nicht?
  • In zunehmender Weise verlagert sich der ehemals intime und private Vorgang des Einnehmens von Speisen, zu dem man sich vor hundert Jahren gar regelmäßig in einen eigenen Privatraum, das Speisezimmer, zurückzog, in die Öffentlichkeit. Es ist heute nicht nur völlig selbstverständlich, in öffentlichen Räumen oder Verkehrsmitteln Bier aus Dosen zu trinken, sondern auch mit einer dampfenden Dönertasche in öffentlichen Räumen zu wandeln oder gar in eine U-Bahn einzusteigen, um die Mitfahrenden mit den privaten, aber öffentlich vorgeführten Eßbemühungen zu beglücken (vgl. «Abschied von der Mahlzeit»). [1] Nur ganz nebenbei, lieber Leser, liebe Leserin: Selbst das «Schmecken» ist heute ein öffentlicher Akt geworden, allerdings in einem etwas anderen Sinn, als Sie sich das vermutlich vorstellen (vgl. «Abschied vom Schmecken»).

  • Abschied vom Privaten also? Könnte sein. Denn alle diese gesellschaftlichen Veränderungen verweisen auf eine Urquelle, die Albertine Devilder in ihrem schönen Essay «Abschied von der Arbeiterklasse» als stetig zunehmende Dominanz einer proletarischen Ästhetik skizziert hat. Und Albertine Devilder beschreibt auch, wie der Sieg der Arbeiterklasse über die Definitionsgewalt öffentlicher Ästhetik gleichzeitig den Abschied von der Arbeiterklasse als politisch aufgeladenem sozialen Raum bewirkt. Vielleicht läßt sich das Proletariat buchstäblich alles gefallen, weil es permanent dadurch bestochen wird, daß es sich in allen einschlägigen TV-Medien und sehr vielen Zeitungen selbst betrachten darf? Ein schöner Gedanke.

    Aber es geht noch weiter: Was gehört ganz unbedingt zu einer proletarischen Ästhetik? Das Nackte. Genauer: Nackte weibliche Körper. Noch genauer: Das Gebrüll «Ausziehen, Ausziehen!» Folgerichtigerweise werden heute zu allen nur denkbaren Gelegenheiten Körper enthüllt, wird Nacktheit gezeigt, wird das Nackte vorgeführt. Kein Film, in dem die Hauptdarstellerin nicht nach wenigen Minuten nackt präsentiert wird. Keine Schmierlappenzeitung ohne die obligatorische tägliche Nackte auf der Titelseite, keine bekannte Sportlerin, die sich nicht zur Nacktware machen ließe.

    Der bisher skizzierte Abschied vom Privaten hat in unserer derzeitigen ‹Gesellschaft des Spektakels› also noch eine ganz besondere Erscheinungsform: Nacktheit ist in großen sozialen Räumen unserer Gesellschaft nichts privates, nichts intimes mehr. Die eigene Nacktheit ist keine Privatangelegenheit, nein, sie ist etwas, das völlig selbstverständlich an die Öffentlichkeit gehört. Heute kann ein im Rahmen einer proletarischen Ästhetik ganz ‹normal› sozialisiertes Mädchen beim erstbesten Versprechen auf eine hinreichend große Öffentlichkeit das Recht auf Bedeckung, auf Schutz vor Entblößung unter allgemeinem Beifall aufgeben, indem es sich nicht entblödet, sich zu entblößen. Natürlich in der ihr intensiv nahegelegten Hoffnung, über ihr Aussehen etwas zu werden, zu erreichen, ‹gecastet› zu werden, ‹Erfolg› zu haben. Sie hat in ihrem kurzen Leben gelernt, «was eine tragen muß, von der die Leute reden sollen» [2] So Holger Gertz in der Südddeutschen Zeitung vom 19.7.2000, Seite 21.: Nichts.

    Honoré de Balzac sagte einmal: «Das junge Mädchen verfügt nur über eine einzige Koketterie und glaubt alles getan zu haben, wenn es sich ausgezogen hat; aber die Frau besitzt unzählige Koketterien und verbirgt sich unter tausend Schleiern; mit einem Wort: sie schmeichelt sämtlichen Eitelkeiten, und die Anfängerin schmeichelt nur einer.» [3] Zitiert nach Honoré de Balzac: Die Frau von dreißig Jahren. In: Die Menschliche Komödie. Gesamtausgabe in zwölf Bänden mit Anmerkungen und biographischen Notizen über die Romangestalten. Herausgegeben und eingeleitet von Ernst Sander. Band III, Seite 178. München (1998): Wilhelm Goldmann Verlag. btb-Taschenbuch Nr. 72442. Versteht diesen Gedanken da draußen noch jemand?

    Dieses Mädchen aber, das so gerne bereit ist, ihre Nacktheit auszustellen, hat eines wohl begriffen: Im Taumel der Medien ist das Nackte, ist der unbekleidete Körper zur Ware geworden. Und nun gilt es, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen und zu einem ‹Wirtschaftsfaktor› [4] So Verona Feldbusch in einer Bemerkung über sich selbst. zu werden. So wird eben dieses Mädchen nicht um die Frage kreisen, was sie lernen könnte, um ihr Leben einmal in eigener Verantwortung gestalten zu können, sondern wann sie sich endlich Nase und Busen auf die derzeitigen Normenvorschriften des ‹Aussehens› in einer ‹Gesellschaft des Spektakels› zurichten lassen wird.

    Blicken wir einmal kurz zurück, um den Unterschied, vielleicht auch den Schmerz über Vergangenes zu spüren: Es gab einmal eine Zeit, da wurde Nacktheit verborgen und gerade dadurch reizvoll. Da konnte der Anblick eines Fußgelenkes Gefühlsstürme auslösen. Die eigene Nacktheit wurde nur ganz wenigen Menschen aufgedeckt und gezeigt. Nacktheit, das Aussehen des eigenen Körpers, war eine strikte, behütete Privatangelegenheit. Und heute? Soviel Körperlichkeit war nie! Soviel Nacktheit war nie!

    Und das Nackte ist wie es ist. Karl Kraus sagte dazu: «Nacktheit ist wahrhaftig kein Erotikum, sondern Sache eines Anschauungsunterrichts. Je weniger eine an hat, umsoweniger kann sie der kultivierten Sinnlichkeit anhaben.» [5] In: Die Fackel, Nr. 251/52, S. 35, vom 28.4.1908. Nur: Wenn Nacktheit öffentlich wird, wenn immer mehr Menschen sich nackt präsentieren, ist dann nicht zu erwarten, daß das schlichte Nackte, für sich, an sich, langweilig und uninteressant werden wird? Erschöpft sich das nicht? Ja, und dann? Begräbt die Nacktheit ihren eigenen Reiz?

    Könnte sein, wenn wir uns umsehen, wie Nacktheit heute kalibriert wird. Vielleicht besteht unter denen, die sich für die Präsentation ihrer Nacktheit ‹entschieden› haben, tatsächlich die Befürchtung, daß das Nackte selbst ziemlich uninteressant werden könnte. Also helfen sie ihr nicht nur mit allerlei ‹Verbesserungen› auf, sondern auch mit vielerlei Aufhübschungen: Die eigene Nacktheit kann mit Tätowierungen veredelt, oder mit Metallapplikationen präzisiert werden, da wird das Nackte unter Schmerzen durchbohrt und verletzt, um es noch nackter erscheinen zu lassen (vgl. dazu «Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche»). Aber vermutlich wächst in diesem sozialem Raum schon während des momentanen Nacktheits-Tunings die Befürchtung, daß die so aufgepeppte Nacktheit wieder nur einen kleinen Moment Aufregung und Aufmerksamkeit verschaffen wird, um dann bereits wieder uninteressant zu werden. Wirkt der Gestus der Nacktheit heute nur noch für Sekunden? Ist das schlichte Nackte langweilig geworden? Angesichts von soviel Nacktheit nickt der TV-Junkie und gähnt. Er hatte eigentlich mehr erwartet.

    Wie nah beieinander die proletarische Definition von Ästhetik und medial und politisch geförderter Imbezillität liegen, zeigt sich in dem Rummel, der in den einschlägigen Medien um sogenannte ‹Luder› gemacht wird. Wie läßt sich ein ‹Luder› skizzieren? Nun: «Ihre Fähigkeiten sind begrenzt: Gut ausgebildete und ausgestellte sexuelle Primärreize, gute Laune verbreiten, kichern, Männer das Gefühl geben, tolle Hechte zu sein und bloß keine eigenen Gedanken. Bloß nicht schwierig tun, denn die Sorte Mann, von der sie leben wollen, erträgt keinen Widerspruch.» [6] Sibylle Berg in der Süddeutschen Zeitung vom 30.11.2001, Seite 17.

    Lieber Leser, liebe Leserin, stellen Sie sich mal eben irgendein momentan prominent gehandeltes Luder vor, und schon ist Ihnen klar, daß hier der Mann als Proletarier am Ziel seiner ästhetischen Wünsche, kühnsten Phantasien und wildesten Vorstellungen angelangt ist. Gafflust. Klar. Und was sieht der Mann als Proletarier? Eine vielfach chirurgisch ‹verbesserte› Körperhülle, und darin ein bemitleidenswerter Mensch, der seine Muttersprache nicht beherrscht und somit über vage ‹Eindrücke› nicht hinauskommt, die er dazu auch nicht ausdrücken kann (vgl. «Kopf vs. Bauch»).

    Proletenästhetik also, toll: Plumpst plumpe Nacktheit spektaklistisch in gierige Augen, die immer mehr von dieser Nacktheit sehen müssen, da sie längst nichts mehr sehen? Könnte sein. Und gegenüber einer schutzzbedürftigen, mitleiderregenden, rührenden, kindlichen Nacktheit sind diese Augen längst erblindet. Dafür gibt es dann andere explosive TV-Formate. Gafflust. Jetzt erst recht.

    Überdies: Was soll Nacktheit eigentlich aussagen? Warum dieser Drang zur (Selbst)Entblößung? Als würde die Enthüllung eines Körpers etwas über einen Menschen verraten! Nacktheit kann etwas verraten, aber nichts von dem, was sich ein Zeitgeistbesitzer derzeit vorstellen kann: Denn natürlich sind es fast ausschließlich Frauen, die ihre Nacktheit öffentlich machen. Wundert uns das? Nein, denn «Medien werden immer noch zu neunzig Prozent von Männern geleitet. Und die haben Freude an den Damen, die sie für die Verkörperung wahrer Weiblichkeit halten» [7] Sibylle Berg a.a.O. Mit der öffentlich ausgestellten Nacktheit von Frauen und Mädchen kann sich das finale Patriarchat also auf bequeme Weise täglich vergewissern, daß Frauen auf ihr Aussehen festgelegt und damit – Gott sei Dank! – Objekt bleiben. Scheint beruhigend zu wirken.

    Schluß: 1968 hieß es: «Das Private ist politisch!» Und heute heißt es: «Das Private ist das Öffentliche!» Diese beiden Sätze treffen sich nicht, und sie werden sich auch niemals treffen, denn sie bilden keine Parallelen, die sich irgendwo und irgendwann mal im Unendlichen berühren könnten. Nein, diese beiden Sätze kommen aus verschiedenen Galaxien, sie sind Lichtjahre voneinander entfernt. Der erste Satz ist schon vergessen, Vergangenheit, Geschichte, und damit in der ahistorischen Postmoderne endgültig vaporisiert. Der zweite Satz ist aktuell, ist Gegenwart, und er wird siegen.

    Aber ehrlich, was macht das schon, schließlich muß doch jeder selbst entscheiden, was er tut, oder ob sie sich auszieht. Wirklich? Tja, reingelegt, denn in der ‹Gesellschaft des Spektakels› gibt es in erschreckend weiten sozialen Räumen weder ein ‹individuelles› Bewußtsein, noch ‹Eigenbewegungen›. Statt dessen aber viele viele bewußtlose, ja stuporeske Sklaven, die an das TV und die reaktionären Schmierlappenzeitungen als ihre Bewußtseinsproduktionsmaschinen gekettet sind und dort genau die Bilder und Sprachskripte ‹auswählen›, die sie in der ‹Wirklichkeit› sehen sollen. Geht doch. Und geht gut.



    Kommentare:

    12. August 2002
    Hallo!
    Ich möchte anmerken, daß der Text nach meiner Meinung an mangelnder Trennschärfe leidet zwischen der medialen Nacktheit (BILD-Mädchen, Werbung) als Zutat des sprichwörtlichen Opiums, sowie Nacktheit als Mittel, die Aufmerksamkeit von maßgeblichen Leuten im Showbiz zu erlangen einerseits und der «eigenen», tatsächlich privaten, Nacktheit «an sich». (Wobei ich durchaus sehe, daß der Punkt des Artikels woanders liegt.)
    Henriette Orheim schreibt: «Nacktheit ist in großen sozialen Räumen unserer Gesellschaft nichts privates, nichts intimes mehr. Die eigene Nacktheit ist keine Privatangelegenheit, nein, sie ist etwas, das völlig selbstverständlich an die Öffentlichkeit gehört.»
    Außerhalb des Kontextes zweckgebundener Blöße ist das schlicht falsch. Trotz Mediensex allerorten, trotz Körperkult. Gerade der Aufmerksamkeitswert des nackten Körpers ist ein Indiz dafür. Gehen Sie, geehrte Frau Orheim, einmal nackt einkaufen, zum VHS-Kurs, in den Park! Wenn Sie nicht gerade das Selbstwertgefühl einer Königin haben, werden Sie das Unternehmen schnell für eine saublöde Idee halten.
    Ich finde die o.g. Unterscheidung wichtig, weil, wie dieses Beispiel zeigt, durchaus nicht das Private das Öffentliche ist. Der Gesellschaft wurde nur ein doppelter Boden (mehr) eingezogen: das Private eines jeden kann zum Öffentlichen werden –oder gemacht werden!–, wenn er nur klug (Hawking und sein Rollstuhl), dumm (Zlatko und sein Bruder) oder Status-Quo-nützlich (Frauen als Objekte) genug ist. 15 Minuten Ruhm.
    Zum Schluß weise ich noch auf einen interessanten Kommentar zur Ausstellung «NACKT» in Hamburg, die Berichte einiger Frauen, die sich dort nackt bewegten und den begleitenden Artikel über Baggerseen hin. Diese sind zu finden in: «Ketzerbriefe› Nr. 106, Ahriman-Verlag, www.ahriman.com.

    Grüße,
    Martin Eisenberg



    Erstellt: 14. Mai 2002 – letzte Überarbeitung: 26. September 2002
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