BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entleerte Wörter»
von Helmut Hansen
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Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne haben in ihrem sehr schönen Essay ‹Die Lehre vom Gegenteil› beschrieben und analysiert, wie eine große Zahl von Mitmenschen Gesagtes und Getanes nicht unter einen Hut bringen kann und - insbesondere - auch nicht in der Lage ist, diesen Widerspruch zu apperzipieren. Eingeklemmt in soziale Anforderungen, ohne ein Selbst-Monitoring, ohne eine Beobachtung zweiter Ordnung, sagen diese vielen Mitmenschen - gleichsam ohne ihr Zutun - das sozial Erwünschte, das dem momentanen sozialen Raum Angemessene. Dennoch meinen sie, ganz bei sich zu sein. Die Autorinnen schreiben: «Die dem eigenen Verhalten so arg widersprechende Äußerung ist keine Lüge, keine unbewußte Drängelei, sondern eine schlichte Selbstwert-Herstellung in einem konkreten sozialen Raum. Das ‹bevölkerte Selbst› (Gergen) hat sich ein ‹Volk› ausgesucht, zu dem es gehören möchte, dessen Meinung und Anerkennung ihm wichtig ist.»

Wenn die Rede in einem sozial texturierten Raum also eine bestimmte Richtung nimmt, sind die meisten Menschen - ohne ihr Zutun, und dennoch von ‹selbst› - dabei, und wenn die Rede eine bestimmte Wende nimmt, wenn die Sprachfäden etwas anders geknüpft werden, sind sie wieder dabei, ad libitum. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite ist zu beobachten, daß eben diese Klientel in bestimmten sozialen Räumen auch bestimmte Erwartungen hat hinsichtlich dessen, was sie denn hören möchte. Beim Betrachten einer beliebigen TV-Sendung muß es zum Beispiel lustig zu gehen, im Theater sollten die Schauspieler und Schauspielerinnen sich aufführen wie bei einer Trash-Talk-Show, und bei einer Beerdigung sollte etwas Tröstendes und Erbauendes zu vernehmen sein. Damit bin ich beim Thema.

Der große, alte Journalist Wolf Schneider meint, Wähler und Wählerinnen würden lieber Lügen Beachtung schenken, als etwas über die ‹Realität› zu erfahren. Tja, das könnte stimmen, und deswegen hören wir von Menschen, die etwas bewegen wollen, soviel entleerte Wörter, die die ‹Wirklichkeit› nicht nur euphemisieren, sondern verschwurbeln. Der Reihe nach.

Wir leben heute in einer Zeit, in der wir uns vom romantisch oder modern definierten Staat verabschieden müssen. Der Staat alter Prägung wird derzeit beerdigt: «Denn der finale Kapitalismus schafft sich seinen finalen Staat. Doch dieser ist kein Staat alter Ordnung mehr. Er ist schwach, ausgeplündert, leer und bis über alle Ohren verschuldet.» Das, was einmal ein Staat war, bleibt in der Postmoderne als leere Hülle zurück, die von Angehörigen politischer Parteien mit Hilfe einer Vielzahl von Stellen verwaltet wird. Staatsbürger und Staatsbürgerin werden dagegen in die Eigenverantwortung entlassen. Nur nebenbei: Wer sehen möchte, wie das ausschaut, sollte verschiedene Gegenden der Vereinigten Staaten von Amerika besuchen.

Nun kann die, die etwas bewegen und Herausforderungen annehmen will, dem ‹Volk› nicht sagen, wie es weiter gehen wird. Der ‹Abschied vom homo politicus› ist in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› so beinahe vollständig vollzogen, daß die, die etwas bewegen und Herausforderungen annehmen will, nur noch mit entleerten Wörtern zweierlei zu bewältigen hat. Zum einen muß sie das im finalen Kapitalismus scheinbar Unabwendbare nachhaltig beschwichtigen, beschönigen und verwedeln, und zum anderen muß sie die dem entleerten Staat zugehörigen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen besänftigen, begütigen und beruhigen. Wie könnte das klingen? So: «Gehen wir ins Offene, sehen wir die Chance vor dem Risiko. Wecken wir die Kraft der Freiheit für Solidarität und Gerechtigkeit. Setzen wir Ideen in Taten um!» [1] Angela Merkel, am 3.10.2006, dem ‹Tag der deutschen Einheit›, in einer Rede in Kiel.

Geht es um irgendeine Art von ‹Wirklichkeit›? Soll ich darauf hinweisen, wie vehement und mit welcher ‹Kraft› derzeit Freiheitsrechte eingeschränkt werden? Soll ich diskurrieren, was aus den Begriffen ‹Solidarität› und ‹Gerechtigkeit› geworden ist? Soll ich erläutern, wie wenige Menschen wie viel des gesamten Volksvermögens besitzen? Soll ich gar darüber philosophieren, was das bedeutet, wenn wir ins ‹Offene› gehen? Oder soll ich zynisch werden und sagen, ins ‹Offene gehen› bedeutet arbeitslos zu werden? Soll ich darüber nachdenken, daß es nicht darum geht, Ideen in Taten umzusetzen, sondern welche Ideen in welche Taten umgesetzt werden? Soll ich all dies tun? Nein, das brauche ich nicht. Eine Sinnsuche hinter diesen entleerten Wörtern erübrigt sich völlig, denn es war ja gar nicht so gemeint. Keine Politikerin will ‹die Kraft der Freiheit für Solidarität und Gerechtigkeit› wecken. Um Gottes Willen! Nein. Wo kämen wir dahin? Politiker sind - wie TV-Moderatoren - ‹Sonnenhüter›, sie achten darauf, daß die Sonne über unserer Gesellschaft des Spektakels niemals unter geht.

Ist es nicht erstaunlich, wie die meisten Menschen geradezu glücklich sind, bei Beerdigungen oder Reden einer Bundeskanzlerin mit dem Sonnenschein entleerter Wörter ruhig gestellt zu werden? Wie sie jubeln über etwas, das sie nicht verstanden haben und das sich auch gar nicht verstehen läßt? Nein, das ist nicht erstaunlich und auch nicht bemerkenswert, denn es scheint sehr angenehm zu sein, von entleerten Wörtern und ‹dormitiven› Erklärungen (Gregory Bateson) in den kognitiven Schlaf gewiegt zu werden.

Es stellt sich im eigentlichen nur eine einzige ‹wirkliche› Frage: Welche Freude und welche moralische Rechtfertigung kann eine Frau dabei empfinden, Menschen mit entleerten Wörtern die Ohren zuzukleben? Ist die wesentlichste Voraussetzung, um in der ‹Politik› Erfolg zu haben, sich so zu geben, wie diejenigen, die einen wählen, sind? Also ohne Selbst-Monitoring und ohne die Fähigkeit, Beobachtungen zweiter Ordnung vorzunehmen? Hm, sieht so aus.



Erstellt: 4. Oktober 2006 - letzte Überarbeitung: 5. Oktober 2006
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