BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ein Vortrag. Ein Vortragender. Ein Publikum. Möglichkeiten.»
von Henriette Orheim
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«Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen,
so entwickelt sich im Publikum sogleich Mißtrauen in mehrfacher Richtung:
zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe,
mitzureden, ob er "kompetent" sei,
sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten,
und schließlich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe.
Es handelt sich, mit drei Worten,
um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats.»
(Egon Friedell)

Lieber Leser, liebe Leserin, können Sie sich an meinen kleinen Essay ‹Ein Künstler. Ein Publikum. Ein Applaus. Kein Ausweg.› erinnern? Ja? Wie schön! Nein? Nun, in diesem Essay schilderte ich das Grunddilemma des Künstlers: Was soll er vom Applaus, dem Beifall, der Zustimmung seines Publikums halten, wenn er doch weiß, daß dieses seine künstlerische Leistung, seine Performanz, gar nicht beurteilen kann, und daß er somit immer auf seine eigenen Maßstäbe angewiesen sein wird. [1] Wir müssen es einfach sagen: Dieser Essay führte zwei Menschen, die wir sehr lieben, einen wunderbaren Künstler und ein Fräulein Wunder, in Liebe zusammen. Wie wunderbar, wenn ein Essay so etwas bewirken kann!

Wir hatten nun in der Redaktion die Idee, diese Schlüsselszene, dieses immer wiederkehrende kritische Ereignis einmal zu deklinieren über das Szenario eines Vortrags hinweg. Unser Mentor Artus P. Feldmann hat in dem schönen kleinen Text ‹Ja oder Nein?› über einen ‹wissenschaftlichen› Vortrag berichtet, den er vor Jahren einmal in einer Provinz-Universität hielt. Falls Sie, lieber Leser und liebe Leserin, diese Erzählung, nein, diese Reportage noch nicht kennen, lesen Sie sie – als Vorbereitung für das, was wir hier untersuchen werden.


Ein Vortrag

Grenzen wir zunächst einmal das Objekt unseres Interesses ein. Unter einem Vortrag verstehen wir im folgenden keine Rede eines Politikers, der zum einen mit entleerten Wörtern und zum anderen mit vehementem ‹Badspeak› über seine politischen ‹Gegner› seine Zuhörer erfreut und dem Rest der Menschheit auf den Geist geht. Nein.

Wir interessieren uns auch nicht für trockene wissenschaftliche Fachvorträge, die auf Seiten des Vortragenden nur Routine und Desinteresse spiegeln.

Wir möchten hier aber auch nicht launige Festvorträge untersuchen, die als Klasse für sich gelten können und die, wenn sie erfreulich ausfallen, sich mit Artus P. Feldmanns dekonstruktivistischer «Geschichte der drei nicht gehaltenen Eröffnungsvorträge» [2] Gedanken zur Eröffnung des 1. Bochumer Symposions für Konstruktivismus und Psychologie am 23. 5. 1991. oder seinem frei schwebenden und frechen Wortgetümmel «Wirklichkeitsraum, Möglichkeitsraum, Weltenraum» [3] Festvortrag anläßlich des 10 jährigen Bestehens der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung; gehalten am 3.10.1996 in Bochum, erschienen in «soziale wirklichkeit», jenaer blätter für sozialpsychologie und angrenzende wissenschaften, heft 1/97, Seite 48–54. messen lassen müssen. [4] Es sei angemerkt, daß die von Artus P. Feldmann in diesem Vortrag frei erfundene und Robert Musil zugeschriebene wissenschaftliche Untersuchung zu einigen Nachfragen aus der Wirklichkeitswelt führte. So geht das, wenn Wissenschaftler das, was sie lesen, für bare Münze nehmen. Déformation professionnelle.

Und wir sprechen auch nicht über Reden, wie sie auf Familienfeiern oder gar Beerdigungen gehalten werden. Die aufgesetzte Feierlichkeit, die abgenutzten Sprachbilder und oft auch noch die schlimme Stimmlage des Vortragenden, ach nein, lassen wir das.

Was bleibt? Was ist des Untersuchens wert? Nun, wir interessieren uns für Vorträge wissenschaftlicher oder künstlerischer Art, mit Hilfe derer ein Vortragender etwas sagen und ausdrücken möchte, was ihm am Herzen liegt, was ihm wichtig erscheint. Wir interessieren uns also für Vortragende als Künstler.


Ein Vortragender

Lieber Leser, liebe Leserin, wir kennen viele Vortragende, die etwas vortragen, ohne daß sie von dem Vorzutragenden berührt oder gar begeistert sind. Das wird oft noch als notwendiger wissenschaftlicher Gestus der Neutralität verstanden. Der ‹Stoff›, das ‹Wissen› um diese Angelegenheit, ist eben so, die Daten sind eben so, und der Vortragende erfüllt nur eine inhaltliche Pflicht. Wie uninteressant. Wie ganz frei von Gedanken! Ganz abgesehen davon, daß ein ‹Stoff› niemals eben so ist, wie er ist. Denn immer gibt es einen anderen ‹Stoff›, ein anderes Wissen, welches dem zuerst genannten ‹Stoff› widerspricht und diesen nur als Lehrmeinung entlarvt. Immer? Immer!

Da ist also ein Vortragender, sagen wir, er sei Wissenschaftler, der vor einem Publikum über etwas spricht, was ihm wichtig erscheint. Ein Thema, das ihm nicht als ‹Stoff› erscheint, sondern über das er nachgedacht hat. Ein Thema, das in ihm ein Bedürfnis, einen Drang geweckt hat, seine Gedanken dazu anderen mitzuteilen. Ein Thema, auf das er sich gut und lange vorbereitet hat.

Und da dem Vortragenden das Thema am Herzen liegt, hat er sich in der Vorbereitung auf den Vortrag auf alle möglichen Fragen und Einwände eingestellt, er hat extra noch einmal komplexe Unterschiede bedacht, Definitionen eruiert und Seitenfelder studiert, die mit seinem Thema unbedingt zusammen hängen.

Und dann hält er den Vortrag über ein Thema, das ihm wichtig erscheint. Und wie reagiert das Publikum?


Ein Publikum

Nun, meistens ist es höflich, doch schon nach einer kurzen Zeit des Vortragens sieht der Vortragende in den Gesichtern der Zuhörer Ablehnung, Wohlwollen oder gar nichts, also Gleichgültigkeit und Langeweile. Die wenigen Ablehnenden sind eigentlich immer die interessanteren Leute im Publikum, denn sie lassen sich vom Vortrag berühren, beunruhigen oder gar bedrohen. Sie sind es auch, die nach dem Vortrag sogleich mit einer finalen Frage die Grundidee und den Duktus des Vortrags in Frage stellen möchten. Die Gleichgültigen und Gelangweilten sind nicht zu erreichen. Und die Wohlwollenden regen in aller Regel beim Vortragenden den Verdacht, sie hätten die Essenz des Gesagten nicht verstanden.

Immerhin, das Publikum applaudiert nach dem Vortrag kurz und geht zur Tagesordnung, das heisst, zum Nicht-Nachdenken oder zu den belegten Brötchen über. Auf die spannenden Fragen, auch die sehr wesentlichen und kritischen, die sich der Vortragende während der Vorbereitung selbst gestellt hat und nun selbst stellen würde, kommt niemand. Auch nicht die wenigen Ablehnenden. Die sind ja mit ihrer Ablehnung beschäftigt.

Gelegentlich kommt nach dem Vortrag ein Zuhörer vorbei, durchaus wohlwollend, und zeigt, daß er den Impetus des Vortrags nicht verstanden hat. Oder er macht einen durchaus tröstlichen Vorschlag, wie jetzt möglichst viele Leute mit den doch so interessanten Gedanken des Vortrags zu infizieren wären. Oder er erzählt eine lange Geschichte aus seiner persönlichen Erfahrung, die am Thema des Vortrags vorbei geht. Oder so.


Möglichkeiten

Und nun? Zunächst einmal müssen wir als ‹Soziale Konstruktivistinnen› festhalten, daß ein wissenschaftlicher Vortrag in dem Sinn, wie wir ihn hier geschildert haben, eine Angelegenheit ist, die nicht funktionieren kann. Und wir meinen nicht, daß dies daran liegt, daß die Gruppe der Gelangweilten und Desinteressierten bei den Zuhörern so groß ist. Nein, wir müssen das ganz grundsätzlich betrachten: Wenn es keine ‹instruktive Interaktion› gibt, wenn wir auf Grund unserer Autopoiese, unserer unvermeidlichen ‹Selbstorganisation›, alle ‹informationell geschlossen› sind, dann ist das mit dem Zuhören und Verstehen äußerst kompliziert. Denn entweder ist eine Spur des zentralen Gedankens des Vortrags in den fremden Köpfen im Publikum, oder nicht. Und falls ja, falls da eine Ahnung ist, dann gibt es zwei Möglichkeiten der Aufnahme, der Apperzeption: Assimilation oder Akkomodation. Assimilation heißt ja nur, daß einige aus dem Publikum die Grundgedanken des Vortrags an die in ihrem Gehirn vorherrschenden Meinungen anpassen und so für sich selbst als im Prinzip bekannt ausgeben. Was meist ein Irrtum ist.

Doch Assimilation, die unbeschwerte Einordnung der ‹neuen› Gedanken in das eigene Meinungsgebäude, ist nicht das, was der Vortragende sich wünscht. Ihm würde eine Akkomodationsleistung der Zuhörer viel besser gefallen. Ja, da ihm das Thema am Herzen liegt, hofft er auf eine Strukturveränderung, eine Neuorientierung von Gedanken in den Köpfen der Zuhörer. Aber die Menschen sind halt nicht so, wie sie sein könnten. Und wie sie sein sollten sowieso nicht.

Denn das Publikum ist mit allzuviel Neuheit schnell überfordert, es hat keine Geschichten zu den neuen Gedanken im Kopf und jeder Schritt von einem Paradigma zum nächsten ist ein mühsamer und unangenehmer Test auf die eigene Ambiguitätstoleranz. Das geht vermutlich leichter, wenn man schon mehr als eine Weltsicht hat und weiß, dass irgendwo im Nebel noch andere Welten liegen, wird aber zunehmend unmöglich, wenn die ganze Evidenz über die man verfügt, für das bereits Bekannte spricht.

Artus P. Feldmann sagte einmal: «Erfahrung macht dumm.» Und Ludwig Wittgenstein sagte es, wie so oft, noch schöner: «Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.» (Über Gewißheit. § 141.) So ist es. Nur, wer läßt sich die Zeit, wer räumt es sich in tätiger Muße ein, in Ruhe den Sonnenaufgang zu erleben?



Kommentare:


Liebe Henriette!

Was für ein wunderschönes Thema! Ich trage oft über Themen vor, die mir am Herzen liegen und ich mache mir auch oft diesen Gedanken: «Was will ich erreichen, und was kann ich erreichen beim Publikum?»

Ich denke, vielleicht sollte ich dem Publikum aber auch die Freiheit einräumen, mit dem, was es von mir mitbekommt, zu machen, was es will. Vielleicht bin ich gar nicht kompetent, zu entscheiden, ob ich ‹verstanden› wurde, weil ich eventuell das Verständnis des Zuhörers nicht ‹richtig› verstehe.

Es gibt in dem Wissenschaftsfeld, in dem ich tätig bin, einen alten, mittlerweile pensionierten Professor, dessen Vorträge und Aufsätze mich über 20 Jahre sehr inspiriert haben. Ich denke, ich habe viel von ihm gelernt und auch in meine eigene Arbeit übernommen, und er war und ist auch ein sehr leidenschaftlicher und begnadeter Vortragender. Er ist dem aktuellen Betrieb und den Moden des Faches gegenüber sehr distanziert, kritisch und radikal: «Eigentlich sollte man alles ganz anders machen», meint er, und er ist leider auch für z.T. destruktive Kritik an anderen berüchtigt.

Ich habe mehrfach Kontakt mit ihm gehabt und mich mit ihm ausgetauscht. Mittlerweile habe ich einen besseren Draht zu ihm, aber lange Zeit hat er (anscheinend) nicht anerkannt, dass ich seine Arbeit ‹verstehe›, obwohl ich das von mir guten Gewissens so sagen kann. Ich habe sie bloss nie in einer Weise einfach assimiliert, dass er sie allzu genau in dem, was ich selber erarbeitet hatte (und was ihn teilweise geärgert hat) wieder erkennen konnte.

Das hat mich lange betrübt, und es hat sich mittlerweile wie gesagt verbessert. Vor allem denke ich, letzten Endes liegt es an mir, was ich aus solchen Inspirationen mache, und sie müssen nicht vom Vortragenden gewürdigt werden.

Vielleicht ist ein Vortrag eine grosse Inspiration für jemanden, der hinterher mit etwas ganz anderem selber herauskommt. Und vielleicht ist es tröstlich und schön für den Vortragenden, sich daran zu erinnern, dass er mit dem von ihm Gesagten eventuell eine ganz ungeplante Wirkung haben kann.

Wenn ich einen Vortrag halte, setze ich mir als Ziel, dass dort jemand sitzt, der irgendetwas Interessantes mit dem Vorgetragenen anfangen kann. Vielleicht etwas, in dem ich meinen Einfluss gar nicht wieder erkenne. Manchmal etwas, wovon ich gar nichts merke. Und bloss, dass es einen Menschen dort gibt, einen einzigen.

Dass alle halbe Jahr oder so mal jemand kommt, der sagt: «Von dir habe ich wirklich was mitgenommen - und habe in mir etwas daraus gemacht.» (Und ich brauche nicht einmal zu wissen, was genau.)

Das ist eigentlich sehr viel.

Beste Grüsse,
Christian aus London



Erstellt: 07. August 2012 – letzte Überarbeitung: 09. August 2012
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