BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ein Künstler. Ein Publikum. Ein Applaus. Kein Ausweg.»
von Henriette Orheim
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«Michael hob den Kopf:''(...) Wenn ich dich ansehe,
während du malst, seh' ich deinem Gesicht an,
daß du weißt, du malst nicht für die, die jetzt leben.''
Der Meister lachte: ''Wie seh' ich denn aus, wenn ich male?
''Du lächelst,'' sagte Michael.
Claude Zoret lachte von neuem mit dem kräftigen Lachen des Bauern,
das ihm bisweilen eigen war:
''Ja, weil ich weiß, daß meine Mitmenschen doch nichts verstehen.''
''Nein,'' sagte Michael und schüttelte den Kopf,
''du lächelst, weil Du weißt, daß welche kommen werden,
die dich verstehen.''»
(Herman Bang) [1] Herman Bang (1919): Michael. Berlin: S. Fischer Verlag. 9.-16. Tausend. Seite 14.

Prolog

Ich habe mehrere große Leidenschaften, zwei davon konzentrieren sich auf Künste und Künstler(innen). Ich liebe es zum einen, des Sonntags auf den unterschiedlichsten Vernissagen herum zu streifen und ‹real anwesende› Künstler und Künstlerinnen zu betrachten, die - mehr oder minder stolz - ihr Geschaffenes einem - meist geneigten - Publikum offenbaren. Und ich liebe es zum anderen, ‹real anwesende›, körperlich ‹konkrete› Künstler und Künstlerinnen auf irgendwelchen Bühnen zu beaugenscheinigen, wie sie - singend, tanzend, sprechend, musizierend - ein mögliches Kunstwerk ausmalen, ausdrücken, veranschaulichen und damit erst herstellen.

Vor einigen Tagen nun besuchte ich einen hier im Ruhrgebiet überaus populären, ja, schon zur Tradition gewordenen ‹Live-Act›, und während ich mich an den gelungenen ‹Darbietungen› der Künstler und dem periodisch überwältigenden Applaus des Publikums erfreute, drängten sich mir Gedanken über die besondere Liaison zwischen Künstlern und ihrem Publikum auf. [2] Hier muß ich allerdings erwähnen, daß ‹ich selbst› viele Jahre auf großen und kleinen Bühnen herumgesprungen bin und die in diesem Traktätchen vorgestellten Gedanken schon seit langem mit mir herumtrage. Jetzt endlich kann ich versuchen, sie auszudrücken. Ja, ich geriet so ins Grübeln, daß ich einigen der ‹Highlights› des Programms sehr unkonzentriert gegenüber stand. Schade? Nein, es war schön, denn es gibt nichts schöneres, als eine Idee für ein neues Traktätchen zu entwickeln.


Ein Künstler

In der Postmoderne behauptet nicht nur jeder Mensch, über ein ‹Ich› zu verfügen, welches bei der Auswahl zwischen verschiedenen ‹Dauertiefpreisen› bei ‹Discountern› oder ‹Dauertiefformaten› im Privat-TV radikale Entscheidungen zu fällen in der Lage sei, sondern auch ein einzigartiges Kunstwerk zu sein, welches sich in der besonderen Wahl von Bekleidungen, Applikationen und ‹Verschönerungen› der Körperhülle zeige. Ok, lassen wir den verwirrten Systeminsassen unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› diesen Glauben an ihre Einzigartigkeit und Besonderheit, freuen wir uns über die stupenden Meisterleistungen des großen ‹Intelligenten Designers›, räumen wir jedem beliebigen Kulturteilnehmer den Status als einzigartige Kreation ein und fragen uns nur: Ist ein lebendes Kunstwerk auch ein Künstler? Hm. Nein.

Was ist überhaupt ein Künstler? Ach, das ist leicht zu sagen. Der von mir hochverehrte Egon Friedell - ich erinnere hier nur an seine 1927 erschienene schlicht unglaubliche ‹Kulturgeschichte der Neuzeit› [3] Egon Friedell (1984): Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg. München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. - hat es in einem seiner endgültigen Aphorismen so ausgedrückt: «Der praktische Mensch ist dazu verurteilt, sein Leben lang nur jene Ausschnitte der Wirklichkeit zu erblicken, die ihm förderlich sind; der Künstler hingegen betrachtet die Welt, als ob sie völlig unnütz wäre: daher vermag er ihre Totalität zu erfassen.» [4] Zitiert nach: Egon Friedell (1985): Kulturgeschichte Griechenlands. Leben und Legende der vorchristlichen Seele. München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. Seite 58/59.

Folgen wir dieser großartigen Definition, sehen wir, daß wir nicht einer im Prolog zu diesem Traktat angelegten Übereinkunft folgen sollten, unter Künstlern und Künstlerinnen schlicht Mitmenschen zu verstehen, die eigene Werke schaffen oder die Werke anderer Künstler aufführen und zum Leben erwecken. Nein, Egon Friedell grenzt hier deutlich ein und ab: «Der Unterschied des Künstlers von den übrigen Menschen besteht darin, daß er die Dinge nicht auf ihre Nützlichkeit hin ansieht, sondern auf ihr Wesen.» [5] Zitiert nach: Egon Friedell (1985): Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O. Seite 58.

Ein Mensch, der Bilder malt, Gedichte schreibt oder Traktate erfindet, ist also nicht per se ein Künstler. Da muß etwas hinzukommen, eine besondere Weltsicht, ein besonderer Umgang mit der Welt, ja, eine besondere Betonung eines Weltausschnittes, der in einem Kunstwerk zu einer Eigentlichkeit erhoben wird, natürlich jenseits einer ‹Realität›: «Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den künstlerischen Aspekt. Kunst ist subjektive und parteiische Bevorzugung gewisser Wirklichkeitselemente vor anderen, ist Auswahl und Umstellung, Schatten- und Lichtverteilung, Auslassung und Unterstreichung, Dämpfer und Drücker.» [6] Zitiert nach: Egon Friedell (1984): Kulturgeschichte der Neuzeit, a.a.O. Seite 18.

Vielleicht können wir es so sagen, lieber Leser und liebe Leserin: Eine Künstlerin wird die ‹Wirklichkeit› immer auf eine bestimmte Art formen, die mit ihrem ‹Wesen›, ihrem Gewordensein verknüpft ist. Kunst entsteht aus einer ‹Eigenbewegung›. Und schon sind wir bei dem großen Unterschied zwischen Künstlern und ‹Sonnenhütern›, denjenigen also, die in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› unermüdlich dafür sorgen müssen, daß die Sonne niemals untergeht, und die deswegen als prominente Besonderheit, ja gar als ‹Künstler› gefeiert werden. Ein Künstler folgt eigenen Pfaden, ein ‹Sonnenhüter› ist immer ‹middle of the road›, ist immer da, wo alle anderen auch schon sind, und sagt - auf dem kleinsten gemeinsamen sprachlichen Nenner beharrend - immer nur das auf, was die ‹Herren des Wörterbuches› gerne hören, und was somit alle anderen, insbesondere seine Bewunderer, auch sagen könnten. Nur nebenbei: Natürlich sucht ein ‹Sonnenhüter› unbedingt und immer die Nähe von Künstlern, leider gelingt ihm dies jedoch fast nie. Statt dessen ist er nur von Prominenz umgeben, also den unkünstlerischen Produkten seines eigenen Waltens und Wirkens.

Karl Kraus hat die von mir hier strapazierte Differenz einmal so ausgedrückt: «Ein Agitator ergreift das Wort. Der Künstler wird vom Wort ergriffen.» [7] Zitiert nach: Die Fackel Nr. 272 vom 15.2.1909, Seite 43. Ja, jetzt sind wir ganz nahe an dem Feld der Bedeutungen, das ich herbeizaubern wollte.


Ein Publikum

Gehen wir weiter und schauen auf die, die auf Künstler schauen. Ein ‹darstellender›, singender, musizierender Künstler ist ja meist nicht allein, ihm gegenüber steht oder sitzt ein mehr oder minder zahlreiches Publikum. Und das Publikum ist immer ein Abbild sozialer Räume, es spiegelt in seinem Verhalten ganz hervorragend die in einer bestimmten Phase einer Kulturepoche ‹angesagten› Themen, Bedeutsamkeiten und Eigentlichkeiten. Da in der Postmoderne der Begriff ‹Publikum› vom Begriff ‹Einschaltquote› nicht mehr zu trennen ist, haben sich die Inhalte, die ‹Formate› dessen, was dem Publikum zugemutet wird oder werden kann, sehr verändert. Goethe hat schon vor langer Zeit ein Grundprinzip des postmodernen TV-, Info- und Soap-Spektakels vorweggenommen. Er sagt es so:«Fragen Sie sich selbst und fragen Sie viele andere: was gibt einer Begebenheit den Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß, den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt, unser Gefühl nur leicht berührt und unseren Verstand völlig in Ruhe läßt. Jeder Mensch kann ohne die mindeste Rückkehr auf sich selbst an allem, was neu ist, lebhaften Anteil nehmen; ja, da eine Folge von Neuigkeiten immer von einem Gegenstande zum andern fortreißt, so kann der großen Menschenmasse nichts willkommener sein, als ein solcher Anlaß zu ewiger Zerstreuung und eine solche Gelegenheit, Tücke und Schadenfreude auf eine bequeme und immer sich erneuernde Weise auszulassen.» [8] Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Briefe aus der Schweiz. Gesamtausgabe des Volksverbandes der Bücherfreunde. Berlin: Wegweiser Verlag. Band 23/24. Seite 185.

Und Goethe wird noch deutlicher: «Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.» [9] Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Band 4. Gütersloh: Bertelsmann. Seite 204.Tja, das derzeitige Dauer-Unterhaltungsprogramm wird wohl für ‹rohe› Menschen, für ein ‹rohes› Publikum gemacht.

Hat das Publikum Sachverstand? Bestimmt gibt es etliche Mitmenschen, die sich mit dem Theater oder bestimmten Musikarten auskennen. Sachverstand und Liebe zum präsentierten Kunstobjekt werden heute jedoch von einem unbändigen Wunsch nach Amüsement übertrumpft. Das merkt man sehr deutlich im Theater. Es gibt eine Vielzahl von Leuten im Publikum, die mit einer hohen Lachbereitschaft ins Theater kommen. Bei den geringsten Gesten, dem kleinsten Minenspiel, der raschesten Bewegung lachen sie. Auch wenn es gar nichts zu lachen gibt. Ihr Lachen hat mit dem Topos des Theaterstücks nichts zu tun. Ganz unbeeinflußbar und autopoietisch lachen diese Leute selbst ernsteste Begebnisse, dramatischste Aktionen, bedrückendste Interaktionen, ja, begnadetste schauspielerische Leistungen weg.

Im derzeitigen Theaterpublikum gibt es keine Zeit für Stille und Bedenklichkeit. Man läßt sich ‹unterhalten›. Klar, das ist das Erbe der TV-Kultur. Und damit sind wir an einem zentralen Punkt bei der Beschreibung des Publikums, dem Künstler heute gegenüberstehen: «Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.» [10] Zitiert nach: Die Fackel Nr. 241 vom 15.1.1908, Seite 1.


Ein Applaus

Schauen wir noch auf den schmalen Bereich von Möglichkeiten, mit denen ein Publikum einem Künstler nach einer Performanz Zustimmung oder Ablehnung zum Gesehenen und Gehörten mitteilen kann. Beifallsäußerungen und Beifallsbezeugungen lassen sich im Theater und in Konzerten leicht mit einem Klatschen bewerkstelligen. Sollte der Beifall sich zu einer Beifallskundgebung oder gar zu einer Ovation erheben, läßt sich zum Händeklatschen noch allerlei an stimmlichem Jubel anbringen. Und das Mißfallen wird gerne durch ‹Buh-Rufe› ausgedrückt.

Der oft völlig fehlende Sachverstand und der unbändige Unterhaltungswunsch im Publikum zeigt sich deutlich am Ende eines Theaterstücks, denn den meisten Applaus bekommen nicht die Schauspieler oder Schauspielerinnen, die die schwierigste Rolle oder den darstellerisch intensivsten Part zu spielen hatten, sondern die mit der extravertiertesten Rolle, dem expressivsten Part. Leise Töne sind nicht gefragt. Der Kasper gewinnt.


Kein Ausweg

Jetzt kann ich die verschiedenen Punkte zusammenführen und versuchen, die Frage zu beantworten, die mich schon seit vielen Jahren beschäftigt: Wie denkt ein Künstler über ein applaudierendes oder nicht applaudierendes Publikum? Wie kann ein Künstler mit Beifall umgehen?

Schauen wir uns das an. Die eine Alternative ist die, daß das Publikum nach irgendeiner Vorstellung applaudiert. Nun, der Künstler, wenn er ein Künstler ist und nicht irgendetwas anderes, kann und wird diesen Applaus nicht akzeptieren. Er kann diese Möglichkeit nicht wählen, da er weiß, daß das Publikum in seinem und mit seinem Applaus seine Leistung als Künstler gar nicht bewerten kann. Ein Künstler kann nur nach eigenen inneren Maßstäben handeln und nach diesen gut oder weniger gut sein. Das Publikum kann ihm bei dieser Einschätzung und Bewertung nicht helfen. Aus dem Applaus, und insbesondere aus sehr viel Applaus, ergibt sich nichts, denn der Künstler verachtet den Applaus - und damit das Publikum.

Die andere Alternative besteht darin, daß das Publikum nach irgendeiner Vorstellung nicht oder nur höflich-wenig applaudiert. Nun, der Künstler, wenn er ein Künstler ist und nicht irgendetwas anderes, kann und wird diesen ausbleibenden Applaus nicht akzeptieren. Er kann diese Möglichkeit nicht wählen, da er weiß, daß das Publikum in seinem und mit seinem mangelnden Applaus seine Leistung als Künstler gar nicht bewerten kann. Ein Künstler kann nur nach eigenen inneren Maßstäben handeln und nach diesen gut oder weniger gut sein. Dennoch wünscht er sich Applaus, obwohl er weiß, daß das Publikum seine Leistung gar nicht würdigen kann. Der Künstler mag ohne Applaus nicht auskommen, denn es gibt ja keine anderen Rückmeldungsmöglichkeit des Publikums. Da ist ein Paradox, ein verzwicktes Problem, aus dem es keinen Ausweg gibt - und ich kenne keinen Künstler und keine Künstlerin, die nicht mit dieser Ausweglosigkeit hadert.

Der Künstler hat also zu wählen zwischen zwei gleich unangenehmen Dingen. Akzeptiert er den Applaus, verachtet er sich selbst, da er das applaudierende Publikum verachtet, verachten muß; leidet er unter dem ausbleibenden Applaus, verachtet er sich wiederum selbst, da er sich von einem Publikum, welches er verachtet, einen Applaus wünscht. Was auch ein Künstler tun und denken mag, er bleibt allein, auf sich selbst zurückgeworfen. Ein Künstler ist die Urform der Eigenbewegung, der Prototyp des Existenzialisten.

Wer kann hier helfen, wer kann zum Retter in der Not werden? Ach, wie immer ist Karl Kraus, der ‹Kardinal von Wien›, unsere Zuflucht, unser Wegweiser, unser Leitstern: «Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt ''noch mitgeht''. Der Künstler sollte auch bis dorthin die Begleitung ablehnen.» [11] Zitiert nach: Die Fackel Nr. 272 vom 15.2.1909, Seite 47.



Erstellt: 15. Februar 2006 - letzte Überarbeitung: 15. Februar 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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