BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zur Infantilität eines neoliberalen ‹Ichs› am Beispiel einer Plagiatorin»
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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«Auch die Dummheit hat Ehre im Leib,
und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott,
als die Gemeinheit gegen den Tadel.
Denn diese weiß, daß die Kritik recht hat,
jene aber glaubt's nicht.»
(Karl Kraus)

«Es ist leicht erklärlich,
daß die Unredlichen und selbst die Dummköpfe
in der Welt immer besser fortkommen
als die ehrlichen und die geistreichen Leute.
Den Unredlichen und Dummköpfen fällt es leichter,
mit dem Ton der Welt Schritt zu halten,
der im allgemeinen aus Unredlichkeit und Dummheit besteht.»
(Nicolas Chamfort)

Prolog

Kennen Sie das, lieber Leser, liebe Leserin? Da hält man einem Kind oder einem unreifen Menschen ein Vergehen vor, und wird im Gegenzug überschüttet von einer Fülle von ganz dummen Ausreden aller Art, die sich weder ergänzen noch einen Sinn ergeben. Wir hören keine Entschuldigung, sondern Rechtfertigungen und gar Anklagen noch und noch. Seltsam? Nein. So geht das bei Kindern und infantilen Menschen.

Filmisch umgesetzt ist das ganz lustig, wenn ein Mann auf die Frage, warum er nicht zur Hochzeit erschienen sei, stammelt: «Mein Anzug war noch in der Reinigung, mein Wecker hat nicht geklingelt, ich hatte die Ringe verlegt, die S-Bahn fiel aus, es regnete so stark, etc. etc.»

In diesem kleinen Essay sind wir in der glücklichen Lage, einmal die Infantilität einer neoliberalen Person untersuchen zu dürfen, welche bei ihrer Dissertation als Plagiatorin überführt wurde. Wie das? Lesen Sie einfach weiter und freuen Sie sich über unsere Wirklichkeitsprüfung.


Die Erklärung

In fast allen Diskursen zum Thema ‹Plagiat› wird übersehen, daß die Plagiatoren am Ende ihres jeweiligen Werkes einst eine Erklärung und Versicherung abgaben, in ihrer Arbeit nicht betrogen zu haben. Das klingt etwa so:

«Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die Dissertation mit dem Titel ‹XXX› selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe. Andere als die von mir angegebenen Quellen und Hilfsmittel habe ich nicht benutzt. Die den herangezogenen Werken wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen sind als solche gekennzeichnet.»


Der Fakultätsrat

Nachdem der Fakultätsrat einer Universität nun der neoliberalen Person den Doktorgrad entzogen hatte, wollte diese sich damit nicht zufrieden geben. Sie fühlte sich im Recht und den Fakultätsrat im Unrecht. Deswegen klagte sie vor einem Verwaltungsgericht, was ihr ‹gutes Recht› ist.


Die Klage

Im folgenden werden viele, aber nicht alle ‹Argumente› der neoliberalen Klägerin aufgeführt, die in ihrer ‹argumentativen› Gewichtigkeit vor dem Verwaltungsgericht dazu führen sollten, daß sie ihren Doktorgrad behalten dürfe. Die Klägerin, also die Plagiatorin, beklagt im einzelnen nun dies:

  • Es stehe zwar außer Frage, dass ihre Dissertation Textpassagen enthalte, die ohne eine weitere Kenntlichmachung als Zitat aus fremden Texten übernommen worden seien. Damit unterscheide sich ihre Arbeit jedoch nicht von einer Vielzahl anderer Dissertationen, in denen dies ebenso der Fall sei.
  • Gegen die Verfasser anderer Dissertationen, bei denen die gleichen Fehler vorlägen, werde nicht vorgegangen, woraus sich eine Verwaltungspraxis ergebe, die auch in ihrem Fall angewandt werden müsse.
  • Bei zwei Fällen an der Medizinischen Fakultät der Universität, an der sie promoviert habe, seien geringere Sanktionen als die Entziehung des Doktorgrades verhängt worden, woraus sich eine Verwaltungspraxis ergebe, die auch in ihrem Fall angewandt werden müsse.
  • Da der Erst- und Zweitgutachter die Plagiate nicht schon bei der Annahme und bei der Bewertung ihrer schriftlichen Dissertation entdeckt hätten, begründe sich daraus ein Vertrauensschutz dahingehend, daß ihr der Doktorgrad nicht entzogen werden dürfe.
  • Voraussetzung für die Entziehung des Doktorgrades sei, dass dessen Verleihung rechtswidrig gewesen sei. Es lägen jedoch keine Anzeichen dafür vor, dass die beiden Gutachter damals rechtswidrig gehandelt hätten.
  • Bei den in Frage kommenden aufgelisteten Textstellen ließen sich verschiedene Fallgruppen unterscheiden. Zum Teil handele es sich um Stellen, die die Darstellung historischer Ereignisse beträfen. Da die Arbeit einen historischen Hintergrund habe, sei die Darstellung historischer Ereignisse lediglich eine erläuternde Umgebung für die Schlussfolgerungen, die sie aus dem Quellenstudium gezogen habe. Es liege in der Natur der Sache, dass diese historischen Ereignisse – oft in sehr ähnlicher Weise – bereits von vielen Autoren beschrieben worden seien.
  • Bei der zweiten Gruppe von Textstellen handele es sich um allgemeine Begriffsdefinitionen. Bei der Beschreibung für das Verständnis der Hintergründe notwendiger Begriffe habe sie teilweise eine ähnliche oder dieselbe Formulierung wie andere Autoren verwandt, ohne dies ausdrücklich zu kennzeichnen. Diese Begriffe seien vielfältig in Lehr- und Handbüchern erläutert worden.
  • Eine weitere Fallgruppe seien Passagen, die handwerkliche Defizite aufweisen würden. Darauf hätten beide Gutachter in ihren Voten hingewiesen und dies auch in ihre Beurteilung einfließen lassen. Die Autoren, deren Werke sie verwendet habe, seien in der unmittelbaren Umgebung der betroffenen Textstellen, als Fußnote oder im Literaturverzeichnis aufgeführt.
  • Die problematische Kategorie der technischen Defizite betreffe lediglich einen geringen Teil der Dissertation (weniger als 1 % bezogen auf die Zeichenzahl ohne Leerstellen). Angesichts des geringen Umfangs der problematischen Stellen sei zu fragen, ob diese nicht unterhalb der Bagatellgrenze blieben.
  • Der Promotionsausschuss habe die Frage der materiellen Rechtmäßigkeit nicht nach Maßgabe des Gesetzes geprüft, sondern sich allein mit der Frage, ob ein ‹Plagiat› vorliege, beschäftigt.
  • Die erheblichen Nachteile, die der Entzug des Doktorgrades für die Klägerin in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht nach sich ziehe, habe der Promotionsausschuss bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.
  • Auch der denunziatorische Charakter der Sache spiele in den Erwägungen des Fakultätsrates zu Unrecht keine Rolle.
  • Der Promotionsausschuss habe auch die Tatsache, dass seit der Verleihung des Doktorgrades und dessen Entziehung mehr als zehn Jahre vergangen waren, nicht hinreichend berücksichtigt. Der Ausgangsbescheid sei deswegen ermessensfehlerhaft, da nicht alle relevanten Gesichtspunkte in die Ermessensentscheidung eingestellt worden seien.
  • Der Promotionsausschuss hätte eine Nachbesserungsauflage als milderes Mittel vorsehen müssen oder er hätte es bei einer wissenschaftlichen Rüge belassen können, weil der erhebliche Zeitablauf seit Abgabe der Dissertation zu einer Verfestigung ihrer rechtlichen Position geführt habe.
  • Durch die öffentliche Debatte über ihre Dissertation sei das Präventionsziel (Vermeidung von Plagiaten in Dissertationen) bereits erreicht.
  • Nach dem Inkrafttreten des Landeshochschulgesetzes bestehe für § 22 der Promotionsordnung keine tragfähige gesetzliche Grundlage mehr.
  • Nicht der Promotionsausschuss, sondern der Fakultätsvorstand sei für den Erlass der Entziehungsverfügung zuständig gewesen.
  • Zudem seien die Mitglieder des Promotionsausschusses nicht ordnungsgemäß bestimmt worden.
  • Für die Wahl des Promotionsausschusses sei der Fakultätsrat, nicht aber der Große Fakultätsrat zuständig gewesen.
  • Die Einrichtung eines solchen Großen Fakultätsrates obliege jedoch ausschließlich dem Senat. Eine Delegation dieser Entscheidung auf den Fakultätsrat selbst sei nicht zulässig.
  • Es sei zudem erforderlich, dass die Gremien - hier der Große Fakultätsrat - im Rahmen einer ordnungsgemäß einberufenen Sitzung entscheiden. Zur Prüfung, ob die Sitzung am xx ordnungsgemäß einberufen worden sei, seien die Einladungen vorzulegen.
  • Weiter sei fraglich, ob der TOP 7 ‹Wahl des Promotionsausschusses› wirksam in die Tagesordnung der Sitzung des Großen Fakultätsrats am xx aufgenommen worden sei.
  • Die Wahl des Promotionsausschusses sei darüber hinaus verfahrensfehlerhaft gewesen, da sie nicht geheim und mit Stimmzetteln erfolgt sei.
  • Zudem seien die Mitglieder des Promotionsausschusses zu Unrecht im Block gewählt worden. Eine Blockwahl würde es den Wählern unmöglich machen, individuelle Mehrheiten für die einzelnen Personen herbeizuführen.
  • Ob es rechtlich statthaft gewesen sei, den Promotionsausschuss speziell für den Fall der Klägerin zu konstituieren, sei zweifelhaft.
  • Zum anderen sei die abschließende Sitzung des Promotionsausschusses am xx nicht ordnungsgemäß geleitet worden, da Prof. Dr. F. und Frau St. als Sachverständige anwesend gewesen seien, ohne dass zuvor ihre Hinzuziehung beschlossen worden sei.
  • Es gebe gute Gründe dafür, dass der Promotionsausschuss nichtöffentlich verhandele. Jede weitere anwesende Person nehme Einfluss auf den Verlauf der Entscheidungsfindung, und die Sachverständigen hätten ein Rederecht.
  • Des weiteren sei die Beschlussfähigkeit des Gremiums nur gegeben, wenn die Sitzung ordnungsgemäß geleitet werde. Da zur ordnungsgemäßen Sitzungsleitung eben auch die Feststellung der Beschlussfähigkeit vor Eröffnung der Sitzung sowie die Beschlussfassung über die Zuziehung von Sachverständigen gehörten, fehle es an dieser Voraussetzung. Ein nicht beschlussfähiges Gremium könne auch keine rechtmäßigen Beschlüsse fassen.
  • Wenn der Promotionsausschuss zuständig gewesen wäre, hätte auch die Widerspruchsentscheidung durch ihn – und nicht durch die Prorektorin für Studium und Lehre – erfolgen müssen.
  • Die Entscheidung, einen akademischen Grad zu entziehen, sei keine Entscheidung aus dem Bereich des Prüfungsrechts, denn elementarer Bestandteil prüfungsrechtlicher Entscheidungen sei die Bewertung von Prüfungsleistungen, worum es vorliegend offenkundig nicht gehe.
  • Außerdem handele es sich bei der Promotionsordnung auch nicht um eine Prüfungsordnung im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 1 LHG. Eine entsprechende Anwendung sei ausgeschlossen, da darin ein Verstoß gegen das Verbot, Eingriffsgrundlagen aus Analogien zu schließen, liege.
  • Es sei zudem zweifelhaft, ob Frau Prof. Dr. N. tatsächlich das für Lehre zuständige Rektoratsmitglied der Beklagten sei.
  • Etc. Etc. Etc.


  • Das Urteil

    «Im vorliegenden Fall hat die Klägerin nicht nur einzelne Sätze, sondern vielmehr erhebliche, teilweise mehrseitige Passagen – zum Teil&xnbsp;samt Fußnoten – aus fremden Texten anderer Autoren wortgleich oder nahezu wortgleich übernommen, ohne dies hinreichend kenntlich zu&xnbsp;machen. Ihre Darlegungen erwecken den falschen Eindruck, Formulierung und Inhalt des Textes stammten insoweit als eigene gedankliche Leistung von ihr. […] Die aufgezeigten Übernahmen aus verschiedenen Quellen weisen die Gemeinsamkeit auf, dass längere Passagen wortwörtlich übernommen worden sind, ohne dass dies in ausreichender Weise kenntlich gemacht worden wäre. Für einen Großteil der betroffenen Passagen ist eine Quellenangabe überhaupt nicht erfolgt.» (Verwaltungsgericht Karlsruhe, Aktenzeichen 7 K 3335/11)


    Zur Infantilität des spätmodernen ‹Ichs› am Beispiel einer neoliberalen Plagiatorin

    Hat Ihnen die kleine Auflistung der Einwände gegen den Entzug des Doktorgrades gefallen, lieber Leser und liebe Leserin? Ist diese Menge an Einwänden nicht hinreißend? Läßt sich das noch überbieten? Kaum. Fragen wir uns: Welcher Person sehen wir uns hier gegenüber? Welches ‹Ich› beklagt sich hier über den unangemessenen Umgang mit seinem unangemessenen Verhalten?

    Nun: Als Freunde und Freundinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› kennen Sie unsere wegweisenden Texte zur Überhöhung des ‹Ichs› in der Spätmoderne. Wir erinnern hier an den Essay ‹Neo-Individualliberalismus und das spätmoderne ‹Ich››, in dem wir gezeigt haben, wie sich kollektive Interessen in der Spätmoderne erledigt haben. Strukturelle Probleme, gesellschaftliche Verwerfungen, die Ausdehnung des spätmodernen Prekariats, das alles kann ernsthaft nicht mehr diskurriert werden, wenn doch jeder angeblich machen kann, was er will. Der Satz, die Werbebotschaft der Postbank, ‹Unterm Strich zähl ich!›, faßt die derzeitige kulturelle Situation am besten zusammen. Dieser Satz wird uns noch lange verfolgen, denn besser kann wirklich keiner ausdrücken, was die entpolitisierte Mehrheit umtreibt.

    Hier haben wir also ein neoliberales ‹Ich›, das ‹Als ‹Ich› in den Nullerjahren› geprägt wurde. Und völlig folgerichtig fragt sich dieses ‹Ich› in völlig solipsistischer Weise nicht, was ist die Welt an sich, sondern was ist sie für mich? Was kann die Welt für mich tun, unabhängig von dem, was ich getan habe? Und wiederum völlig folgerichtig erwartet das ‹Ich›, daß sich die Welt da draußen ihm gegenüber so verhalten möge, wie es das ‹Ich› eben erwartet.

    Lustig ist nun, dass dieses ‹Ich› in die Politik gegangen ist. Warum? Interessiert es sich für das Gemeinwohl? Fühlt es sich der Pólis verpflichtet? Fühlt es sich der der eigenen Partei nahe stehenden Klientel verpflichtet? Ist es am eigenen ‹Fortkommen› interessiert? Gute Fragen.

    Wundert es uns, daß diese neoliberale Plagiatorin nicht zur Reflexion neigt, daß sie keine Peinlichkeit ausläßt? Nein. Denn ‹Zur Legende vom reflexiven ‹Ich›› haben wir das wesentliche bereits gesagt. Denken wir an ein Kind, dem ein Vorwurf gemacht wird, und das daraufhin ruft: ‹Aber der Tobias hat das doch auch gemacht! Nur ich darf das nicht, das ist gemein!› Und hier: ‹Aber in anderen Dissertationen ist auch abgeschrieben worden, nur ich darf das nicht. Das ist gemein!›

    Wenn wir den Extrakt dieses Essays zusammenfassen, dann sehen wir eine neoliberale Plagiatorin, die sich vermeintlich für Politik, für die Pólis, also für das Gemeinwohl interessiert, und die nach einem eklatanten Fehlverhalten, nach einem großflächigen Betrug in ihrer ‹Dissertation›, sich weder einer Schuld bewußt ist, noch Merkmale von Scham zeigt oder deutlich macht, daß sie ein Gewissen hat. Nein, wir sehen weder Demut noch Reue noch Redlichkeit, sondern ein infantiles Beharren auf den eigenen Interessen.

    Ein kleines klagend-kläffendes ‹Ich› besteht darauf, daß seine Weltsicht richtig und angemessen sei. Schuld hätten die anderen. Schämen müssten sich die anderen, die dem ‹Ich› gegenüber so viele unverständliche Fehler machten und die dem ‹Ich› im Wege stünden. Denn eins ist klar, unterm Strich, ‹Ich› bin ‹Ich›.

    Das wirkt ziemlich dumm. Und es ist auch traurig, aber als ‹Volksvertreter›, der ‹mit dem Ton der Welt Schritt hält›, ist dieses ‹Ich› schon punktgenau richtig.

    _______


    Kommentare:


    Verehrte Autorinnen,

    Ihr Essay ist ein starkes Stück. Noch nie wurde mir so klar, wie sich – ich darf hier mal verallgemeinern – Vertreter des Volkes, die ja für die Legislative zuständig sind, also für das Schaffen von Gesetzen, Regeln und Vereinbarungen, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft ermöglichen und begleiten sollen, wie sich diese Volksvertreter also von einem ganz grundlegenden Prinzip der Ethik entfernt haben, ja, nicht nur das, sondern daß sie auch meinen, dieses ganz grundlegende Prinzip habe für sie keine Geltung.

    Schauen wir uns Kant‘s kategorischen Imperativ an. Es gibt verschiedene Formulierungen desselben, was uns nicht stören soll. Wir wählen diese:
    «Handle stets so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»
    Übersetzt heißt das: Wenn jemand etwas tut oder etwas beabsichtigt, dann sollte er sich überlegen, ob er möchte und es gut fände, wenn sein Tun oder sein Wille zu einer allgemeinen Regel, zu einem Gesetz für alle würde. Klar, dieser Imperativ ist in den ‹gesunden Menschenverstand› in der fragenden Formulierung abgesackt: «Und wenn das jetzt alle machen würden?»

    Ich gestatte mir mal, den Kant‘schen kategorischen Imperativ nur an diese fünf ‹Argumente› der Plagiatorin anzulegen:

  • Wenn ich betrüge, dann darf man mir diesen Betrug nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben, da andere Leute in gleicher Weise betrügen. (Wählen wir als Kontrast einen schlichten Dieb: Wenn ich stehle, dann darf man mir diesen Diebstahl nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben, da andere Leute in gleicher Weise stehlen.)
  • Wenn mein Betrug zwei Prüfern nicht aufgefallen ist, dann darf man mir diesen Betrug nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben. (Wenn mein Diebstahl zwei Detektiven nicht aufgefallen ist, dann darf man mir diesen Diebstahl nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben.)
  • Wenn mein Betrug erst nach mehr als 10 Jahren auffällt, dann darf man mir diesen Betrug im Nachhinein nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben. (Diebstahl? Hier lassen wir eine ‹Verjährung› gelten, auch wenn sie unethisch ist.)
  • Wenn mein Betrug erhebliche Nachteile für mich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht nach sich zieht, dann darf man mir diesen Betrug nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben. (Wenn mein Diebstahl erhebliche Nachteile für mich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht nach sich zieht, dann darf man mir diesen Diebstahl nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben.)
  • Wenn mein Betrug dazu führt, daß ich öffentlich denunziert werde, dann darf man mir diesen Betrug nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben. (Wenn mein Diebstahl dazu führt, daß ich öffentlich denunziert werde, dann darf man mir diesen Diebstahl nicht vorwerfen und er darf keine Konsequenzen für mich haben.)

  • Erstaunlich? Ja, diese ‹Übersetzung› und diese Deklination über einen schlichten Dieb, macht vieles klar. Volksvertreter – ich darf hier mal verallgemeinern – wähnen sich im Zeitalter der Postdemokratie und der zunehmenden Refeudalisierung frei von grundlegenden Regeln der Ethik, die sie allerdings schändlicherweise bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Munde führen. Ethik ist, das lernen wir hier, etwas für ‹Ethikkommissionen› und Sonntagsreden.

    Das Entscheidende ist aber, wenn wir uns die fünf obigen ‹Argumente› betrachten, daß hier eine Volksvertreterin, die sich ja der Pólis und dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen müßte, ihren ureigenen Betrug als Maxime legitimiert haben möchte, als Urteil, im Namen des Volkes. Von Kant‘s kategorischem Imperativ ist weit und breit nichts zu sehen!

    Leider ist diese Volksvertreterin nur ein Musterbeispiel, ein Prototyp, ein Vorbild für die allgemeine Tendenz in unserer postdemokratischen, spektaklistischen und final-kapitalistischen Kultur, das eigene ‹Ich› über die Pólis, das Eigenwohl über das Gemeinwohl zu stellen. Darin zeige sich, so die heutige Interpretation, doch nur ihre Klugheit. Wer nichts fordert, kriegt nix. Und, nur nebenbei, wer nicht versucht alles zu kriegen, was ihm ‹zusteht›, wer tatsächlich an das Gemeinwohl oder Kant‘s kategorischen Imperativ denkt, wird entweder als dumm oder als ‹Gutmensch› bezeichnet.

    Beste Grüße

    von Maria Helene

    11.04.2013



    Ins Netz gestellt am 5. April 2013
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