BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Wahrheit über Männer und Frauen (3): Das Versprechen der postmodernen Erzählung» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

Die Wahrheit über Männer und Frauen interessiert Zeitgeistinsassen der Postmoderne kulturgemäß in keinster Weise. Warum? Weil alle einstmals großen Themen der Moderne wie Politik (vgl. dazu den «Abschied von der Arbeiterklasse»), Ethik (vgl. dazu den Essay über «Wirklichkeit, Wahrheit, Wissenschaft, Ethik»), oder gar «Emanzipation» obsolet geworden sind (vgl. dazu insbesondere das beeindruckende Arbeitspapier Nr. 11 zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne). Die großen Entwürfe sind eingestürzt. Heute steht jede für sich allein und für sich alleine ein: Jede ist ihr eigener Entwurf. Die großen, die alle bewegenden Themen sind so verschwunden, bis auf eins, außer dem einen und alle andere überragenden: Der eigenen Wichtigkeit (vgl. «So viel ‹Ich› war nie»!). Und dieser so wichtigen eigenen Wichtigkeit muß sich heute jede zu jeder Zeit versichern. Die meisten Menschen versuchen dies, indem sie ihren ihre Wichtigkeit dokumentieren sollenden Entwurf von sich – als Individualität getarnt – ununterbrochen zeigen, präsentieren, sichtbar machen, vorführen (vgl. «Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche»).

Es verwundert uns also in keinster Weise, wenn eine freundliche Einsenderin uns klar zu machen versucht, daß es ‹die› Wahrheit über Männer und Frauen gar nicht geben könne, da schließlich «jeder sein eigener Wahrheitsentwurf sei.». Schließlich müsse heute jeder selbst entscheiden, wie er sich gebärde, ob er z.B. eine ‹Frau› oder ein ‹Mann›, hetero- oder homosexuell sein wolle. Dem stimmen wir aus vollem Herzen zu, lieber Leser und liebe Leserin, und wir erinnern ganz bescheiden an Albertines Texte über Persönlichkeitspsychologie, Personen als Systeme und Personen als Texte!

Denn die Postmoderne hat mehrere überaus positive Seiten (vgl. dazu insbesondere das 4. Kapitel im oben schon erwähnten Arbeitspapier Nr. 11). Und gerade hier, bei der Möglichkeit zur Selbstbestimmung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, bei der eigenen Definition der Wahrheit über Männer und Frauen, gibt es viel mehr Möglichkeiten, als dies früher überhaupt einmal denkbar war! Ja, die Postmoderne winkt hier – die Fähigkeit zur Eigenbewegung allerdings vorausgesetzt – mit ganz wunderbaren Versprechungen. Und von einem dieser Versprechen, von einer dieser positiven Seiten der Postmoderne, handelt dieser kleine Essay.

Zur Erinnerung und zur Vorbereitung ein ganz kurzer Rekurs auf unseren Grundkurs: In den kommunalen Systemen, in die wir verstrickt sind, lernen und begreifen wir die zentralen und für unsere Kultur wichtigen Unterschiede – wie etwa die Geschlechtszugehörigkeit – und erzeugen diese Unterschiede und uns selbst (d.h. unsere Psyche, unsere Sozialität und unseren Körper) als Schnittstelle von Unterscheidungen immer wieder und in jedem Kontext. Das nennen wir die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit, von Gender und Körper.

Und ein noch kürzerer Rekurs auf unser Traktätchen vom «Erbe der modernen Erzählung»: Auch im Jahr 2001 ist von Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen weit und breit nichts zu sehen. Und die moderne Erzählung will uns weismachen, daß das so in Ordnung sei, da «die Natur» es so gewollt habe, es so in Psyche und Körper von ‹Männern› und ‹Frauen› hineingelegt habe.


2. Wissensproduktion im Rahmen der postmodernen Erzählung

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich in der postmodernen Erzählung über Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen bewegen, fragen sich bei ihren Wirklichkeitsprüfungen (Erläuterungen zur ‹Methodik› gibt das Arbeitspapier Nr. 10) innerhalb des kulturellen Diskurses der Geschlechterproduktion: Was wird hier gespielt? Und sie versuchen nun Tag für Tag an Hand kleiner Beispielen, Sequenzen und Szenen zu zeigen, wie Frauen und Männer von der Kultur zu dem gemacht werden, was sie dann geworden sind. Und warum die meisten Menschen eben nicht selbst entscheiden können oder wollen, ob sie eher männliche oder weibliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Denn – leider – wird fast immer den Menschen nicht der Raum gegeben, diese Entscheidung im Rahmen einer Eigenbewegung zu fällen. Und so äffen wir – bewußtlos – kulturelle Leitbilder nach, hangeln uns an den straff gespannten Leitseilen der kulturellen Geschlechterproduktion entlang. Die verheerenden Einflüsse der einschlägigen Medien sind hier gar nicht zu abzuschätzen.

Aber das ändert sich gerade. Das wird schon. Es werden immer mehr, die die Genderkonstruktion ihrer Person selbst in die Hand nehmen! Denn die großen kulturellen Unterscheidungen und Stereotypisierungen der Moderne wirken heute einfach albern: Männlich, weiblich! Mein Gott! Ist diese Unterscheidung was für Doofe, die nur ein «Blubb» zustande bringen? Die Welt ist kompliziert geworden. Es gibt in der Postmoderne viele interessante lokale Unterscheidungen jenseits der Geschlechterdifferenz. Warum? Weil wir im Rahmen der Kommunikationsglobalisierung immer mehr verschiedene kommunale Systeme (Mikrosysteme) mit eigenen lokalen Regeln und Unterscheidungen kennenlernen. Denken wir z.B. wir nur mal einen Augenblick an die völlige Ausdifferenzierung der Stilrichtungen in der Musik! Oder denken wir daran, wie Homosexualität heute keineswegs mehr weder eine hochpolitische Gefährdung des Staatswesen ist (außer vielleicht noch in Bayern), noch eine psychiatrische Angelegenheit, die ausgetrieben werden muß. Nein, nein, Homosexualität ist – wie Bi- oder Heterosexualität – ein Lebensstil. Sonst nix.

Wie läßt sich nun Wissen schaffen über die interaktive Konstruktion von Männer und Frauen? Nun, wir müssen natürlich mit einer Gesellschaftsanalyse beginnen, einem von uns definierten Problem- oder Konfliktraum: Das Erbe der modernen Erzählung hinterläßt uns eine heterosexuelle Matrix, in der es ausschließlich um die Trennung von Menschen in eine starke und eine schwache Seite geht: Männer frontstage, Frauen backstage!

Und wenn wir wissen wollen, wie Geschlechtsunterschiede lokal, sozial, im Diskurs hergestellt werden, müssen wir ganz genau hingucken. In tausenden von Situationen wird genau das hergestellt, was dann als Unterschied in der Biologie gefeiert wird. Nur eine Szene zur Anregung: Ein Mathematiklehrer gibt in der 10. Klasse eine Klassenarbeit zurück. Wir achten nur auf zwei diskursive Interaktionen: der Lehrer gibt einem Jungen die mit ‹mangelhaft› bewertete Arbeit in die Hand und sagt: «Na, hast Du diesmal überhaupt nix für getan?» Dann wirft er dem daneben sitzenden Mädchen ihre mit ‹mangelhaft› bewertete Arbeit auf den Tisch, guckt sie an und sagt: nichts. Bei dem Jungen sieht der Lehrer also die Ursache für die schlechte Note ganz offensichtlich in einer passageren Faulheit, und bei dem Mädchen in einer unabänderlichen, genetisch bedingten Inkompetenz, bei ihr wäre also leider jedes Wort zuviel, da nichts anderes zu erwarten war. Das sind die lokalen Details, in denen wir sozialisiert werden!! Jetzt, lieber Leser und liebe Leserin, addieren sie diese winzigen lokalen Szenen zu den vielen ‹möglichen› diskursiven Interaktionen, in denen Junge und Mädchen etwas über ihre Fähigkeiten lernen können. Das rechnet sich. Alles klar?

Jetzt zur Sprache. Das Sprechen von Männern und Frauen entwickelt sich ja nicht aus ihren Körpern heraus, sondern im Diskurs. Fast alle Mädchen können früher, besser und gewitzter sprechen als Jungs. Nur, später, wenn es um Macht und Positionen geht, nützt ihnen das nichts mehr. Es gibt Tausende von Untersuchungen, die zeigen, wie Männer in Diskursen mit Frauen diesen über den Mund fahren, sie beliebig unterbrechen, ihnen mangelnde Logik und fehlende Sachlichkeit vorwerfen usw. (Wir empfehlen hier noch einmal sehr gerne das Buch von Mary Crawford). Und Männer dürfen sich das herausnehmen, weil sie Männern sind. Aber das ändert sich gerade. Das wird schon. Es werden immer mehr, die sich das nicht gefallen lassen. Und die dann ganz ‹männlich› zurückfunkeln. Ist doch nicht schwer.

Noch eine winzige Beobachtung von Gloria Steinem dazu, wenn Frauen und Männer jeweils unter sich sind: Eine Gruppe von Männern straft den Schwächsten in der Gruppe, eine Gruppe von Frauen straft die Stärkste in ihrer Gruppe. Ist das nix? Aber – wie gesagt – das ändert sich gerade. Das wird schon.


3. Zur Auflösung von Geschlechtszugehörigkeit als zentralem sozialen Ordnungssystem

Lieber Leser, liebe Leserin, weil sie diesem Traktätchen tatsächlich bis hierher gefolgt sind, möchten wir Sie nun dafür belohnen, indem wir Ihnen ein paar Anleitungen geben für einen erfüllten, spannenden und lustigen dekonstruktivistischen Alltag. Zum Glück sind wir heute in der Lage, vor jeder sozialen Situation uns überlegen zu können, in welcher ‹Erzählung› wir uns bewegen wollen, welcher Erzählung über Geschlechterkonstruktion wir folgen wollen. Wollen wir uns jeden Tag endlos schminken und uns auf das reduzieren lassen, was moderne Männer uns so eben noch zubilligen: Aussehen? Oder wollen wir eine Dotcom-Firma aufmischen und tough und straight 65 Stunden die Woche arbeiten? Oder beides? Wollen wir für 9 Mark die Stunde irgendwo an einer Kasse sitzen und träumen? Wie, lieber Leser und liebe Leserin, Sie meinen, das muß doch jeder selbst entscheiden? Stimmt und stimmt nicht.

Wenn unsere psychische und körperliche Geschlechtszugehörigkeit das Produkt sozialer Strukturierungs- und Definitionsprozesse ist, und wenn die Idee der angeblich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit die Herrschaft der Männer sichert, dann sollten wir, immer wenn wir das wollen, immer, wenn es nötig ist, ja, für die Mutigen, vielleicht bei jeder sich uns bietenden Gelegenheit, das zweigeschlechtliche Koordinatensystem dekonstruieren und die geltenden Spielregeln untergraben! Das macht nicht nur Spaß, das tut uns auch gut! Wie könnte das gehen?


Konstruktionsverweigerung

Wir sollten uns in Wissenschaft und Alltag strikt weigern, an der angeblichen Differenz mitzukonstruieren. Alle differenztheoretischen Konzepte, wie etwa die Aufwertung des Männlichen und die Abwertung des Weiblichen, sind Unsinn. Sie stabilisieren nur! Ebenso ist es Unsinn, strikt das Weibliche aufzuwerten, wie es einige moderne Feministinnen tun. Jede Situation, die eine Geschlechter-Differenz konstruiert, sollten wir dekonstruieren, oder, wenn das nicht geht, ihren Aufforderungsgehalt zurückweisen oder boykottieren! Nur ein paar Blitzlichter: Sind wir etwa mit einem netten Mann in einem Restaurant und der Kellner blickt zwecks Bestellung der Speisenfolge ‹unseren› netten Mann an und der will tatsächlich für uns unsere Speisenwahl bestellen, sollten wir das zurückweisen. Wir können selbst sagen, was wir gerne essen würden. Und wir sollten den netten Mann nicht mehr so nett finden.


Ur-Plausibilitäten in Frage stellen

Wir sollten in Alltag und Wissenschaft die Plausibilität der Zweigeschlechtlichkeit untergraben, in Zweifel ziehen und wo immer das möglich ist, auch lächerlich machen! Die Welt teilt sich nicht längs einer Mann-Frau-Linie. Nur ein Blitzlicht: Die Vergeschlechtlichung von Berufsarbeit ist doch schierer Unsinn! Wieso sollen Frauen beispielsweise nur gut in helfenden Berufen sein? So gibt es etwa ganz hervorragende Zahntechnikerinnen, die haben aber nun gar keine Nähe zum Patienten. Laßt uns diesen Unsinn stoppen!


Die unterschiedlichen Attributionen canceln

Damit die Geschlechter-Differenz im Patriarchat aufrechterhalten werden kann, werden in Wissenschaft und Alltag für gleiche Leistungen und Darbietungen von Männern und Frauen unterschiedliche Ursachen gesucht und gefunden. Das ist, wie wir oben im 2. Kapitel bereits gesehen haben, eine der stärksten Waffen unserer Kultur. Nur ein Blitzlicht: Wenn die Ursache dafür, daß eine ‹Frau› eine bestimmte Stelle bekommen hat, in ihrem Aussehen gesucht und gefunden wurde, ist das eine der üblichen Beleidigungen, die sich aus der modernen Erzählung ergeben. Aus dieser Attributionswirtschaft sollten wir aussteigen. Auf diesen kulturellen Unsinn sollten wir beschämt verzichten.


Sexisten verspotten

Wir sollten in Wissenschaft und Alltag jedem plumpen männlichen Sexismus (den gibt es immer noch) entschieden entgegentreten! Nur ein Blitzlicht: Wenn Männer Witze erzählen, in denen Feministinnen erfolglos, dumm, häßlich und verbittert sind, sollten wir lachen, und zwar über den, der den Witz erzählt! Wir erinnern hier an einen Karnevalswitz von Oskar Lafontaine: «Wie verhüten Emanzen?» «Mit dem Gesicht!»


Androgynie als Ziel

Wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, daß jeder Mensch, daß wir alle in mehrfacher Hinsicht und in unterschiedlichem Ausmaß androgyn, also männlich und weiblich zugleich sind. Wir alle können viel mehr als wir uns erlauben und als andere uns zutrauen! In allen einschlägigen postmodernen Untersuchungen zeigt sich, daß die Unterschiede bezüglich irgendeines Merkmals innerhalb eines Geschlechtes größer sind als zwischen den Geschlechtern. Das sollte uns Mut machen! Kann ein Mensch psychisch und physisch gesund sein und bleiben, wenn er zum Beispiel ganz eingeengt nur ein «männliches» Seinsspektrum erfüllt?


Wenn schon ‹doing gender›, dann auch richtig

Wenn wir als Person ganz unausweichlich ein Kulturprodukt sind, dann sollten wir ab einem bestimmten Alter versuchen, die Konstruktionsweisen unserer Kultur bezüglich der «Geschlechter-Differenz» zu durchschauen und zu lernen, uns an den Konstruktionsprozessen so zu beteiligen, daß wir auf eigenen Füßen stehen. Oder anders: Wir sollten versuchen, das Versprechen, das sich aus der postmodernen Erzählung von der Wahrheit über Männer und Frauen ergibt, einzulösen. Wenn da also ein Kontext ist, in dem eine Horde von Jungs sich darüber freut, daß wir knapp und aufgebrezelt daher kommen, bitte schön, das können wir auch. Und wenn es darum geht, in einer Besprechung ein intelligentes Konzept zu entwerfen für Irgendwas oder Irgendwen, bitte schön, das können wir auch. Und irgendwann können wir nicht mehr immer nur dieses besser als jenes, wir werden zu Universalgenies. Und die wenigen kleinen Domänen, die «Männern» bisher geblieben sind, sind schon längst umstellt. Von uns. Alles klar?

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Literaturhinweis

Crawford, Mary (1995) Talking Difference. On Gender and Language. London: Sage.



Erstellt: 25. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 25. Juni 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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