BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kleine Psychologie des Urteilens (1): Urteilen und Werten: Eine Annäherung» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

Lieber Leser, liebe Leserin, wir möchten in dieser kleinen Reihe von Traktaten unsere Betrachtungen über das, was Menschen in Alltag und Wissenschaft am liebsten tun (id est: «Meinungen» aufsagen oder gar «Wissen abrufen»), fortsetzen und erweitern. In den «Skizzen einer Psychologie des Meinens» haben wir in aller Ruhe – und wie wir finden in aller Sorgfalt – den Boden bereitet für das, was nun folgen soll. Aus diesem Grund möchten wir, bevor wir uns unserer kleinen «Psychologie des Urteilens» nähern, noch einmal festhalten, was wir bisher über die Lieblingsbeschäftigung des gesunden Menschenverstandes sammeln und aufzeigen konnten.

Im Traktat «Meinen: Eine Annäherung» haben wir uns bei der Untersuchung der Frage, wie sich «Meinen» und «Wissen» unterscheiden lassen, als ‹wahre› Soziale Konstruktivistinnen geoutet und erläutert, daß – unserer Ansicht nach – Menschen immer nur etwas meinen, wenn sie etwas zu wissen meinen. Und daß etwas zu «wissen» nur bedeutet, Meinungen anderer Leute aufsagen zu können. Ja, wir sind überaus skeptisch bei den immer noch sehr populären Scheinbegriffen «Information» und «Wissen». Weder Informationen noch Wissensbehauptungen zeigen in unseren Augen auf eine Realität, wie sie wirklich ist, statt dessen verweisen sie beide auf Sinnkonstruktionen – die wiederum auf ganz bestimmte Orte und Zeiten bezogen sind – und damit auf eine bestimmte Kultur, sonst nix. Im besten Fall zeigen «Informationen» und Wissensbehauptungen auf subjektive Wirklichkeiten, aber sie zeigen nicht auf die Wirklichkeit.

Im zweiten Traktat («Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale») innerhalb der «Skizzen einer Psychologie des Meinens» haben wir uns schon erstaunlich weit dem genähert, was uns in der hier vorliegenden Reihe von Skizzen zur «Psychologie des Urteilens» beschäftigen wird: Im 4. Kapitel von «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» haben wir kurz die Psycho-Logik des Meinens gestreift und gezeigt, wie atemberaubend – und immer über das unmittelbar Gegebene hinausgehend – der gesunde Menschenverstand mit «Ursachen» und «Erklärungen» hantieren kann und wie leicht sich so in kleinen lokalen Welterzeugungssystemen Ordnung schaffen läßt.

Wir möchten auch noch an den dritten Teil unserer «Skizzen einer Psychologie des Meinens» anknüpfen («Meinen: Im Sog der Sprache»). Dort haben wir über die universell wirksamen und schnellen Katalysatoren ähnelnden Kategorisierungs- und Meinungsabrufungsreflexe «Repräsentativität» und «Salienz» gesprochen und bereits Wägbarkeiten der professionellen Urteilsbildung angedeutet. Was uns an den Prozessen des «Urteilens und Wertens» ganz besonders fasziniert, und was wir in der hier vorliegenden Reihe von Traktaten eben auch besonders betonen und herausstellen möchten, ist zum einen die Schnelligkeit, mit der Menschen mit gesundem Menschenverstand zu einem allfälligen Urteil kommen. Und zum anderen fasziniert uns die auffällig gleichbleibende Psycho-Logik des Urteilens. Wenn Menschen also etwas beurteilen, dann machen sie das schnell, und sie folgen bestimmten – leicht zu durchschauenden – Regeln.


2. Urteilen und Werten: Eine Annäherung

Was heißt das eigentlich: Urteilen? Nun, interessant ist für uns in erster Linie, daß hier gleichsam ein kognitiver Prozeß, eine «Überlegung», eine geistige Leistung beschworen wird. Über etwas zu urteilen, setzt ein Schließen, ein Schlußfolgern, ein Beurteilen voraus. Wenn jemand über etwas urteilt, dann hat er – so geht die Sage in unserer Kultur – etwas eingeschätzt, eingestuft, etwas ermessen, einer Sache oder einem Menschen etwas zugeschrieben, beigemessen oder attribuiert. Wir können auch – sozial-konstruktivistisch – sagen, er hat eine bestimmte «Unterscheidung» getroffen und viele andere nicht; er hat etwas für wichtig gehalten, und vieles andere nicht; und er hat etwas eines für etwas anderes erachtet, denn er hat irgendein «etwas» mit einem etwas anderen Namen versehen. Zum Beispiel ist er aus einer Urteils-Situation herausgekommen, indem er ein Verhalten als Hinweis, als Index, als Symptom für etwas anderes genommen hat. Und: Wenn jemand urteilt, ein Urteil fällt, dann erstellt er eine Diagnose, in der er über einen (seinen) Befund berichtet. Und: Natürlich diagnostizieren wir den ganzen Tag!

Und was heißt Werten? Nun, das liegt nahe beim Urteilen. Jedes Urteil ist auch ein Werturteil, und es kommt zustande, in dem «Informationen» so bewertet werden, daß sie als (subjektive) Hinweise für das schließlich folgende Urteil herangezogen werden, oder eben auch nicht. Eine Diagnose ist immer eine Wertung. Selbst ein «naiver Realist» würde sich zu der Aussage hinreißen lassen, daß er die Bedeutung von «Informationen» oder «Symptomen» so bewerte oder gewichte, daß er zu einem stimmigen – und wie er meinen würde, zu einem richtigen oder wahren – Urteil über die Wirklichkeit komme.

Urteilen und Werten also. Daß das schnell geht, sehr schnell, haben wir schon erwähnt. Und diese Schnelligkeit des Urteilens legt schon auf den ersten Blick nahe, daß es sich bei den Geistestätigkeiten des gesunden Menschenverstandes fast nie um Prozesse des «Denkens» handeln wird und ganz selten nur mal um ein tatsächliches Zeit verbrauchendes «Überlegen». Statt dessen erfreut uns der gesunde Menschenverstand in allen übersichtlichen und unübersichtlichen Gemengelagen ganz regelmäßig mit einem unbedachten und eher schlichten Abrufen von Meinungen aus dem Zentralmeinungslager seines sozialen Raumes oder aber mit «Urteilen». Wie könnten wir Meinungen von Urteilen unterscheiden? Da wir beide (A.D. & H.O.) in einer radikal-skeptisch-nominalistischen Philosophie-Tradition sozialisiert wurden, amüsiert es uns verständlicherweise sehr, hier mit philologischen Begriffsdefinitionen zu hantieren. Aber es macht in diesem Fall Sinn: Etwas zu meinen, dies ist für uns Wir möchten diese vorsichtige «Definition» dessen, was eine Meinung sein könnte, an einem Beispiel erläutern:

Stellen wir uns vor, die Regierung dieses unseres Landes tut, entscheidet, verkündet oder plant irgendetwas. Gut, in unserer derzeitigen «Gesellschaft des Spektakels» interessiert das niemanden, bis auf eine extra dafür eingerichtete und institutionalisierte soziale Gruppe, die «Opposition», die zu all dem, was die Regierung tut, entscheidet, verkündet oder plant, eine Meinung haben muß. Und wie hören sich diese Meinungen an? Tja, das ist leicht vorherzusagen. Wichtig ist dabei, daß nur derjenige zu einem «Sprecher» für eine soziale Gruppe werden kann, der die üblichen in diesem Raum wabernden «Meinungen» gleichsam im Schlaf aufsagen und – je nach den eigenen Möglichkeiten – dazu noch mit einem Gesichtsausdruck von Wichtigkeit verbinden kann. Ein «Sprecher» der Opposition wird also unmittelbar im Anschluß an eine Regierungshandlung oder -verlautbarung – und in völliger inhaltlicher Unabhängigkeit von derselben – irgendetwas sagen, das so klingt wie Und so weiter.

Nun zum «Urteilen». Über etwas zu urteilen unterscheidet sich in unseren Augen vom «Meinen» in mindestens zwei Punkten. Ein «Urteil» muß für uns Durch beides zusammen genommen könnte sich so etwas wie der Hauch eines «eigenen» Urteils ergeben.

Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, jemand beschwert sich in einer «falschen Empörung» bei seiner Lokalzeitung, daß ein von ihm abgesandter Brief nach zwei Wochen mit dem Vermerk der Unzustellbarkeit zurückgekommen sei. Nun, lieber Leser und liebe Leserin, dies könnte zunächst einfach nur etwas mit dem derzeitigen und voll angesagten Post-Bashing zu tun haben (dazu kommen noch Telekom- und Bahn-Bashing). Wer also eine negative Meinung über eines der drei ehemaligen Staats-Unternehmen äußert, weiß sich nicht nur immer auf der sicheren Meinungsseite, nein, er kann auch sicher damit rechnen, auf den «moralischen» Seiten seiner Lokalzeitung – mit einem Foto von sich – ausgestellt zu werden. Was verleitet uns nun dazu, hier über den Fall des Aufsagens einer kulturell angesagten Meinung hinauszugehen und von einem Urteilsgeschehen zu sprechen? Das zu erörternde Faszinosum besteht schlicht darin, daß dieser Jemand selbstredend sowohl den Namen des Empfängers als auch die Hausnummer auf dem bewußten Brief falsch angegeben hatte. Nun kommt der bewußte Brief zurück – alle «Informationen» liegen damit auf dem Tisch – und unser Jemand entscheidet sich ganz schnell dafür, Versäumnisse nur bei der Post zu sehen, nicht bei sich. Ist das nicht aufregend? Wie kann ein solch' – ganz offensichtlich unredliches oder dummes – Urteil zustande kommen? Es kann sich doch hier nicht um einen Prozeß des Denkens oder Nachdenkens gehandelt haben, auch für ein sorgfältiges Abwägen oder Überlegen wird die Zeit bis zum Urteil kaum gereicht haben. Hören wir mal in den Originalton hinein, den wiederzugeben die Lokalzeitung sich glücklich schätzte: «Die Post ist schuld, daß mein Brief nicht angekommen ist! Ich hab' schon mal einen abgeschickt, und der ist auch angekommen. Und überhaupt: Wenn Anschrift und Hausnummer nicht so ganz genau stimmen, dann sollten die da sich mal mehr anstrengen. Wofür zahle ich das teure Porto?»

Wie das? Und warum ist dieser Mensch so sicher in seiner Schlußfolgerung, in seinem Urteil? Wie kommt er überhaupt auf dieses Urteil? Was verleitet ihn dazu, so zu urteilen und dann noch daran zu glauben? Welche Prozess-Standards, welche Prozess-Generica spielen bei solchen Urteilsfindungen eine Rolle? Genau diesen Fragen werden wir uns zuwenden. Wobei es uns in den folgenden Traktaten um kategoriale Zugänge, um Beschreibungsmöglichkeiten geht, die eine sozial-konstruktivistische Psychologie des kognitiven Geizkragens ermöglichen könnten. Und natürlich sind die von uns zu isolierenden und zu entblätternden Prozessvariablen des Urteilens auf wundersame Weise mit einander verwoben. Sie werden nur aus anatomischen Gründen sauber präpariert und in eine künstliche Reihenfolge gebracht.

Noch eine Bemerkung zum Schluß: In den 70er Jahren sprach man in einschlägigen psychologischen Zirkeln gerne von «Fehlern», die der gesunde Menschenverstand mache, und die ihm bei seinen vielen doch so notwendigen Urteilen Tag für Tag unterliefen. Soziale Konstruktivistinnen denken eher, daß Menschen, auch wenn sie eingeschlossen sind in das Prinzip der Selbstorganisation (vgl. dazu den folgenden Essay über die «Tendenz zum erstbesten Urteil»), gar nicht anders können, als sich nach den kulturellen Regeln der Urteilsbildung zu richten. Es geht eben nicht um Fehler. Die Urteilsweisen, die Prozesse des Urteilens, die wir in dieser kleinen Reihe vorstellen werden, haben nicht die Qualität von Fehlern, nein, diese Urteilsweisen sind in unserem Kulturkreis das Normale, das zu Erwartende. Schon in dem Traktat «Meinen: Eine Annäherung» haben wir einen überaus erhellenden Aphorismus von Karl Kraus zitiert: «Alles Leben in Staat und Gesellschaft beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Mensch nicht nachdenkt.» [2] In: Die Fackel, Nr. 264–265, S. 25, vom 18.11.1908. Genau daran sollten wir denken, wenn wir gerade wieder einmal uns dabei ertappen, nicht nachzudenken.

Wenn wir also in der derzeitigen «Gesellschaft des Spektakels» das «Urteilen» untersuchen wollen, können wir uns auf einiges gefaßt machen und einiges vorwegnehmen: Bedachtsamkeit beim Urteilen? Eine Lachnummer. Abwägen? Uncool. Sich Zeit nehmen? Kann sich keiner leisten. Wer sich Zeit nimmt, den bestraft das Leben. Wir sehen bei der Betrachtung unserer Kultur mit Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, wie «schnellen» und «unbedachten» Meinungen eine besondere Gewichtigkeit eingeräumt und abwägenden Urteilen die Luft genommen wird. Und so ist es kein Wunder, daß unsere Kultur «kognitive Geizkragen» produziert. Warum kognitive Geizkragen? Weil es ganz deutlich zu unserer Kultur gehört, kognitiv eigentlich «unklare» Situationen in Alltag und Wissenschaft schnell mit einer dröhnenden Meinung zu begleiten und aufzuhübschen, oder aus eben diesen Situationen so schnell wie möglich mit einem Urteil hinauszukommen. Nein, wir geben uns keine große Mühe, ja, wir wissen meist sofort was los ist.



Erstellt: 15. April 2002 – letzte Überarbeitung: 15. April 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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