BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skizzen einer Psychologie des Meinens (3): Meinen: Im Sog der Sprache» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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1. Einführung

In dem ersten kleinen Essay über das Meinen (vgl. «Meinen: Eine Annäherung») haben wir uns mit den Begriffen ‹Meinen› und ‹Wissen› und mit den sozialen Räumen, in denen etwas gemeint oder gewußt wird, beschäftigt und gesagt: «Etwas ‹Wissen› oder ‹Meinen› ist Sinnkonstruktion, ist Kultur. Also vermitteltes, anerzogenes, sozialisiertes Sinn-Sehen in der Welt.».

In dem zweiten Essay über das Meinen (vgl. «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale») sind wir näher an das Phänomen des Meinens herangegangen und haben die erstaunlich vielfältigen Vorschriften, Anweisungen und Einflüsterungen untersucht, die uns bedrängen, wenn wir mal etwas meinen möchten. Und haben uns darüber hinaus hinreißen lassen, einige propädeutische Bemerkungen, nein, eigentlich schon einen ausgewachsenen Verführungsdiskurs, eine Festrede, eine Eloge zu Ehren der Kunst der Skepsis zu präsentieren. Nun ja.

In diesem dritten kleinen Essay über das Meinen geht es nun weniger festlich zu. Wir schauen noch genauer auf das Phänomen des Meinens, gehen noch etwas näher an die Psychologie des Meinens heran und betrachten das Hauptwerkzeug, mit dem wir zu wissen, zu fühlen oder zu meinen meinen: Die Sprache. Und da beginnen wir ganz lege artis – also wittgensteinianisch – mit der Vermutung, daß die Sprache, die wir (allein) verstehen, uns ganz enge Grenzen setzt für das, was wir meinen könnten. Wir leben im Sog, im Mahlstrom unserer Sprache. Oder anders herum: Wenn Menschen – insbesondere im Zeitalter des «Spektakels» – oft und gerne behaupten, sie könnten jetzt eben mal gerade irgendwie nicht in Worten ausdrücken, was sie meinen, jetzt eben mal gerade irgendwie gefühlt oder erlebt zu haben, scheint uns dies als Skeptikerinnen genau andersherum zu sein. Denn im Anfang war das Wort. Wir denken also, daß wir nur meinen können, was vorher schon in Worte zu fassen war, was für uns schon in Worten daher kam. Wir gehen sogar noch weiter und sagen, daß die Sprache (damit ist jetzt nicht nur die gemeint, die nur wir allein beherrschen) uns Versprechen macht, die wir im eigenen Meinen, Fühlen, Wissen und Erleben leider nicht einlösen können. Aber das ist nicht das Thema dieses Essays. Also zurück. Fangen wir an.


2. Von Floskeln, Phrasen und Scheinbegriffen

Meinungen, auch Meinungen über momentane Gefühle – ob ausgesprochen oder nicht – kommen in einer Sprache daher. Um etwas meinen zu können, müssen wir sprechen können. Um etwas meinen zu können, müssen uns Wörter, sprachliche Kategorien zur Verfügung stehen, in denen wir meinen können. Um uns und die Welt begreifen zu können, brauchen wir Begriffe. So weit so gut.

Da müssen wir nun erst einmal ‹Begriffe› betrachten. Zum Glück hilft uns hier, daß die Bochumer Arbeitsgruppe schon vor vielen Jahren Fritz Mauthner wiederentdeckt hat (vgl. das Kapitel «Mauthners radikal-skeptischer Nominalismus» im Arbeitspapier Nr. 2). Was steht uns zum Meinen an Begriffen zur Verfügung? Mauthner unterscheidet zwischen Scheinbegriffen und brauchbaren Begriffen. Dies ist in unseren Augen eine äußerst wackelige Unterscheidung. Aber zum einen ist sie hundert Jahre alt, steht also unter Denkmalschutz, und zum anderen hilft sie Anfängerinnen in der Schule des Konstruktivismus und Skeptizismus oft und ziemlich gut beim Nachdenken über Begriffe – allerdings nur für eine gewisse Weile.

Mauthner meint, daß die große Mehrheit aller Begriffe und Kategorien, die wir in Alltag und Wissenschaft anwenden, sozial hergestellte Scheinbegriffe sind, die sich auf nichts Festes, Wirkliches, Lokalisierbares beziehen. Zu diesen Scheinbegriffen gehören fast alle psychologischen Begriffe wie «Intelligenz» oder «Motivation», alle politischen wie «Wahrheit», «Freiheit», «Demokratie» und alle Was-ihr-wollt-Fachbegriffe wie «Wachstum», «Vererbung», «Marktwirtschaft» oder «Wettbewerbsvorteil», insbesondere dann, wenn sie sich auf lebende Systeme beziehen.

Es gibt aber – nach Mauthner – auch Begriffe und Kategorien, die sich auf gegenständliche Bereiche beziehen und hier sich vielleicht zu brauchbaren Begriffen hocharbeiten können. Beispiele wären Tisch, Hund oder Auto. Natürlich ist uns sofort klar, daß es sich bei diesen Begriffen um Gattungsbegriffe handelt, auf Grund derer wir nichts über einen konkreten Hund zum Beispiel wissen: Wie groß, wie alt, wie lieb etc.? Leider können wir diese Unterscheidung hier nicht weiter vertiefen. Aber Sie werden, lieber Leser und liebe Leserin, auch so leicht nachvollziehen können, daß für den Diskurs über das Meinen ganz besonders interessant die große Gruppe der Scheinbegriffe ist, denn die wird es sein, die uns beim allfälligen Meinen insbesondere zur Verfügung steht.

Schauen wir uns nur zwei Scheinbegriffe an, die im Elitediskurs (also im Diskurs der ‹wichtigsten› Menschen) unseres Landes häufig vorkommen, und achten auf die Konnotationen, die diese Begriffe erzeugen. Soviel zu den Scheinbegriffen. Richtig interessant wird es nun, wenn wir uns Floskeln, Phrasen und geflügelte Worte betrachten. Hier werden Phrasen aus den verschiedensten Genres geplündert und zu einer Meinungsäußerung zusammengestoppelt. Und es ist uns auf den ersten Blick klar, daß Meinungen desto dürftiger, schlichter und holzschnittartiger ausfallen werden, je weniger ein Meiner in seiner Sprache zu Hause ist: Einstürzende Sprachbauten. Hier war ein früherer Bundeskanzler wahrer Großmeister der freien Meinungsrede. Zwei Kostproben: Ganz ehrlich, lieber Leser und liebe Leserin, diese schönen Sätze fallen niemandem – außer uns – auf, da uns täglich die Ohren mit solchem Sprachwust zugemüllt werden. Aber hören wir mal hin. Da sind in der ersten Kostprobe fünf Phrasen, Floskeln, Sprachfiguren oder Sprachhülsen, die zu einer Meinungsäußerung zurecht geklittert werden: ‹Auf Gedeih und Verderb›, ‹ins Bett steigen›, ‹in einem langen Prozeß›, ‹es fängt an, (un)interessant zu werden›, ‹auf einem Klavier spielen›. Und im zweiten Beispiel sind es nur zwei Phrasen oder Sprachhülsen, auf die sich ein Meiner bei seiner Meinungsäußerung zu verlassen wagt: ‹Hebamme› und ‹Marionette›. Ist das nicht köstlich, wie mühselig, wie hilfsbedürftig hier eine Meinung zurechtgezimmert wird?

Tja, so einfach kann das sein, sich dem Sog seiner Sprache hinzugeben und irgendwie soeben noch eine Meinung hinzukriegen und auch zu äußern. Natürlich könnten wir mit diesen sieben Floskeln ein wenig spielen, sie neu zusammensetzen, noch ein paar hinzufügen, sie wieder neu zusammenwürfeln, und schon klingen wir wie ein Politiker [1] Vgl. dazu das schöne Buch von Erhard Eppler (1992): Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (edition suhrkamp; neue Folge Band 788). Was meinen Sie, lieber Leser und liebe Leserin, mit wie wenig Phrasen und Floskeln man in der Politik zurechtkommt? Wie? So wenig? Nur um die hundert herum? Stimmt. Wie absolut eingeschränkt und klein die eigene Welt der Sprache sein kann!

Gehen wir noch einen Schritt weiter und betrachten uns die Möglichkeit, daß wir uns, um zu einer Meinung zu kommen, auch in eine Kunst- oder Fachsprache hineinbegeben können. In dieser Fachsprache sind Floskeln, Phrasen, Begriffe und Metaphern bereits in einer vorgefertigten Weise zusammenfügt. Wir brauchen sie nur noch abzurufen. Schauen wir auf nur ein Beispiel:


Fußballsprache

Es ist ganz leicht möglich, eine Vielzahl von sozial und kommunal definierten Situationen in der Fußballsprache zu beschreiben. Wenn Politiker – wir ziehen diesen so entsetzlich bevölkerten sozialen Raum heran, da es gerade hier nur um Meinungsäußerungen und deren Wirkung geht – populär wirken wollen, wählen sie schon mal gerne das Fußball-Genre, da es weithin bekannt ist und man sich mit ihm gut gemein machen kann. So könnte ein Politiker in einer großen Meinungsrede etwa sagen, daß da jemand in der eigenen Partei zu viele ‹Alleingänge› versucht, zu ‹eigensinnig gespielt› oder gar sich ‹festgedribbelt› habe, anstatt den eigenen Mannschaftskollegen ‹den Ball zuzuspielen›. Ja, da gäbe es auch immer wieder Leute, die ‹ins Abseits liefen›, auf den ‹Mannschaftskapitän› nicht hörten, ihre ‹Deckungsaufgaben› vernachlässigten, ‹ihre Leistung nicht abriefen›, alles dem ‹Ausputzer› überließen und schließlich, als schlimmster auszudenkender Fall, sogar ‹ein Selbsttor schössen›.

Das ist alles ganz leicht zu verstehen, da die Fußballsprache eine der geläufigen Hauptsprachen unserer Jetztzeit ist. Unter Männern. Nur nebenbei, lieber Leser und liebe Leserin: Falls sich einige von Ihnen fragen, wie man denn in der Politik seine ‹Deckungsaufgaben vernachlässigen› kann, hier schnell die Erläuterung: Zu den ‹Deckungsaufgaben› einer großen Volkspartei gehört immer und unbedingt die Verteidigung des eigenen poltischen Lagers. Diese ‹Deckungsaufgabe› nimmt der ‹Generalsekretär› des Lagers oder ein beliebiger anderer Lagerinsasse am anmutigsten wahr durch die tägliche Verunglimpfung, Beschimpfung und Herabsetzung des politischen Gegners und durch den Anfeuerungsruf an die eigene Mannschaft, daß «die alle weg müßten!». Das ist alles.

Was steht uns also zur Verfügung, wenn wir etwas zu meinen meinen? Ein potentiell riesengroßes System von sozial und lokal definierten Phrasen und Floskeln, von denen wir selbst – je nach lokaler Sozialisation – aber nur einige beherrschen.


3. «Das ist typisch!»

In diesem Absatz möchten wir einen sehr interessanten Punkt durchdenken, der sich mit dem ‹Triggern› von Meinungsfloskeln und -phrasen beschäftigt. Wir haben bereits in dem Essay «Meinen: Eine Annäherung» darüber gestaunt, wie schnell, wie routiniert, wie mechanisch, ja wie automatisch wir in einem aktuellen Kontext eine Meinung abrufen können. Wodurch werden Meinungsaufsagungen ausgelöst? Und, vor allem, ist es nicht immer wieder sehr erstaunlich, wie wenig ‹Information› ausreicht, wie geringfügig ein ‹Hinweis›, wie kurz ein «Augenblick», ja wie erbärmlich die kognitive Ausgangslage verfaßt sein kann, um uns zum Abruf einer uns verfügbaren Meinungsfloskel oder -phrase zu bewegen? Das schauen wir uns näher an.

Wir denken, daß das Phänomen des so schnellen und unverzögerten Meinens und Wissens ganz gut mit Hilfe zweier Begriffe beschrieben werden kann: Repräsentativität und Salienz. Eine Aussage über eine Beobachtung ist – hier in unserem Sinne – repräsentativ, wenn sie etwas Typisches, Beispielhaftes für eine Grundgesamtheit oder eine Klasse von möglichen Beobachtungen enthält. Uns genügt meist ein einziges ‹Zeichen›, um dieses – bedenkenlos – als repräsentativ, als typisch für das Verhalten einer Person, einer Gruppe, einer Institution anzusehen (vgl. dazu auch den Essay «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale»). Und aufgrund eben dieses nur einmal ‹gesehenen› Zeichens lassen wir uns zu einer Meinungsäußerung hinreißen. Wir sagen aufgrund eines angeblich ‹gesehenen› Zeichens: «Das ist typisch!» Und mit dem stolzen Bewußtsein, im Recht und im Wissen um etwas zu sein, rufen wir eine Meinung aus dem zentralen Floskelkatalog ab. Das ist es! Und, noch einmal, wie schnell das alles geht!

Wir reduzieren also eigentlich sehr komplexe Wahrnehmungsaufgaben auf einen «1-Click-Buy». Stellen wir uns mal eben vor, lieber Leser und liebe Leserin, wir würden einen beliebigen Meinungsdahersager im Medium aller Medien (vgl. dazu «Die schlimmste Lichtquelle der Welt») unvermittelt fragen: «Ist die von Ihnen angeblich beobachtete Einzelheit, das von Ihnen herangezogene Zeichen, wirklich ein repräsentatives Beispiel für die Klasse der Zeichen, die ein Angehöriger Ihrer Meinungskategorie X immer aufweisen muß, um eben zur Kategorie X gehören zu dürfen?» Können Sie sich das Gelächter im «Nullmedium» (Hans Magnus Enzensberger) vorstellen?

Wir fallen auf ein angebliches Zeichen, welches auf eine Eigenschaft eines Objektes oder einer Person verweisen soll, aber auch dann leicht herein, wenn es salient, also auffällig ist, wenn es uns ins Auge springt. Dies scheint uns ein ganz prominenter Mechanismus zu sein, der die Aussage «Das ist typisch!» leicht triggern kann. Selbstverständlich wird die Salienz, also das, was wir als auffällig für wahr nehmen, lokal in spezifischen sozialen Räumen definiert. Dies läßt sich am leichtesten beobachten, wenn wir mal ausnahmsweise und nur einen Augenblick lang auf die unterschiedlichen Meinungsfloskeln unterschiedlicher politischer Parteien hören, die zu einem spezifischen Anlaß losgelassen werden. Da ja gerade zwischen politischen Parteien ständig Krieg ist, und die Parteimitglieder somit immer wieder zu ermahnen sind, endlich einen «Kampfanzug» (Edmund Stoiber) anzuziehen, lassen sich leicht völlig beliebige lokal definierte – hier also parteiisch erfundene – Salienzen finden, die immer nur auf eines verweisen: Die (vor allem auch menschliche) Verkommenheit des politischen Gegners und der dadurch zu erwartende völlige Ruin des Staatswesens. Tja, das ist politische Kultur in der Gesellschaft des Spektakels.

Die Salienz eines Zeichens läßt uns also vermuten, daß eben dieses eine Zeichen typisch, prototypisch, repräsentativ für eine Grundmenge zu erwartender Zeichen ist. Diese in sozialen Räumen verpflichtend erworbenen Zeichen lenken und leiten ‹Wahrnehmung› und Meinungsäußerung. Eine Fülle anderer möglicher ‹Wahrnehmungen› bleibt außen vor und viele andere mögliche Meinungen lassen sich in eben diesem einen sozialen Raum einfach nicht triggern.

Aus dem radikalen Konstruktivismus stammt der Gedanke, daß unser Gehirn Alleinunterhalter spielt und leider keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Wie wahr diese Vermutung sein kann, zeigt sich eben im – oben angedeuteten – andauernden Geschrei politischer Parteien, die jedes – wirklich jedes – Zeichen für ihre zirkuläre ‹Wahrnehmung› nutzen und damit den ‹politischen Gegner› bekämpfen. Wir können also abschließend sagen, daß unsere an (lokal definierten) Salienzen ausgerichtete prototypische Wahrnehmung aus sich heraus zirkulär ist, sich selbst bestätigt, sich selbst gültig macht, somit eine sich selbst erfüllende ‹Wahrnehmung› ist. Meinungen kreisen um sich selbst, sie verweisen auf nichts ‹Wirkliches›, nur auf den, der die Meinung äußert.

Wir haben also eine Fülle von Meinungsphrasen und -floskeln im Kopf und fallen gerne und jederzeit auf die «Das ist typisch!»-Interpretation von Zeichen mit Hilfe von Salienz und Repräsentativität herein. Und durch jede auf diese Art ‹gelungene› Meinungsäußerung wird die ‹Realität›, die ‹Existenz› des Gemeinten verstärkt und gefestigt und wir werden unserer Meinungsanwendungen immer sicherer. Wir sehen doch, was wir sehen. Und natürlich fühlen wir, was wir fühlen. Das nennen wir Selbstimmunisierung.

Noch ein Beispiel dafür, wie ungenau, unscharf, ja wie breit die Prototypen sind, die wir in einer Meinungsäußerung anwenden, und wie beliebig die Ausgangszeichenlage. Nehmen wir das heute beinahe unbekannte Wort ‹bigott›. Klar, wir könnten auch das Wort ‹cool› wählen, aber wir möchten uns nicht jünger machen, als wir sind. Bigott also: Als Meinungsäußerungsprototyp ist ‹bigott› natürlich extrem ungenau und invalide. Die Anzahl konkreter Verhaltensweisen, die möglicherweise als ‹bigott› bezeichnet werden können, ist nahezu unendlich groß. Sehr wichtige Punkte lassen sich an diesem Beispiel klären. Zum einen kann ich die Meinung «Na, das ist ja vielleicht bigott!» nur äußern, wenn ich dieses Wort, diese Kategorie kenne. Okay, das ist noch einfach zu verstehen. Jetzt wird es aber noch schöner: Da ich die Bedeutung eines Zeichens, das ich irgendwo im ‹Verhalten› eines Menschen zu sehen glaube, ja vielleicht gar die ‹Ursache› dieses Verhaltens, immer – aufgrund einer dürftigen sensualistischen Basis – erfinde, da ich also immer ein von mir konstruiertes Zeichen und nicht das Verhalten selbst apperzipiere, gibt es keinen denkbaren Fall, in dem ich das Etikett bigott nicht vergeben könnte. Tja.

Dies können wir auch als Gewaltanwendung bezeichnen. Eine Meinungsäußerung als Gewaltakt? Jede Meinungsäußerung als Gewaltakt? Klar, das haben wir schon im Essay «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» angedeutet. Unsere weitverbreitete Gewohnheit, ein einmalig ‹beobachtetes› salientes Zeichen unmittelbar als repräsentativ, als typisch für eine bestimmte Kategorie von Zeichen und somit als typisch für eben die von mir soeben ‹beobachtete› Persönlichkeit eines Mitmenschen anzusehen, führt zu stabilen Zuschreibungen auf meist nur einer einzigen Meinungsdimension, führt zu einer Festschreibung von Menschen auf meistens nur einer, von mir eingebrachten – aber kommunal definierten – Kategorie, und das ist Gewalt. Diese Gewalt üben wir permanent aus, indem wir die Kleidung einer Person, die Art, wie sie sich bewegt, spricht, guckt als typisch, als charakteristisch für eine bestimmte Klasse von Eigenschaften betrachten.

Nur nebenbei. Wir dürfen nicht meinen, daß es im Rahmen professioneller Urteilsbildung, daß heißt also, wenn Fachleute eine Meinung haben, und wenn diese Meinung – etwa verschriftet in einem Gutachten – schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen für einen Betroffenen haben, nicht genauso funktioniert, das mit dem Meinen. Auch Ärzte, Psychologen, Richter und Personalleiter werden – je nach Ausbildung und lokaler ‹Schule› – von ganz einfachen Salienzen und Repräsentativitätsannahmen geleitet. Und sie wenden damit tagtäglich Gewalt an, weil sie über das ‹unmittelbar Gegebene› nicht nur hinausgehen, sondern, viel schlimmer, es meist gar nicht sehen.


4. Ausblick: Im Sog der Sprache

Was wir wahrnehmen, was wir für wahr nehmen, hängt davon ab, mit welchen kommunal definierten kognitiven Verfügbarkeiten, mit welchen Phrasen wir ausgestattet sind. Und Meinen im Sog der Sprache führt zu der intuitiven Annahme, daß das sprachlich unmittelbar Verfügbare auch das Naheliegende, das Naheliegende auch das Plausible, das Plausible auch das Richtige, das Richtige auch das Tatsächliche, das Tatsächliche auch das Wahre ist. Und so weiter. Die ausgesprochen traurige Konsequenz ist, daß uns die als erstes einfallende und verfügbare Plausibilität wichtig, bedeutsam und richtig erscheint. Und unser kommunales Makrosystem stützt diese vorschnelle Beliebigkeit des Urteilens und Meinens aufgrund von lächerlichen oder armseligen Details mit Metaphern wie: «Der erste Eindruck ist immer der richtige, authentische, wahre!», oder «Das war Liebe auf den ersten Blick!». Ja es gibt soziale Räume, in denen die Schnellfühler und Schnellmeiner für ihre Authentizität, für ihr vermutetes ‹Bei-sich-Sein› gefeiert werden.

Damit kommen wir zu dem Hauptproblem des Meinens im Sog der Sprache: Wenn wir gut sozialisiert sind, und wer ist das nicht, und in bestimmbarer sozialen Räumen hausen, und wer tut das nicht, haben wir nur sehr wenig Chancen und Möglichkeiten, die Wahrheitstafeln unserer sprachlichen Verfügbarkeiten für Meinungsäußerungen fallen und zerschellen zu lassen! Und wir werden uns – mit welcher Meinung auch immer – nie einer Wahrheit annähern, die Wahrheit liegt auch niemals in der Mitte, nein, aber wo liegt sie, wo kann sie liegen?

Der erste Schritt auf dem Weg zur «Wahrheit» könnte daraus bestehen, daß wir uns dabei beobachten, wie wir verfügbare kommunale Duseleien und Phrasen abspulen, und dabei sollten wir zutiefst erschrecken (wir empfehlen als Propädeutikum im Schaudern die Floskelsammlungen im Arbeitspapier Nr. 5 und Arbeitspapier Nr. 8). Im zweiten und allen folgenden Schritten auf dem Weg zur «Wahrheit» sollten wir uns darin üben, unseren Verfügbarkeitshorizont an Phrasen und Floskeln des Meinens zu erweitern, indem wir andere, unvertraute Sprach- und Meinsysteme ausprobieren, andere Sichtweisen auskosten, uns in den Sog anderer Sprachen hineinbegeben und so versuchen, unseren Horizont des Meinens zu erweitern. Und wo liegt die «Wahrheit» im Meinen? Welche Meinung ist die richtige? Ach, lieber Leser und liebe Leserin, das sagen wir Ihnen gerne: Die Wahrheit im Meinen liegt nicht in der sozial definierten Phrase, nicht in der Zentralrede, sondern in der Wahrnehmung der Meinung als Meinung; und in der Phantasie, in der Kunst, in der Stille, im Schweigen.

Als Belohnung für Ihre unendliche Aufmerksamkeit – lieber Leser und liebe Leserin – hier noch ein Aphorismus von Karl Kraus, zu dem Sie sich abschließend überlegen können, was dieser mit der Verfügbarkeit von Floskeln und Phrasen des Meinens, mit der Salienz und der Repräsentativität von ‹beobachteten› einzelnen Verhaltensweisen, mit lokalen sozialen Räumen, kurz, mit einer kleinen Psychologie des Meinens zu tun hat: «Es empfiehlt sich, Herren, die das Angebot einer Zigarre mit dem Satz beantworten: ‹Ich sage nicht nein.› sofort totzuschlagen. Es könnte nämlich sonst der Fall eintreten, daß sie auf die Frage, wie ihnen eine Frau gefalle, die Antwort geben: ‹Ich bin kein Kostverächter.›» [2] In der Fackel Nr. 315, S. 35, vom 26.1.1911.



Erstellt: 1. November 2001 – letzte Überarbeitung: 1. November 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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